Das Grand Hotel

 

 

Rindlisbacher schnauft, der Anstieg ist beschwerlicher als gedacht. Schliesslich kommen sie oben an. Die Höhe ist flach und bewaldet. Der Wald nimmt sie auf. Unter seinem dunkelgrünen Dach gehen sie friedlich dahin. In der Stille sind die Bäume aufgepflanzt wie Säulen. Mit russigen dicken Stämmen und grauen Fransen stehen sie gleichmässig da. Moosgrünes Dunkel. Das Licht wird knapp. Ein schläfriges Nicken geht durch die Äste, schüttelt Nässe herunter. Nicht festzustellen, ob es wieder zu regnen begonnen hat. Tropfen über Tropfen platzen auf dem Waldweg, schlagen glucksend in die Pfützen. Die Nässe blubbert und schluckt. Der ganze Wald hat Schluckauf. Also dann, sagt Rindlisbacher, den jähen Schluckauf, der ihn selber befallen will, rasch hinunterschluckend, wo sind wir stehengeblieben? Du begleitest mich. Du stellst dich darauf ein, dass bald einmal etwas passieren könnte. Du bist zu Taten bereit, könntest Berge versetzen. Das ist gut. Du arbeitest dich in etwas hinein, das man eine schöne Aussicht nennen könnte. Sehr gut. In den Bäumen singen die Batzen und Meisen, ich meine die Spatzen und Meisen, die Luft ist frisch, das Geblubber klingt ab. Das müssen wir uns so vorstellen, sonst wird das nichts mit diesem Fussmarsch. Den Anfang haben wir immerhin schon gemacht. Daraus könnte sich eine gute Sache entwickeln. Gewiss werden wir früher oder später dort anlangen, wo sich uns eine neue Welt auftut... Rindlisbacher kneift die Augen zusammen. Der Wald ist da und dort etwas aus dem Lot geraten, einzelne Tannen stehen schräg, die Stämme angeknackst und verdreht, das beschädigte Holz klafft frisch. Mühri hat sich ganz aufs Schauen verlegt. Rindlisbachers Gerede nervt ihn. Als sie aus dem Wald herauskommen, schweigt Rindlisbacher eine Weile, aber nicht allzu lange. Ich hätte, fährt Rindlisbacher fort, Gärtner oder Steinmetz werden sollen. Das sind Berufe, die mit der Realität zu tun haben. Mit der Natur. Die Gegend hier, sagt Rindlisbacher, ist vielleicht gar nicht so natürlich. Vielleicht ist sie nur vernachlässigt. Mit diesen Worten deutet er auf die Umgebung, den Wald, der linkerhand in einer Senke verschwindet, die Äcker und Wiesen, die struppigen Heckengehölze. In der Ferne, aufgereiht wie Zuckerstöcke in einem Schaufenster, Höcker und Gupfe, an denen Wolken entlangkriechen. Der Weg verläuft jetzt leicht geneigt, es geht ein mässiger Wind. Die Wolken schliessen sich zusammen, vermischen sich. Auf einmal kommt es wieder regnen. Vielstimmig rauscht es in die Blätter, ins Gras, auf den Asphalt. Unter der grad herabfallenden Nässe wird alles wächsern und leblos. Sie bleiben stehen. Bestes Aprilwetter, sagt Rindlisbacher und schnalzt mit der Zunge. Nicht weit vom Weg, neben einem Holzschopf, tapst ein Lämmchen herum. Mit seinen dünnen Beinchen zuckelt es durchs Gras, rupft und käut. Rupft und käut. Es hebt den Kopf und äugt zu ihnen herüber, käuend. Fünf Minuten später verlegt ihnen ein Gutshof den Weg. Sie durchqueren ihn, Mühri blickt sich ängstlich um. Über der weitläufigen Anlage lastet unheimliche Stille. Plötzlich schlägt ein Hund an, wie eine Rakete schiesst er auf die Eindringlinge zu, Reisszähne gefletscht, und lässt eine schwere Kette hinter sich herrasseln. Die Kette ist nicht dehnbar, sie spannt, der Hund richtet sich hoch auf und fällt zappelnd zurück. Auweia, sagt Mühri. Die beiden Wanderer sind erleichtert. Doch sie wissen: der Weg ist noch weit, und Hunde gibt es überall. Auf der Höhe angekommen, wenden sie sich nach links; dort beginnt ein Wald mit Geschaukel und unruhigen Geräuschen. Der Weg senkt sich von jetzt an leicht und taucht zwischen einer Forsthütte und einem Pflanzengarten in einen schönen rotstämmigen Hochwald. Klebrig hängen die benadelten Äste herab, tropfend. Rindlisbacher und Mühri schwingen die Arme. Unbeeindruckt von den riesigen Tannen, die den ohnehin schon düsteren Tag noch düsterer machen, stapfen sie auf gerader Linie dahin. Erst kurz vor dem Waldaustritt fällt der Weg ein kurzes Stück kräftig ab und endet dann vor einer Wiese, der man ansieht, dass sie selten gemäht wird. Am Waldrand stehen Bäume, die sich weit hinausbiegen mit wedelnden Ästen und zuckenden Blättern. Es hat wieder zu regnen begonnen. Mühri merkt, dass seine Windjacke nicht dicht ist; an den Nahtstellen und hinten, wo die Schulterblätter herausstehen, hat die Imprägnierung etwas nachgelassen. Er bleibt stehen, überprüft den Knopfverschluss seiner Kapuze, fingert eine Weile daran herum. Seine Augen irren umher. Alles grau in grau! Im striemenden Regen sieht er die Häuser in der Ebene, die spitz zulaufenden Dächer, die Garagentore, die Fenster, alles dicht beisammen, undeutlich, wie verschmiert. Rindlisbacher streckt ein Bein aus und setzt es, den Fuss leicht abgekippt, vorsichtig ins Gras. Der Boden ist sumpfig. Rindlisbachers Schuh verschwindet in einem schmatzenden Loch. Er zieht den Schuh wieder heraus und geht langsam am Wiesenrand entlang. Was bedeutet das schon? murmelt er vor sich hin. Ja, was wohl? In immer heftiger werdenden Schauern entleert sich der wolkentrübe Himmel. Rindlisbacher klappt seinen Fellkragen hoch, während Mühri ein paar unsichere Schritte in die Büsche hinein macht. Wohin willst du? ruft ihm Rindlisbacher nach. Warte! Ich geh nur mal brunzen! antwortet Mühri, ohne sich umzudrehen. Er stapft weiter durch ein Gewirr aus Ästen, Ranken und Dornen, das alles hakt sich an, zupft und rupft, lässt ihn hin und her taumeln. Aber er kommt vorwärts. Bald erkennt er vor sich eine Strasse, die sich in schimmernden Bögen den Berg hinaufwindet. Mühri befreit sich aus dem zugewucherten Wald, stolpert hinaus auf den Asphalt und geht ein Stückweit die Strasse hinauf. Er schaut nach vorn und zurück. Niemand. Schnell schlägt er sein Wasser ab, vor lauter Regen ist der Urinstrahl kaum zu sehen. Die ganze Luft ist voller Urinstrahlen, ist beinahe schon aus Urinstrahlen gestrickt. Es regnet kreuz und quer. Es regnet schaurig, schauderhaft. Wasser läuft sturzbachartig auf ihn zu, bräunliches Wasser, das aus der Erde hervorquillt, alles beiseite drückt. Die Welt scheint sich zu verflüssigen: Wasser umspült seine Füsse, prasselt in die Büsche und sprudelt zwischen den Steinen und den Wurzeln hervor. Mühri geht schnell weiter. Eine fischgraue Trübnis aus klebrigen Wollfäden, endlos und wirr. Regengüsse wehen ihm entgegen, fächern sich auf, besprühen ihn von oben bis unten. Wasser sprüht und läuft ihm in die Augen... Ein undeutliche Gestalt am Wegrand. Und da ist endlich wieder ein Weg, die Sturzbäche hören auf, und da ist auch Rindlisbacher. Er macht ein Gesicht wie ein Fass voll Essiggurken. Er starrt in eine Pfütze, reagiert kaum, als Mühri bei ihm ankommt. Sie gehen weiter, ein Gleichschritt stellt sich her. Der Regen lässt nach. Ein kühles Lüftchen weht ihnen um die Nase, betupft die Stirn mit Rhizinusöl. Die Sonne drückt durch, verstreut ein graues, wässeriges Licht. Auf dem Bergsattel treten sie aus dem Wald hinaus. Vor ihnen liegt eine saftig blühende Magerwiese, nicht allzu morastig, mit einem merkwüdigen Klotz in der Mitte. Rindlisbacher geht über die Wiese auf den Klotz zu. Er winkt Mühri heran. Der Klotz ist etwa zwei Meter hoch und massiv wie eine Panzersperre. Auf jeder Seite, in einer schachtartigen Vertiefung, befindet sich eine vergitterte Öffnung. Rindlisbacher und Mühri spähen durch eines der Gitter. Zu sehen gibt es nichts. Das Innere ist kalt und dunkel: ein Schacht, viereckig armiert, ein Höllenloch. Und plötzlich braust es da drin, bullert es herauf, ein Drachengebrüll aus der Tiefe, ein Wind schlägt ihnen ins Gesicht, ein Aufwind, der scharf nach Eisen und Kohle riecht. Eine halbe Minute lang, begleitet von einem dumpf rasselnden Dröhnen, fegt die Luft oder Abluft durch das Gitter nach draussen. Uuuuhh! schreit Rindlisbacher. Uuuuh! Als der Lärm verklungen ist, treten sie keuchend einen Schritt zurück. Ihre Haare sind struppig und verklebt. Ein Cisalpino, sagt Rindlisbacher. Mit hundertfünfzig Sachen unter dem Berg hindurch und davon. Für uns hat das nichts zu bedeuten. Für uns ist der Zug abgefahren. Wir sind zu alt. Nach Italien geht man nur, wenn man jung ist und die passende Frisur hat - oder zumindest eine Vespa. Ansonsten bleibt man, wo man ist, oder geht in das nächste Grand Hotel... Rindlisbacher nimmt seine Brille ab, haucht die Gläser an und poliert sie mit einem Nastuch. Dann setzt er die Brille wieder auf und schiebt sie mit dem Finger in die richtige Position. Er zwickt sich in die Lippen, holt neu aus. Zum Glück, beginnt er, gibt es welche wie uns. Im Grand Hotel wird man uns einen fürstlichen Empfang bereiten... Grund genug, uns zu beeilen, wirft Mühri ein. Rindlisbacher schüttelt den Kopf. Er möchte weiterreden, und zu diesem Zweck klopft er sich aufs Brustbein wie ein Klopfgeist, der klopfend seine Anwesenheit kundgibt, um für das, was er zu sagen hat, die erforderliche Aufnahmebereitschaft herzustellen. Was Rindlisbacher vorbringen möchte, ist schwierig und seltsam. Er bringt es auf Anhieb nicht über die Lippen, es stopft ihm den Hals zu, nur klopfend, mit der Faust aufs Brustbein pochend, kann er sich mitteilen. Also, sagt Rindlisbacher. Im Grand Hotel logiert eine Dame. Sie ist eine Dame von Welt. Sie steht am Fenster ihrer Biedermeier-Suite und blickt auf die Landschaft hinaus. Die Dame lässt sich Tee servieren, schwarzen Fichtennadeltee, den sie in ganz kleinen Schlucken zu sich nimmt, vermutlich als Medizin. Sie wartet auf unser Erscheinen, wir sind schon auf dem Weg, sind jetzt hier auf dem Weg zum Grand Hotel, das dort drüben hinter dieser Waldkette irgendwo sein müsste, ein schmierig glänzender Kasten. Wir versäumen uns, wie immer, aber andererseits rennt uns das Hotel auch nicht davon. Es kann warten. Rindlisbacher presst die Hände zusammen, während Mühri vor sich hinstarrt. Zugfahren, denkt er. Ab durch die Mitte, ab durchs Mittelland nach Süden. Seine Hände verschwinden in den Stoffeinstülpungen seiner Jacke. Im westlichen, waldwärts gelegenen Hotelflügel gibt es ein Zimmer, fährt Rindlisbacher fort, während er sich die Schuhe neu bindet. Ein ganz besonderes Zimmer. Es ist dunkel wie ein Fichtenwald, die zugezogenen Vorhänge lassen nur spärlich Licht durch. In der Mitte ein Sofa, daneben ein Tisch. Auf dem Sofa sitzen zwei blasse Gestalten, das sind wir, wir sind durch den Regen marschiert und stellen fest, dass der Regen aufgehört hat, es scheint sogar die Sonne, während wir in diesem abgedunkelten Zimmer auf einem Sofa sitzen mit blassen Gesichtern und verdreckten Schuhen. Auf dem Tisch steht eine Vase mit verblühten Lilien und Anemonen. Es riecht nach alter Politur. Die Dame betrachtet uns nachdenklich. Wir sitzen da wie zwei abgemagerte Eulen auf einem Ast. Weich und lau zieht der Nachmittag draussen vorüber. Die Sonne wärmt das Fenster, schliesslich das ganze Zimmer. Irgendwo summt eine Fliege. Die Dame geht zu einem Wandschrank, öffnet darin ein Schubfach und nimmt eine Karte heraus. Sie zeigt uns den Weg, den wir zurückgelegt haben, fährt mit dem Finger über die ganze Karte hinweg, und am Schluss tippt sie mit dem Finger auf das Grand Hotel und sagt: da seid ihr jetzt. Willkommen in der neuen Welt.

 

Rindlisbacher lacht kurz und kehlig auf. Mit einem Schwung, der ihn wie eine Gliederpuppe nach vorn wirft, macht er einen Schrittsprung in die Richtung, die ihm ungefähr vorschwebt: dann geht er zügig weiter. Mühri folgt ihm zögernd und verdrossen. Rindlisbacher benutzt beim Gehen die Hände, um eine bestimmte Richtung anzudeuten, auf die er regelmässig und ständig wieder neu ansetzend einschwenkt. Mühri folgt ihm immer noch zögernd und verdrossen, jeder Schritt ein schmollendes Fragezeichen. Die Richtung, die sie jeweils einschlagen, legt Rindlisbacher dirigierend fest, mit wedelnden, weit herumzeigenden Händen: immer zeigt er, wohin es ungefähr geht, peilt etwas Ungefähres an, gibt scheinbar die Richtung vor und korrigiert sich, bevor die Richtung zu eindeutig wird. Sie steigen über Bodenwellen, gleichmütig beobachtet von Golaway-Rindern. Oben am Waldrand kommen sie auf einen Weg. Das ist ja das Schöne an dieser Gegend, erklärt Rindlisbacher, man braucht nie nach dem Weg zu fragen. Alle Wege sind gleich gut. Hat man Vertrauen zu ihnen, so läuft alles ganz glatt... Etwas Dunkles, Graues, Spinnwebartiges schliesst sie ein. Der Wald, in den sie mit geduckten Köpfen eintreten, ist klamm und klebrig. Sie bekommen eine Gänsehaut. Sie gehen weiter und weiter. Rindlisbacher hat seine Hände in die Jackentaschen gesteckt und sieht mit gesenktem Kopf auf seine Schuhspitzen. Er schweigt, als wäre es jetzt angebracht, die Gedanken im Kopf zu behalten. Der Weg führt unter der bewaldeten Südflanke eines Waldkopfs hindurch, der hinter vielen hochaufragenden Bäumen zurücktritt. Der Berg scheint zu schrumpfen, und doch bleibt er der höchste Berg weit und breit. Unter grossen Anstrengungen könnten sie ihn besteigen, um einen Rundblick zu erhaschen. Doch sie ziehen es vor, auf dem Talboden zu bleiben, auf dem platten Tal- und Wiesenweg. Sie halten sich an die eingetrockneten Traktorspuren, an das metronomische Ticken der Weidenzäune. Bald kommen sie in ein grösseres Waldstück, es ist ein lichter Buchenwald, ein gedämpftes Geraschel, ein fröhliches Knarren und Knacken, ein Zischeln und Rauschen. Ja, sie sind im Wald. Ganz sachte steigt der Weg in eine höhere Region hinauf. Es riecht nach aufgegrabener Erde, nach Bärlauch und prickelndem Bier. Es riecht nach Frühling. Rindlisbacher hustet. In weitem Bogen nach Osten steigt der Waldweg gleichmässig an und kommt, als sie schon fast glauben, es nehme mit diesem Wald überhaupt kein Ende mehr, auf offenes Gelände hinaus. Sie befinden sich auf einem Südabhang. Rindlisbacher rennt plötzlich los, rennt wie ein gestochener Gaul. Seine Schuhe klappern mit sich ablösenden Sohlen auf der Teerstrasse. Uuuuuh! schreit er. Uuuuuuh! Die Strasse windet sich abwärts, wie eine Tuchbahn schmiegt sie sich dem schroffen Gelände an. Rindlisbacher! ruft Mühri. Obacht! Zu spät. Rindlisbacher verschwindet buchstäblich im Erdboden. Mitten auf der Strasse ist ein Loch, und etwa zehn Meter vor dem Loch ist am Strassenrand ein dreieckiges Warnschild postiert mit einem schwarzen Kreis drauf, der anzeigt, dass hier ein Loch ist. Zwei Strassenarbeiter mit orangen Overalls und Leuchtbändern an den Armen springen von ihren Klappstühlen, die sie am Strassenbord aufgestellt haben, um Znüni zu essen. Sie eilen Rindlisbacher zu Hilfe. Der reicht ihnen die Hände. Einer zieht links, der andere rechts, es sind kräftige Männer, Biertrinker, es gelingt ihnen, Rindlisbacher aus seiner misslichen Lage zu befreien. Sie ziehen ihn wie einen Stöpsel heraus, es macht klock, und Rindlisbacher ist frei. Er kramt sein Portemonnaie hervor und gibt den Strassenarbeitern ein Trinkgeld in grossen Noten. Tut das in die Sparbüchse, sagt er. Für jeden spendier ich neunzehn Franken und fünfundachtzig Rappen. Das Herausgeld dürft ihr behalten... Dann stapft er auf das Grand Hotel zu, diesen schmierig glänzenden Kasten, auf den nun die pralle Sonne herabscheint.

 

 

2005