Atlantisches Tief

 

 

 

Lazarus

 

Aus der Gruft entlassen,

wankt er ans Tageslicht.

Das Leben hat ihn wieder, das Leben.

Am vierten Tag und nur im Hemd

erscheint er zum Fest seiner

Wiederkunft. Schmal schleicht

er sich herein und setzt sich

auf seinen Stuhl, beschämt,

weil man diesen Stuhl,

den er doch geräumt hat,

für ihn und nur für ihn

freigehalten hat.

 

Er ist gekommen, um sein

Ableben zu entschuldigen,

das man ihm seitens

der tätigen Welt unter

die blasse Nase reibt.

 

Faul herumliegen und dem Herrgott

die Zeit stehlen... Völlig unakzeptabel...

Sehen Sie, bei der Konkurrenz wird

schon längst nicht mehr gestorben...

Da können wir doch nicht....

Die Wirtschaft muss brummen.

 

 

 

 

Schubertabend

 

Gebücktes Zucken unter Leinentüchern,

wenn das Quintett zu spielen beginnt.

Es ruckeln die Tassen, sie entschweben,

als gäb' es keine Erdenschwere mehr.

 

Traulich klingt das Lied von Freud

und Leid. Auf der Partitur ein Klecks,

der wächst und nimmt die Nacht ganz ein,

Schuberts Tinte schwärzt das Daunenreich.

 

Das Hörrohr empfängt die Sonatine

als Kerzengeknister. Und auf gehäkelten

Tasten fingert die Pianistin Hannelore

zum Abschluss eine trauervolle Triole.

 

 

 

 

 

 

 

Beim Photographen

 

Kantig frisiert und wächsern

schattiert wurde der Mensch

zur Person. Zur Persönlichkeit

im feingeschnittenen Oval

kultivierter Selbstgewissheit.

Sich aufbewahren als etwas

Eingemachtes, Feingemachtes:

ein Kennzeichen von Privatheit.

Man wurde auf einen Stuhl geschraubt

und in eine Halsstütze geklemmt.

Manchmal mit einer dorischen Säule

für den links abgewinkelten Ellbogen.

Und so wurde man belichtet, angerichtet,

über etliche gezählte Sekunden hinweg,

in Dauer gegossen für die Carte de Visite

oder die noch leere Wand im Vestibül.

Zu lachen gab es nichts: man war fixiert,

in würdiger Erstarrung betäubt,

als koste ein offenes Knöpfchen

den Hals.

 

 

 

 

Frühling

 

Fürs erste nur ein Fenster

nachadventlich geöffnet

im Bastelkalender,

hingemalt auf Billigpapier,

der Ordnung halber verborgen

in Klarsichthülle und Kampfer.

Den Winter lass im Schrank.

Geh aus und mach dich auf,

gib dir freies Geleit, dir selbst

und deinen wankenden Gedanken.

Verbinde deine Augen nicht,

verbinde dich, dein Augenlicht

mit den gelb bestirnten Wiesen

und dem wasserfesten Himmel

und dem Lächelgesicht der Sonne.

Geh aus und zweimal im Kreis,

um dich selbst aufs Bild zu bringen.

Zuletzt fehlt noch, was kein Buntstift

oder Pinsel herzaubern kann:

ein Windhauch, der auch die

unsichtbaren Farben zum 

Leben erweckt.

 

 

 

 

 

 

Luftschiff

 

Über Dächer und Seilmasten

hinaus wie ein versehentlich

losgelassener Kinderballon...

 

Mit drei Hurras entkoppelt...

 

Und dann des Tages Last und Mühe

abwerfen zum richtigen Zeitpunkt,

am richtigen Ort.

 

Und gemächlich, fast ohne Wolken, blättert

der Schulbuchatlas seine Länder auf,

seine kleingezackten Küsten.

 

Eine Frage der Perspektive.

 

Mit knattrig aufgespannten

Schlagflügeln der Stratosphäre entgegen...

 

Hinauf ins All, geschaukelt nur

von Glockengeläut...

 

Und dann das Atmen durch die Frostmaske:

ein Zustand quälender Euphorie.

 

 

 

 

Was du nicht sagst!

 

Das Japsen verknappter Atmung hat nichts mit

japanischen Massenaufläufen zu tun.

 

Und Briefkastenfreunde, auch kleine, leben nicht

in Briefkästen.

 

Ich weiss, ich weiss.

 

Zeitlich beginnt man sein Leben eigentlich erst,

wenn man seine erste Uhr geschenkt bekommt.

 

Und kein Schmelzwasser dieser Welt kann sich

damit brüsten, ein Schneemann gewesen zu sein.

 

Wohl wahr. Wohl möglich.

 

Womöglich wird man herausfinden, dass

das Leben auf der Erde so unwahrscheinlich

ist wie einzigartig. Ein absolutes Unikum.

Und dass wir die einzigen Wesen

in diesem unvorstellbar riesigen

Universum sind, die etwas

zu sagen haben.

 

Was du nicht sagst!

 

 

 

 

 

 

Der Schwarzseher

 

Er sah das Unglück voraus,

sah es kommen mit dem Blick

einer schwarzäugigen Kassandra.

Hielt nicht mit Warnungen zurück

und suhlte sich, auf Schockwirkung

bedacht, in den krudesten Beschreibungen.

Kein Schwarz war ihm schwarz genug.

 

Die Folgen waren die üblichen:

niemand wollte es wahrhaben,

das Unglück, das da dräute.

Also schimpfte man ihn einen Schwarzseher.

 

“Der sieht eine Wolke und denkt schon an Hagel.”

 

Als das Unglück dann eintraf,

war’s um den Schwarzseher abermals

schlecht bestellt, schmähte man doch

seine Prophezeiung als die eigentliche

Ursache und Schuld.

 

“Man kann ein Unglück auch herbeireden...”

 

Hätte er geschwiegen,

sich gar nichts anmerken lassen,

so hätte man ihn unter dem Eindruck

des eingetroffenen Unglücks

erst recht an den Pranger gestellt:

wegen unterlassener Hilfeleistung.

 

 

 

 

 

Strassenlampen

 

Unzählbar sind sie, unverzichtbar.

Nachts beleuchten sie die Strassen

massvoll und verlässlich. Sehr zum

Nutzen der Allgemeinheit, die sich

ihre Mobilität einiges kosten lässt.

Licht auf Licht zu beiden Seiten

unendlich verzweigter Bahnen,

gut montiert unter schwächlichen,

menschenfernen Sternen.

 

Man sagt: der Sicherheit wegen.

Damit keine Unfälle passieren.

Doch nein, das ist es nicht.

 

Der grösstmögliche Unfall,

dem Himmel sei’s geklagt,

ist unvermeidlich.

 

All die Leute

oder sagen wir: Leuchten,

die sich jetzt noch so sicher fühlen

in ihren Lofts und Villen,

in ihren Verwaltungsräten,

Finanzausschüssen

und Bankengremien,

könnten dereinst an diesen

Lampen baumeln und

keinen Mucks mehr tun:

die krawattierten Hälse

endgültig zugeschnürt,

die Gier erloschen.


Wie praktisch ist doch so eine Strassenlampe!

 

 

 

 

 

 

Landbahnhof

 

Nun bin ich reisefertig,

warte mit meinem Koffer

auf dem verlassenen Peron:

nein, nicht auf den Zug.

Es gibt kein Abschiednehmen.

Der Bahnhof hat ausgedient.

Die Schatten werden länger,

und die Sonne, ein kleines

Stücklein Gold, schimmert

noch schwach hinter

gelblichen Blättern,

schimmert noch

schwach, noch

schwach...

 

Warten ist eine Kunst.

 

 

 

 

 

Arbeit

 

Bei der Arbeit trinke ich nie.

Ist auch kein Wunder, denn ich

meide jede Arbeit konsequent.

Ich wahre meine Prinzipien.

Arbeiten ist etwas für Gartenzwerge

und Schlümpfe, die sich furchtbar

wichtig vorkommen, wenn sie mit

einer grossen Mütze rumstolzieren.

Kochmütze, Haube, Helm, Dienstkappe,

ein Bleistift hinterm Ohr: und schon ist man wer.

 

Die meiste Arbeit erledigt

sich von selbst. Man muss nur

fest daran glauben. Die Protestanten

haben die Arbeit erfunden, damit

das Leben nicht zu freudig wird.

Gottes Zahltag erfordert Schweiss

und die unbedingte Treue zum steifen

Minutenzeiger. Was natürlich

längst nicht mehr genügt, o nein,

wo kämen wir da hin? Die Zeiten

blosser Pflichterfüllung sind vorbei.

Arbeiten muss doch Spass machen!

Motivation und Engagement bis

zum Äussersten und Innersten.

Leistung ist alles, Arbeit macht frei.

Und wehe, der Spass bleibt aus...

 

Bei der Arbeit bin ich frohen Mutes.

Ist auch kein Wunder, denn ich rühre

keinen Finger. Ich streike. Ich hülle

mich in die einzige Wolke, aus der

man nicht fallen kann. Das Unbezahlbare

ist mir kostbar. Da zahl ich ungern drauf.

Des Lebens Gehalt mit dem Gehalt

auf dem Konto zu verwechseln,

ist keine Sache der Linguistik.

Und noch weniger des Fleisses.

Gebt mir eine Schaufel in die Hand

und ich arbeite wie ein Tier. Manche

Dinge müssen eben erledigt werden.

Die Vollziehung und Abwicklung

der jeweiligen Sachbearbeitung

erfolge so prompt wie möglich:

damit die Hände wieder frei sind.

Doch wozu das ganze Drumherum?

Nicht die Schaufler, Müllmänner,

Krankenpfleger, Putzen, Kellner,

Schreiner, Gipser veranstalten

diesen Affenzirkus und Flaschentanz,

diesen wichtigtuerischen Schwindel,

den man uns als Arbeit andreht.

Die meisten von uns arbeiten ja nur

noch auf Zeit und zum Schein,

billiges Menschenmaterial

für die unersättliche Wirtschaft:

und doch nicht billig genug. Und

auch nicht zäh genug. Viel zu menschlich.

Roboter-Schimpansen mit dickem Fell

und blinder Gehorsamkeit gehn in Serie,

gehn an die Arbeit. Und so werden

die Entlasteten entlassen und

gebrandmarkt als Versager: wer keine

Arbeit hat, soll sich was schämen...

Pech gehabt, ihr Schufter und Büetzer,

die ihr dem Arbeitsmarkt notorisch

zur Last fällt; das Glück gehört den Blendern,

die sich ihren Blenderjargon vergolden lassen

und den Effizienzwahn Verantwortung nennen.

Wohl bekomm’s: der Festschmaus

ist angerichtet. Schon lange sitzen

sie auf ihren fetten Pöstchen,

ihren Fettpölsterchen sozusagen,

die grosskotzig Ausgebildeten,

die im Nickmodus aufstrebenden,

diplomierten Pseudos.... Wenn

der Schwindel bloss nicht auffliegt!

Denn auch hier wird gnadenlos gesiebt,

getreten, ausgesondert und gerempelt,

und ständig heisst es: Mann über Bord.

Nein, zu beneiden sind sie nicht,

die von der Nadelstreifen-Etage,

denn das allzeit bereite Fallbeil macht keinen

Unterschiel zwischen Henker- und Opferhälsen.

Wenngleich die einen etwas länger davonkommen

als die andern: ein Unterschied so fein wie Seide.

 

Ihr Berufstätigen, die ihr Tag für Tag

aufs Schönwetter-Leiterchen steigt

und eitel Sonnenschein verbreitet, die ihr

von Lebensnotwendigkeiten sprecht,

von Geld und Vorsorge und der Gewissheit,

das Richtige und Sinnvolle zu tun,

aus dem Leben etwas zu machen,

etwas Rundes und Erfüllendes.

Schön und gut, aber wie wär’s

mit einem Blick über den Tellerrand?

Ihr meint die Hauptrolle zu spielen

und seid doch nur Statisten. Über kurz

oder lang wird man euer Geld entwerten,

eure Renten kürzen, eure Freiheit beschneiden,

eure Ersparnisse einziehen, eure Besitztümer rauben

und euch mitsamt euren Jobs wegoptimieren....

Gratuliere, die Selbstabschaffung des Menschen

ist in vollem Gange. Scheitelhoch steht

uns der Irrsinn, den wir uns selbst

eingebrockt haben im voreiligen Jubel

über das einstürzende Utopia....

Jubelnd haben wir uns dem Eigennutz

verschworen, dem Lauf zum Kauf,

und so laufen und springen wir

im Haufen munter über die Klippe

hinab: Ego-Leistung und freier Markt

als jedermanns Vorteil etcetera blabla.

Das nennt man wohl: den Teufel mit

dem Beelzebub austreiben. Denn wer

bezahlt am Schluss die Rechnung?

Wer bezahlt all die Absahnungsprämien

und Profitspielchen raubgieriger Milliardäre,

wenn nicht die, die sich durch ihre Strampelei

im Wirtschaftshamsterrad selber eliminieren?

Und sich immer noch einreden, sie würden

ihre Existenz sichern... Für die Gesellschaft

von Wert sein... Dem wohlgehegten Leben

Sinn und Richtung geben, Sinn und Richtung,

als wäre bezahlte Arbeit etwas anderes

als ein Hamsterrad für Blödsinnige,

die das Wort Stockholm-Syndrom nicht kennen.

 

Nein, Marx ist nicht tot, er schläft nur.

 

 

 

 

 

 

 

Schüttgut

 

Dies ist kein Gedicht über Schüttgut.

Mit Schüttgut befassen wir uns hier nicht.

So beredt das Wort auch daherkommt:

seine Bedeutung interessiert uns nicht,

ist nichts, in das wir uns versenken wollen.

Gleichwohl ist Schüttgut ein schönes Wort.

Für ein Gedicht gerade das Richtige...

Einem Gedicht stünde es gut zu Gesicht...

Schüttgut, Schüttgut, Schüttgut: wunderbar.

Wie gut, dass dieses Wort niemandem

gehört, von niemandem patentiert ist:

es gehört uns allen, verschenkt sich

anspruchslos, ohne sich zu spreizen.

Wie’s nur schon klingt! Schütt-gut.

Das muss in ein Gedicht kommen,

auf einen sprechenden Tanzboden.

Die zweisilbige Schönheit wäre sonst

verschüttet und verkannt. Man könnte sagen:

umsonst. Niemand würde sich um sie scheren,

und Schüttgut wäre vielleicht der Rede,

nicht aber des Dichtens wert. In der Tat

macht sich Schüttgut gut in einem Gedicht,

diesem Gedicht, das doch gar nicht von

Schüttgut handelt, Schüttgut an und für sich

völlig ausklammert, an und für sich könnte

dieses Gedicht auch von Pfirsichen handeln.

Oder von Pflaumen! Aber bleiben wir bei

Schüttgut. Schüttgut hier und Schüttgut dort.

Nur ein Wort, aber was für eines! So schön

wie Frauenbeine, funkelnd wie Morgentau.

Bloss - wie geht das zu? Ein Papiergebilde

mit scherenschnittigen Konturen klappt auf,

springt knospend in den Raum, wippende,

biegsame Taschenarchitektur, die man

sich fingerspitzenfindig zurechtfalzt,

und dann noch dreimal geschüttelt -

und schon hat man das ideale Güttschut.

 

 

 

 

Circus

 

CIRCUS CIRCUS CIRCUS

blinkt es ohne Wackelkontakt.

 

Und der Elektriker, der dies vollbracht,

steigt zufrieden von der Leiter herab.

 

Und die Kassiererin zählt das Münz.

Und der Ansager übt die Ansagen.

Und das Orchester übt den Tusch.

Und der Trapezkünstler pudert sich ein.

Und der Kraftmensch ölt seine Muskeln.

Und der Jongleur sortiert seine Bälle.

Und der Messerwerfer instruiert seine Dame.

Und die Kunstreiterin macht sich sattelfest.

Und das Schlangenmädchen verbiegt sich zu einem Geglitzer.

Und der Fakir knetet Nägel in seinen Kaugummi.

Und der Magier prüft den doppelten Boden.

Und der Löwenbändiger füllt den Futternapf.

Und der Weissclown schminkt sich weiss.

Und die Bauchrednerin unterhält sich mit ihrem Fötus.

Und der Seiltänzer zentriert seine Zehen. Und der vom Feuerreif

kandierte Springschimmel muss noch gestriegelt werden.

 

Und der dumme August?

Der baumelt an einem Scherzartikel-Strick.

 

 

 

 

 

 

Die insubrische Sonne

 

 

I.

 

Eine “Caldera” nennt man eine Stelle im See,

an der das Wasser köchelt und kocht.

 

Treppab führen alle Gärten zum Schlick.

Ein Moment wie Augenzwinkern, da ein Blitz

aufleuchtet und gleich noch ein zweiter und

die steinerne Dryade ein schiefes Gesicht zieht,

als wäre sie so gemeisselt worden.

 

Endlich wächst der Schnorchler,

der im Trüben gestochert und

auf Rufzeichen kaum reagiert hat,

aus dem unruhigen Wasser und gibt

sich winkend als gerettet zu erkennen,

auf der Glatze etwas Zottliges,

eine lebende Perücke,

ahnungslos heraufgefischt

aus gar nicht so tiefen Tiefen.

 

Von fern ein knackendes Donnern,

ein hackendes Splittern...

 

Oh du nackte Dryade beim Bad!

Pack deine Sachen, bevor’s der Wind tut.

Pack dich am Schopf und verzieh dich

landeinwärts in den schrumpfenden Tag.

Ein Rosenkranz aus Schwimmkorken

tänzelt von Welle zu Welle, von Welle zu Welle.

 

Kippt das Wetter, kippen auch die Uferschwalben.

 

Nun schau, was da geschieht:

etwas Langsames und Schwarzes

hebt die Welt aus den Angeln,

und die Borromäischen Inseln

versinken wie ein kleines Atlantis.

 

 

II.

 

Dem weit gewordenen See

sind noch keine Segel gesetzt.

Der Regen ist geschaukelt,

der Himmel hochfliegend hoch

über die Bergspitzen gebreitet.

Eine Stimmgabel gibt den Ruheton,

den alles durchschwingenden

schönen Ausgleich...

Friedlich wie Nähnadeln

kreuzen die Dampfschiffe

nach einem gespiegelten

Fahrplan, strichpunktiertes

Hin und Zurück auf

strömenden Bahnen.

Ab sieben duftet es wieder

hemdsärmlig nach Brot.

Und in der Schädelhöhle

eines Menschen, der gähnend

seine Fensterflügel aufdrückt,

baden sich krakeelend die Spatzen.

 

 

Kurz danach

verlässt man die Terrasse

ordentlich gestärkt und

mit einem Frottiertuch

über der Schulter,

klassischerweise barfuss.

Die Sonne wechselt den

Längengrad und mengt

sich unter die Blätter;

also runter zum Bad,

Goethes Zitronen im Kopf

oder den süssen Wahn vom Süden

- und um die Stirn ein Kranz

aus insubrischen Strahlen.

 

 

III.

 

Himmelwärts knallen die Tauben.

Rundherum und überall schallt

es auf und ab, Spielglockengeläut

hoch zwölf. Es läutet Mittag, vieltönig,

als wär' das Hin und Her unter der Pergola

ein kirchliches Fest, ein Hochamt,

zelebriert von Schweizer Gardisten.

Das programmierte Glockenspiel

braucht keinen, der am Seil zieht.

Der Glöckner Giaccomo steht ausgestopft

im Ortsmuseum gleich neben der Kirche:

besonders für Kinder eine Attraktion.

Sein Buckel bringt bei Berührung

immer noch Glück.

 

Weiter oben die Bildstöcke

am Säumerweg, weitab

von den Manen und Musen

und Gorgons Haupt und dem

dunklen Wasser am Zypressentor.

Am Berg wird man fromm,

weil Gott ein Einsehen hat,

wenn man sich hinaufmüht

zwischen Bruchsteinen

und Kreuzen, härenen

Gewandes am Wanderstock,

um irgendwo am Wegrand

ein geweihtes Herzjesu-Kerzlein

hinzustellen.

 

Unten am schwatzhaften See

ist man dann wieder Römer

oder Grieche. Glaubt ans

Auf und Nieder. Oder an gar nichts.

Und das dunkle Wasser bleibt

vielleicht gar nicht so dunkel:

es kann sich aufhellen

wie von einströmender Milch.

 

 

 

 

 

Atlantisches Tief

 

Es regnet wieder einmal Schirme

aus einem Himmel voller Katzen,

die auf alten Bratschen tatzeln.

An den Bäumen tröpfelt Notenpapier.

 

Regen pladdert unaufhörlich,

rauscht aus allen Wolkenbänken.

In den Beizen und den Schenken

rauscht indessen nur der Rausch.

 

Der Maler stapft in Pelerine

auf der Wiese auf und nieder.

Die Nässe ist ihm sehr zuwider,

weil sie Farben matschig macht.

 

Und es fröstelt sprachverloren

der Dichter in der dünnen Jacke.

Im Regen poeten: eine Macke,

die nur ihn befallen kann.

 

Die Mehrheit flüchtet in die Stuben,

in die wohlgewärmten Zimmer.

Draussen wird es immer schlimmer

mit dem Jammerregenschwall.

 

Doch auch drinnen steht nicht alles

nur zum Besten. Mancher brütet

still ein Leiden aus und hütet

sich vor allzu starkem Durchzug.

 

Die Nase tropft, der Husten rasselt,

beides gibt man keuchend weiter,

zwei ungeliebte Wegbegleiter

auf dem Weg ins vorgewärmte Bett.

 

Heiss und kalt und blass und blässer

schlottert man in Fieberwehen,

wälzt und rollt sich in den Seen,

die man ausschwitzt noch und noch.

 

In die schluckbereiten Dolen

schwemmt’s herab die Himmelsbläue.

Klamm und heimlich frisst sich Fäule

durch die schlecht verputzte Wand.

 

Ein Taschentuch, der Herr, die Brille

beschlägt ganz übel bei diesem Wetter.

Das Wetter erscheint ein wenig netter,

wenn man sieht, wie hässlich es ist.

 

Wer gesund bleibt, hat’s gemütlich,

schätzt das Schlechte wie das Gute,

setzt sich in die gute Stube,

um zu sehen, was draussen so läuft.

 

Fernsehabend bei den Müllers,

Prognosen, die es in sich haben:

Kometenschweife, Menschheitsplagen

und vor allem sehr viel Tiefdruck.

 

Die Fische im Aquarium schwimmen

allesamt herbei und glotzen:

das Wetter finden sie zum Kotzen.

Ihr Glück, dass sie im Trocknen sind.

 

Schwammgleich saugen sich die Böden

voll mit glibberschwarzer Gülle:

im Klärschlammbecken schwappt die Fülle

über, bläht sich der Gestank.

 

Frau Nüssli geht jetzt oft spazieren

in der Hoffnung, dass der Regen

sie verschönere. Der Pflege wegen

nimmt sie den Pfützenlauf in Kauf.

 

Stiefelspitzig in das Wasser

tritt sie ohne jedes Zaudern,

bleibt dann stehen, um zu plaudern

mit einem rostigen Abflussrohr.

 

Fern am Talrand klebt ein altes Haus,

verwischt von dicken Schauern.

Es schimmert, glimmert halb im Blauen,

halb in Regenwasser getaucht.

 

Die Sonne biegt den Regenbogen

für eine kurze zittrige Weile...

Schon regnet’s weiter ohne Eile,

grau und schwarz und schrecklich dumpf.

 

 

 

 

 

 

Hochhaus bauen

 

Sie bauen nicht schräg, sie bauen nicht krumm.

Sie bauen in die Höhe. Gerade in die Höhe:

Haus nach Haus nach Haus. Hoch hinauf und

grad und höher noch als hoch. Und hoch hinaus

dazu. Immer in die Höhe. In die höchste Höhe,

weil dort noch Platz ist. Sie bauen, das ist ihr

gutes Recht, ein Hochhaus an das andere.

Sie richten auf und richten zu. Ein Hochhaus,

das muss stehen. Und immer noch eins dazu.

Ja, die Höhe wird verbaut mit Häusern hoch 

und höher, mit Häusern hoch und ohne Zahl.

Bauen, bauen, bauen: in die Höhe immerzu.

Sie bauen früh, sie bauen spät, von früh bis

spät die Arbeit geht. Sie bauen und sie bauen.

Sie bauen nicht schräg, sie bauen nicht krumm.

Sie bauen in die Höhe. Gerade in die Höhe:

aufwärts geht es grad und gräder, bauen

streng nach Mass so weit der Himmel reicht.

Immer hoch hinauf und stetig in die Höhe.

Ja, die Höhe ist gut, die Luft da oben und

die Aussicht noch dazu. In die Wolken treibt

man Haus um Haus. Hoch hinauf und grad

und höher noch als hoch. In die Wolken damit!

In die allerhöchste Höhe baut man mit Gewinn.

Weil dort noch Platz ist und Luft noch reichlich

vorhanden, für alle reicht. Für alle, alle, alle.

 

 

 

 

 

Wabe

 

Durch den wiedehopfköpfigen

Wald schwebt die erste Flocke

schüchtern herab. Eine Schneise

mit Weg und eisenvernieteten Masten,

zwei Streifen furchiges Gras,

schon ein wenig überglast.

Das Atmen erreicht die Ohren

nur noch von innen.

 

Und in den geschwungenen Drähten

ein Surren wie von erkälteten Bienen,

die es kaum erwarten können, dass

sich aus grossen weissen Räumen

ein Gewimmel löst, eine Wand,

die niedersinkt, endlos niedersinkt

und zugleich etwas Neues baut,

eine tiefstille Wabe um das

schlafende Leben herum.

 

 

 

 

 

 

Drinnen

 

Es umgeistert dich draussen,

die Nacht vielleicht, das Dunkel.

 

Es umgeistert dich drinnen,

obwohl du’s ausgesperrt hast.

 

Die Hand noch am Türgriff,

spürst du, wie’s dich überläuft.

 

Und du sträubst dich

mit Haut und mit Haaren.

 

Was ist es? Was ist es?

 

Die Lampe leuchtet auf:

ein Zimmer voller Dinge.

 

 

 

 

 

Chinesien

 

Landschaften aus Mürbeteig,

Schmutzflüsse, Sanddünen

und das flackrige Bordlicht

von Transportkabinen.

 

In Chinesien geht die Sonne früh auf,

riesig und gleissend wie ein Gong,

über Häuserzeilen aus gelbem Papier.

 

Die gutgenährten Chineser haben

eine genau bemessene Zahnlücke:

damit der Reis gut hindurchflutscht.

 

Heuschrecken auf Sumpfzypresse

gelten als Delikatesse.

 

Es ist ein alter Brauch, dass sich

die Chineserinnen im Jahr des Hundes

singend die Achselhaare zöpfeln.

 

Wenn die gebildeten Chineser

in eine poetische Stimmung kommen,

nehmen sie ihre Tuschepinsel hervor

und malen alles ab: vor allem

die mondbeschienenen Teiche.

 

Nicht unerwähnt lassen

darf man die grosse Mauer.

Mit Preis und Dank bedacht

seien die weitblickenden Erbauer.

 

Die Chineser spucken einander

zur Begrüssung auf den Kopf.

Zum Abschied winken sie wie wir.

 

Kehrt man nach langer Abwesenheit

aus Chinesien zurück, muss man,

um wieder heimisch zu werden,

die Schonbezüge seiner Wohnung

unverzüglich an die frische Luft hängen.

 

 

 

 

 

 

 

Texte: März - Mai 2015

Bilder: 2001-2005, Mixed Media, Öl, Acryl