Das Hallenbad

 

 

Durch die leicht getrübte Glasfront sah ich die Leute im Wasser mit ihren Badehauben, Badebrillen und im Gesicht klebenden nassen Haaren, ich sah die bläuliche Bodentönung des Bassins und die schwarzen Längsstreifen, die von den schwimmenden Körpern stellenweise verdeckt wurden. Was Personen kenntlich und unterscheidbar macht, war bei diesen Schwimmern verschwunden. Ohne Gesichter und Kleider vollzogen sie etwas Überpersonales, etwas, das ausschliesslich vom Wasser beherrscht wurde. Man schwamm oder schwamm nicht, war ein Körper im Wasser oder ausserhalb des Wassers. Und alles war Teil eines zähen, schwerfälligen Rhythmus, eines endlosen Hin und Hers. Auch die schnellsten Schwimmer schwammen bedächtig, stiessen sich taktmässig und beharrlich voran. Langsam, das heisst: ohne zu hetzen, ohne Kraftverschwendung. Auf ihren Bahnen vollführten sie Bewegungen, die nirgends abrissen, immer weitergingen. Die Bewegungen waren glatt und fliessend, vor allem beim Kraulen; auf jedes Heben der Armbeuge, bei dem das Wasser abgeschleudert wurde, folgte wieder ein schaufelradartiges Untertauchen der Hand, ein Vorwärtsziehen des Körpers mit dem regelmässigen Wechselschlag der Beine und so weiter. Es gab weder Anfang noch Ende.

 

Schwimmen, möchte ich meinen, ist wie Velofahren, das Prinzip ist dasselbe: kommt man zum Stillstand, fällt man um, geht man unter. Ein Schwimmer darf nicht aussetzen, es sei denn, er stemmt sich mit einem das Schwimmen abrupt beendenden Ruck aus dem Wasser, wirft sich wie ein Fisch aufs Trockene und stellt die Kiemenatmung ein, um sich in ein Landtier zurückzuverwandeln. Aber was heisst schon Landtier? Wo ist das Land? Wo das Wasser? Wo verläuft die Grenze? Die uns umgebende Luft enthält immer eine gewisse Menge Wasserdampf. Bei warmen und auch schon gemässigt warmen Temperaturen kommt es in Wassernähe zu einer sogenannten Diffusion. Vor allem in geschlossenen Räumen. Unsichtbares Hochwallen von Dampf füllt die Luft bis unter die Decke. Feste Materie ist nirgends so fest, wie sie scheint, sie nimmt das feinstoffliche Element auf und lässt es durch. Nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes verschafft es sich einen Weg nach draussen. Dort, wo die Mauer am durchlässigsten ist, an ihrer angreifbarsten Stelle, wird sie feucht, fängt an zu schimmeln oder zu bröckeln, zersetzt sich mit seltsamen Verfärbungen. Ein Hallenbad muss dauernd renoviert werden, es löst sich von innen her auf. Man könnte es mit einer Sandburg vergleichen, die direkt am Wasser steht. Hier Wasser, dort Land, diese Trennung existiert in Wirklichkeit nicht.

 

Ich duschte mich ausführlich. Sämtliche Schmutzstellen lösten sich nacheinander auf, es war befreiend. Der Badebetrieb begann schon im Duschraum. Das war ideal, inmitten von Sprühdüsen und gurgelnden Abläufen konnte ich mich einstimmen, innerlich Anlauf nehmen. Ich fand das ganz angenehm, und es kam mir auch insofern gelegen, als es mir erlaubte, mich an mein ungewohntes Erscheinungsbild zu gewöhnen. Was war denn so ungewohnt daran? Ich war unbekleidet, oder doch nahezu. Meine Badehose sass gut. Das war das Wichtigste. Im übrigen versuchte ich mich auf das Wasser zu konzentrieren. Wasser, dachte ich, überall Wasser. Rutscht man aus, kann es leicht passieren, dass man hineinfällt. An meine Badehose dachte ich schon bald nicht mehr. Bevor man ins Wasser steigt, tut man gut daran, sich nicht allzusehr auf die eigene Erscheinung zu konzentrieren. Besser gar nicht daran denken. Am Bassinrand, wer hätte das nicht schon beobachtet, zeigt sich die Unbeholfenheit des menschlichen Körpers so schonungslos wie selten. Hier, wo die Leiber sich tummeln wie die Robben auf ihrem Felsen, fällt auf, dass der Mensch, entgegen der biologischen Lehrmeinung, nicht eigentlich ein Landtier ist: er ist ganz eindeutig fürs Wasser gemacht. Auf dem Land ist er eine Fehlkonstruktion. Arme, Beine und Kopf hampeln unkoordiniert herum, hölzern und plump scheint das alles an Fäden zu hängen. Doch kaum ist der Mensch, dieser physische Hanswurst, ins Wasser eingetaucht, verwandelt er sich in das Amphib zurück, das er in urgeschichtlicher Zeit einmal gewesen ist. Irgendwie haben wir diesen Urzustand alle noch in uns drin. Als ich mich dem Wasser näherte, fühlte ich mich wie gezogen, das gleichmässige Klatschen der über die Randsteine hüpfenden Wellen erfasste mich hypnotisch. Sog mich an. Ich sah die Leute im Wasser mit ihren Badehauben, Badebrillen und im Gesicht klebenden nassen Haaren, ich sah die bläuliche Bodentönung des Bassins und die schwarzen Längsstreifen, die immer wieder verdeckt wurden von einem schwimmenden Körper. In der Luft ein Geschaukel rautenförmiger Reflexe, die unaufhörlich an den Wänden hinaufschossen und dicht unter der Decke zersplitterten. Und ich sah auch meine käsigen Beine, und einen Moment lang zweifelte ich, ob dieses Baden, Schwimmen und Schwadern in den Tiefen und Untiefen des Bassins für mich auch wirklich das Richtige war. Was tat ich hier überhaupt? Was tat ich hier auf meinen käsigen Beinen? War ich nicht vielleicht doch eher ein Landtier? Der Schwung, der mich vorhin erfasst hatte, liess nach, ich zauderte. In mir hatte sich etwas quergestellt: es war aber nicht Wasserscheu, ich bin nicht wasserscheu, es war eher so etwas wie Scham. Ich genierte mich, weil ich mich ausgestellt fühlte. Und ich fühlte mich ausgestellt, weil ich in dieser doch sehr belebten Halle als Einziger im Begriff stand, ins Wasser zu steigen. Das stempelte mich quasi zum Aussenseiter. Die Initiation stand mir noch bevor. Alle andern waren schon drin oder noch unter der Dusche. Oder sie waren wieder draussen und genossen den Rückblick auf diese andere Welt, die Wasserwelt. Nur ich stand am Rand, auf der Schwelle, auf der Kippe. Also los, sagte ich mir. Vor mir befand sich das tumultuarisch belebte Bassin, der Badelärm umbrauste mich, wie wenn ich schon mittendrin wäre. Ich ergriff die Einstiegsleiter: ich hatte nun etwas in der Hand, das mich sicher ins Wasser leiten konnte. Das Wasser war nicht kalt, nicht warm, die Temperatur lag empfindungsmässig in jenem Mittelbereich, den man mit einem Achselzucken registriert. Mein Körper tropfte gleichgültig, die Beine waren schon drin und sahen nun merkwürdig geknickt aus, eine optische Täuschung, die mir drastisch vor Augen führte, wie wenig auf die Augen Verlass ist.

 

Dann geschah es. Ich weiss nicht, wie es geschah. Aber es geschah. Ich tauchte ein. Aaah... Das Wasser, es kitzelte. Die Füsse gingen auf Tauchstation, entglitten in das schummrige Blau. Ich war im Zweimeterbereich, der häufig und mit grossem Körpereinsatz durchschwommen wurde. In unregelmässigen Abständen schlug mir das Wasser entgegen wie eine Ohrfeige aus Gelatine. Ich legte mich quer, stach hinüber zu den Startpositionen unterhalb der Sprungrampen und versuchte mich in den Betrieb der hin und her kraulenden Leiber einzugliedern. Ein bisschen Hundeschwumm - dann ging’s endlich auf die Bahn hinaus. Nach ein paar technisch einwandfreien Arm- und Beinzügen, mit denen ich mich als Nicht-Nicht-Schwimmer auswies, drehte ich mich auf den Rücken und sah zur aufgebrochenen Decke hoch. Das Chlor, vermischt mit Wasserdampf, hatte beachtliche Löcher in die Decke gefressen. Zwischen verrosteten Armierungsstangen schimmerte da und dort ein Stück Himmel hindurch. Ich drehte mich auf den Bauch zurück. Schwimmend versuchte ich, Arme und Beine möglichst nah bei mir zu behalten: als Neueinsteiger fühlte ich mich noch ein bisschen unsicher. Ich fürchtete einen Zusammenstoss. Auch in der Gegenrichtung wurde eifrig geschwommen, das Hin und Her war generell sehr unübersichtlich. Ich machte mich so dünn und klein wie möglich und konnte doch nicht verhindern, dass ich diesem oder jenem Schwimmer in die Quere kam - oder er mir. Diejenigen, die mit technisch anspruchsvoller Schwimmtechnik das Wasser durchpflügten, waren gleichzeitg auch die Rücksichtslosesten. Der Platz war eng und zuweilen heftig umkämpft, wobei die Schwimmtechniker allein schon aufgrund ihrer Technik wie Kriegsschiffe alles niederwalzten, was ihnen vor den Bug kam. Die Bahnen waren nach Schulterbreite bemessen, und diese Breite stand zur Länge in keinem vernünftigen Verhältnis. Was die Wassertiefe angeht, so war die sehr unterschiedlich. Der Boden hatte eine Gefälle, ein sanftes, kinderfreundliches, man konnte, mehr oder weniger bequem, bis in den tiefsten Bereich hineinspazieren, das letzte Stück allerdings nur noch auf Zehenspitzen, bis man wirklich keinen Boden mehr unter den Füssen hatte. Aber solche Betrachtungen sind relativ. Sie hängen von der Körpergrösse ab. Ein Zwerg sieht das natürlich anders als ein Riese.

 

Eine Frau, die plötzlich neben mir auftauchte, sagte: das Wasser, blublub, sehen Sie, es steht mir bis hier. Sie deutete mit der flachen Hand an ihr Kinn. Ich verstand. Es ging mir ähnlich.

 

Bevor ich in den Duschraum zurückging, setzte ich mich auf den elektrisch geheizten Rost, der auf einem rauh verputzten Wandvorsprung um das halbe Schwimmbecken lief. Hier ruhte man sich aus, meditierte, rubbelte sich die Haare, sah dem eintönigen Schwimmbetrieb zu. Ich mochte diesen Sitzplatz. Ich schloss die Augen und lauschte: zwischen den gefliesten Wänden und Böden pulsierte das Spritzen, Platschen und Schwappen, als ob da eine Tinguely-Maschine liefe. Das Wasser machte ständig etwas von sich her. Es zischte aus Düsen, sprudelte an die Oberfläche, klatschte über die Ränder, sprang schluckend zurück, röchelte in den Schachtrillen, zerplatzte beim Einschlag eines Körpers, wurde aufgeworfen, in Wellen zerteilt, prallte schmatzend gegen Hindernisse und sich selbst, entfloh hüpfend und mit feuchtem Gekicher hierhin und dorthin und verlief sich plätschernd in den Weiten der endlosen Kachelung. Die Badeanstalt war ein Schall- und Wasserwellenzirkus, in dem immer etwas los war. Und trotzdem war das alles schrecklich eintönig, eine ewige Monotonie aus Geplätscher, Chlorgeruch und grünlichblauen Flecken. Auf einmal hatte ich genug. Ich packte das warme Badtuch, das ich vor meinem Einstieg ins Wasser auf den Rost gelegt hatte, und ging federnden Schritts in die Duschräume zurück. Mit der inzwischen getrockneten Badehose wieder unter die Dusche zu stehen, machte mir eigentlich gar nicht so viel aus. Ich tat es gerne. Es war erfrischend.

 

 

2010