Der mutmasslich richtige Weg

 

Der Himmel ist grau. Wässrige, fladenförmige Schneeflocken, die nirgends haften bleiben, durcheilen die Luft. Reutler hustet. Wir stapfen vorwärts, der Weg läuft schnurgerade auf den Bahndamm zu, knickt ab und folgt den Schienen bis zu einem signalisierten Übergang. Hier bleibt Reutler stehen. Auf dem Gehweg auf der andern Seite liegt eine volle Ladung Kuhdreck. Reutler macht mich darauf aufmerksam. Wir wechseln die Seite, umgehen den Kuhdreck und kommen auf einen Gehweg, der in ein kleines, von schlammigen Ackerparzellen umgebenes Dorf führt. Reutler steuert eine Beiz an. Er versucht es im Weissen Mutz. Aber dort ist geschlossen. Auch der Graue Lutz ist geschlossen. Anschliessend versuchen wir es noch im Blauen Stutz, der einzigen Beiz am Dorfplatz, aber der Blaue Stutz ist überfüllt, und Reutler will nicht in eine Beiz hineinsitzen, die überfüllt ist. Was machen wir jetzt? fragt er. Wir gehen in Richtung Bahnhof, kehren also um, umgehen abermals den Kuhdreck und und queren nochmals die Bahnlinie. Es regnet jetzt stark, dazu weht ein Wind, der uns eiskalt in die Knochen fährt. Eine löcherige Strasse, wohl nur für Land- und Baumaschinen gemacht, führt durch ein Neubauquartier, führt weiter an geknickten oder krummen, mit Drahtseilen umwickelten Bäumchen vorüber und bringt uns schliesslich auf eine Viehweide hinaus. Wir schwingen uns über ein Kuhgatter. Bei einem weiteren Kuhgatter machen wir uns die Mühe, es zu entriegeln und wieder zu verriegeln. Über eine flache Riedlandschaft blicken wir hinüber ins Nachbardorf. Bei der Aluminiumfabrik Dähring AG kreuzen wir die Hauptstrasse und lenken unsere Schritte den Häusern zu. Wir platschen in einem Dreck, der stark verflüssigt aus Misthaufen rinnt. Reutler hält sich die Nase zu. Ich rufe: Vorsicht! Die flatternd aufgeplusterte Pelerine eines Velofahrers klatscht uns gegen die Wangen. Reutler flucht ihm hinterher. Hueregopferdamminonemol! Die Aussicht auf eine warme Suppe stellt seine gute Stimmung schnell wieder her. Zum Glück sind wir Kosmopoliten, sagt Reutler, die Welt ist uns geläufig. Überall, wo wir hinkommen, sind wir zu Hause. Kommen wir in ein Dorf, finden wir dort gewiss auch bald schon eine Beiz, und in dieser Beiz sind wir dann zu Hause. Das Restaurant Kreuz ist dann allerdings geschlossen, was uns keine andere Wahl lässt, als weiterzugehen. Wir versuchen es im Kornkeller, aber der Kornkeller wird gerade umgebaut. Die Handwerker schicken uns ins Lindli, aber das Lindli öffnet erst in einer Stunde. Am besten gehen wir ins andere Dorf zurück, schlägt Reutler vor. Vielleicht hat sich die überfüllte Beiz inzwischen geleert. Also kehren wir um. Aber irgendwie verfehlen wir die richtige Abzweigung, der Regen trübt uns die Sicht, und bald schon gehen wir auf der westlichen Talseite eine Wiesenmulde hinauf, die sich mit ihren Weiden und Gehöften zum Berggrat hinaufschwingt. Dort setzen wir den Fussmarsch fast ebenhin fort und treten kurze Zeit später auf eine von rechts heraufkommende Strasse. Ihr folgen wir weiter bergan. Wir zweigen in einen Waldweg ab, dem wir entlanggehen, ohne einen der vielen dubios im Unterholz verschwindenen Pfade zu benützen, die sich als Abkürzungen ausgeben. Bald weist eine gelbe Tafel seitwärts zur Geländekante oberhalb eines Dorfs, das uns irgendwie bekannt vorkommt, obwohl aus dieser Entfernung fast jedes Dorf gleich aussieht. Wir gehen weiter, immer weiter in die mutmasslich richtige Richtung. Der Weg ist schmal und bis zum Gipfel des Waldbergs meist steinig und wurzelig. Bei einer Sitzbank haben wir einen trüb verschleierten Tiefblick auf ein Neubauquartier. Der Regen klatscht uns schwer auf die Köpfe. Wir stehen an der Kante einer Fluh. Reutler lehnt sich über das Geländer. Wenn das Feld drei Kilometer nördlich von hier bebaut sein sollte, überlegt er, müssen wir links oder rechts davon ausweichen und den Waldweg anpeilen. Ich sage, das sei zu umständlich. Ich gebe Reutler zu bedenken, dass ich müde bin und durchnässt. Ich schlage eine andere Route vor. Schliesslich entscheiden wir uns für den Südweg. Aber ist der Südweg nicht ein Stolperweg? gibt Reutler zu bedenken. Nein, sage ich, nicht unbedingt. Das hängt davon ab, wie du gehst... Es stellt sich heraus, dass der Südweg gar nicht so garstig ist. Man hat ihn erst kürzlich neu hergerichtet. Und man hat ihn sogar erweitert, so dass wir viel zu weit nach Süden gelangen, auf die Balmet Höhi. Nachdem wir auf der Balmet Höhi die Aussicht betrachtet haben, gehen wir weiter, immer weiter in die mutmasslich richtige Richtung. Auf dem Bösner Sattel, einer vielfachen Kreuzung, biegen wir nach links ab. Gleich heisst es aufpassen, sagt Reutler, wenige Meter hinter der Kuhschranke geht’s rechts in den Wald. Erinnere mich dran, wenn wir dort sind... Ich weiss, was Reutler sagen will. Verpassen wir diese Abzweigung, so landen wir drunten in Hölz, einer Holzhauerkolonie. Dort wären wir verloren, zumindest ist bekannt, dass im alten Sägewerk von Hölz schon Menschen verschwunden sind. Wir gehen also hinter der Schranke rechts in den Wald hinein. An der nächsten Kreuzung überschreiten wir die von Hölz im Bogen heraufkommende Strasse. Nun geht es rechts an einem Gemäuer vorbei und quer über einen Steilhang sowie über den Auslauf einer verrosteten Sprungschanze. Gleich darauf steigen wir den Weg halbrechts hinauf und am Hang einer Pferdekoppel über dem Kleinbachtal empor. Das Kleinbachtal kenne ich noch gut, erst vorigen Sommer bin ich hier durchgekommen, allerdings bei gutem Wetter und in trockener Kleidung. Der Weg ist sehr gepflegt und gut begehbar. Der Aufsteig dauert etwa zehn Minuten, dann machen wir eine Verschnaufspause. Wir setzen uns auf eine Bank und geniessen die Aussicht. Der Regen klatscht uns schwer auf die Köpfe. Reutler flucht. Wir haben dieselbe Aussicht vor uns, die wir schon einmal genossen haben, nur dass sie hier um etwa dreissig Grad verschoben ist. Immerhin stimmt die Richtung, sagt Reutler, es könnte am Ende noch hinhauen, verdammt nochmal. Nachdem wir uns ausgeruht haben, beginnt ein hübscher, schmaler Weg, der zunächst kurz ansteigt, um dann auf dem Kamm nach links abzubiegen. Hier folgen wir einer alten Grenzmarkierung. Nur das Rauschen des Regens in den Bäumen und das Klackern der Eichelhäher ist zu hören. Zehn Minuten geht der Weg nahezu eben, dann steigt er an zu einem Holzabfuhrweg. Kurz bevor dieser Weg, Reutler nennt ihn Holzerweg, aber es ist kein Holzerweg, es ist ein Holzabfuhrweg, Reutler irrt sich oder beharrt wider besseres Wissen auf einem Irrtum, weil er sein Gesicht nicht verlieren möchte, wie oft habe ich ihn schon korrigiert, wenn er dieses Wort in den Mund genommen hat, aber vergeblich, Reutler sagt Holzerweg, Holzerweg, Holzerweg, Reutler sagt Holzerweg, und niemand kann es ihm verbieten, niemand kommt gegen die Sturheit an, mit der Reutler dieses falsche Wort immer wieder in Gebrauch nimmt und rechthaberisch gegen jeden Einwand verteidigt, ich kann ihm noch so oft erklären, dass ein Weg, auf dem auf Rollen, Schienen oder sonstwie Schlaghoz transportiert wird, prinzipiell Holzabfuhrweg genannt wird, und dass jede andere Benennung falsch ist, sprachwidrig, Reutler ist nicht belehrbar, ein dilldappiger Dickschädel vom Lande, nicht abzubringen von seinerm Irrtum, so verhunzt er weiterhin die Sprache mit seinem Holzerweg, den er gegen jede Kritik verteidigt, es müsse Holzerweg heissen, sagt er, jede andere Benennung sei falsch, und auch diesmal wieder fordert er mich heraus und versucht mich ins Unrecht zu setzen mit seinem Holzerweg, und auch diesmal wieder sage ich: nein, Reutler, Holzerweg ist falsch, Holzerweg ist höchstwahrscheinlich ein Wort, das du erfunden hast, und selbst wenn du es nicht erfunden hast, so ist es doch falsch, eine Verballhornung, wahrscheinlich von einem Wort abgeleitet, an das du dich nicht mehr erinnern kannst, vielleicht sogar von Holzabfuhrweg, solche Streiche spielt einem das Gedächtnis manchmal, das Wortgedächtnis hat seine Launen und Tücken, es verballhornt manchmal die Wörter, kein Grund, sich aufzuregen und sich stur zu stellen, die unauswischbare Tatsache, dass wir es hier mit einem Holzabfuhrweg und nicht mit einem Holzerweg zu tun haben, stösst bei dir auf unverständlichen Widerstand, dabei könnte doch alles so leicht sein, wir könnten uns ganz einvernehmlich über diesen Weg verständigen, ihn sozusagen als unsern gemeinsamen Weg anschauen... Doch Reutler nimmt das Friedensangebot nicht an. Er widerspricht mir rotzig und trotzig, womit ich natürlich gerechnet habe, sagt: nein, verdammt, nein, Holzabfuhrweg, wie das nur schon klingt, ein Holzwort, das wie ein Holzbein klappert. Ein Krüppelwort. Es klingt falsch.... Mag sein, sage ich, aber kein Mensch versteht dich, wenn du Holzerweg sagst, du begibst dich damit ins Abseits, während ich mit meinem Holzabfuhrweg den richtigen Weg einschlage, insofern ich damit weitherum auf Verständnis und die Bereitschaft zur Kommunikation stosse. Ausser bei dir, was ich sehr bedaure. Wenn du Holzerweg sagst, denken die Leute, du seist ein Idiot... Was? blafft Reutler. Was sagst du da? Ich sei ein Idiot? - Nein, sage ich, das habe ich nicht gesagt. Aber ich sage, dass Holzerweg eine idiotische Bezeichnung ist für etwas, das eigentlich Holzabfuhrweg heisst... In dieser Sache, sagt Reutler, werden wir uns wohl niemals einig... Und Reutler hat recht. In diesem Punkt hat er recht. Wir sollten den Streit jetzt beilegen. Schliesslich sind wir noch immer gemeinsam damit beschäftigt, den richtigen Weg zu finden. Noch immer mutmassen und werweissen wir, welches wohl der richtige Weg ist, und in diesem Punkt sind wir auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Wollen wir weiterkommen, müssen wir unsere Entscheidungen gemeinsam treffen. - Kurz bevor also dieser Holzabfuhrweg, um hier die korrekte Bezeichnung zu verwenden, die ja auch die gebräuchlichste Bezeichnung für dieser Art von Weg ist, egal, was Reutler dazu meint, bevor also dieser Holzabfuhrweg in eine Autostrasse mündet, zweigen wir nach links auf einen Waldpfad ab, einen markierten Wanderweg, der mit gerundeten Steinen belegt ist. Wir queren den Wald und stehen bereits nach fünfzig Metern an einer Autostrasse, wobei wir nicht ganz sicher sind, ob es die gleiche Strasse ist, die wir vorhin schon überquert haben. Wir überqueren sie, weichen nach rechts auf einen Feldweg aus, der über eine Wiese ansteigt in Richtung Wald und dem Waldrand entlang, mässig steigend bis zum Dangenberg, wo ein dreiarmiger Wegweiser steht. Für ein gutes Wegstück folgen wir der Richtung, die der Wegweiser als die Richtung anzeigt, in der das Dorf liegt, in das wir gehen wollen, und umgehen das Käferloch, ein ovales, schmales, enges, tiefes, triefendes Tal zu unserer Rechten, bevor wir uns vom Wanderweg trennen, der in eine völlig falsche Richtung zu führen scheint, und auf eine Baustelle treffen. Hier wird etwas gebaut, scherzt Reutler, vielleicht eine Werft. An der Baustelle vorbei, die tatsächlich unter Wasser steht, gehen wir weiter unter Bäumen einer schmalen Gehspur entlang. Beim Austritt aus dem Wald sehen wir die Serpentinen einer Autostrasse. Wir stellen fest, dass wir diese Strasse schon zweimal überquert haben. Reutler flucht, er kann es nicht glauben. Wir gehen geradeaus in den Challberger Wald, an einer Waldhütte und einem wuchtigen Bunker vorbei, kurz steigend, dann bergab an den Waldrand, über eine Wiese an den gegenüberliegenden Wald, wo uns ein Förster begegnet. Bärtig und freundlich blickt er uns entgegen. Reutler fragt ihn, wo die nächste Beiz sei. Der Förster lacht. Da lang, sagt er, immer da lang. Mit einer roten, dickfingerigen, schwieligen Pranke, die ein bisschen an eine Krebsschere erinnert, deutet er in die Richtung, in die wir ohnehin gehen wollen. Wir glauben uns schon fast im Trockenen. Zu unserer Verwunderung kommen wir wieder zum Käferloch. Wir merken, dass wir an diesem Punkt die Abzweigung zum Dorf verpasst haben. Diesmal verpassen wir sie nicht. Weil es anscheinend doch der richtige Weg ist, folgen wir dem Wanderweg, den wir fälschlicherweise für den falschen gehalten haben, dann aber wenden wir uns nach rechts, wo uns ein anderer Wanderweg erheblichen Zeitgewinn verspricht, gehen, an einem Forsthaus vorbei, zuerst kurz bergan am Waldrand, im Wald dann leicht abwärts und kurz darauf ebenhin an einem offenen Hang mit Blick in ein schrundiges Tal, bis wir bei einem Rastplatz mit Aussichtsbänken und Tischen wieder in den Wald eintreten und auf die regengepeitschte Nordseite des Geländes hinüberwechseln. Auf einem Fahrweg, der rasch an Höhe gewinnt, wandern wir weiter. Der Regen macht uns Beine, wir gehen schneller, fast rennend. Nach etwa zehn Minuten erreichen wir das Gipfelplateau. Hier stossen wir auf einen Abfallkübel und einen Weg, der rechts abbiegt. Federnden Schrittes wandern wir geradeaus durch ein Föhrenwäldchen, bewältigen einen letzten kurzen Anstieg und erreichen schliesslich den höchsten Punkt am südlichen Ende des Plateaus. Hier sehen wir unendliche Wälder und tiefe Täler. Der Weg geht weiter unter Tannen und verliert sich fast im Schlamm, den Reutler lauthals verflucht. Er kann es nicht ausstehen, wenn ein Weg schlecht gewartet ist, er nimmt so etwas immer persönlich. Dann aber kommen wir aus dem Matsch heraus, und der Pfad geht steil und steinig hinunter auf ein Strässchen, das uns zu einer Ebene hinüberleitet. Während das Strässchen bald rechts abzweigt, steuern wir auf die wappengeschmücke Steinplatte zu, die eine Wegkreuzung markiert. Nach links öffnet sich der Blick über das untere Obertal. Die Landschaft ist schmierig und nass. Die Wolken hängen tief, auch schief hängen sie, hängend treiben sie vorüber, vermischen sich. Es regnet graupelig in die zerzausten Bäume. Wir gehen über eine Wiese, die mit winzigen Sumpfpilzen bestanden ist. Linkerhand im Talkessel sehen wir Häuser und Kleinfabriken. Es erscheint uns ungewiss, ob es das Dorf ist, das wir erreichen wollen, aber nach einigen Schritten bergab einigen wir uns darauf, dass es das richtige Dorf ist. Sein muss. Es muss das richtige Dorf sein! Einmal mehr bestätigen wir uns gegenseitig, dass wir die mutmasslich richtige Richtung eingeschlagen haben. Kaum sind wir im Dorf, rennen wir zum Dorfplatz und verbrauchen dabei unsere ganze Restenergie. Wie die Läufer eines Schubkarrenrennens, die mit ungelenken Manövern Hindernissen ausweichen, hasten wir um parkierte Autos herum und stolpern über Trottoirränder. Keuchend erreichen wir das Ziel. Nein, es ist nicht das Ziel, das wir erwartet haben. Es ist nicht der Blaue Stutz. Wir sind im falschen Dorf. Einigermassen bestürzt stellen wir fest, dass die Häuser um den Dorfplatz herum ganz anders angeordnet sind als in dem Dorf, in dem wir zuerst gewesen sind. Doch halb so schlimm. Eine Beiz gibt es auch hier. Und sie hat sogar offen! An einer borstigen Fussmatte scharren wir von unsern Schuhen den gröbsten Dreck ab. Dann ziehen wir die plitschnassen Jacken aus. Wir haben gleich nochmals Glück. Es sind noch zwei Fensterplätze frei. Zwischen den Gardinen sehen wir den verregneten Parkplatz. Reutler bestellt sich eine Suppe, und gemeinsam bestellen wir uns eine Flasche Roten. Eine schmächtige junge Frau bringt uns das Gewünschte auf einem runden Serviertablett. Reutler nimmt die Suppenschüssel vor den Mund und bläst mit dicken Backen in sie hinein. Ich nippe an meinem Weinglas, während Reutler zu löffeln anfängt. Langsam wird uns warm, die Kleider dampfen, wir sitzen direkt neben dem voll aufgedrehten Heizkörper. Wie auch immer, murmelt Reutler, als er sich mit der Seviette den Mund abwischt. Es heisst Holzerweg.

 

2004