Die Frau vom Mond

 

Nennen wir sie Dora, ich glaube, der Name trügt nicht. Dora ist ein Name, der das rundliche, klumpige, kurios gezwungene, umständlich angepasste Wesen dieser Frau treffend zum Ausdruck bringt. Es ist übrigens ein kurzer, zum Rufen geeigneter, schlichter, nicht verhunzbarer Name, der viel zu selten vorkommt. Freilich, in dieser Geschichte kommt er vor, nachweislich sogar mehrmals. Darüber wäre noch einiges zu sagen, doch die Geschichte mit Dora hat eigentlich schon begonnen, und es wäre jetzt an der Zeit, mit dem Erzählen ein bisschen vorwärts zu machen. Ihren Anfang nimmt diese Geschichte dort, wo die meisten Geschichten anfangen und wo sie wohl auch meistens wieder aufhören: im Nahbereich des Häuslichen. Ein Mann steht am offenen Fenster und rasiert sich, in der einen Hand ein Messer, in der anderen ein Handspiegel. Das könnte doch sein, ich halte es durchaus für möglich, dass so etwas hin und wieder vorkommt, eine Rasur am offenen Fenster, im Nahbereich des Häuslichen, das kommt vor und erklärt sich quasi von selbst, ist also nichts Aussergewöhnliches. Der Mann, sagen wir dreiundreissig Jahre alt, Beruf unbekannt, vielleicht auch unwichtig, der Mann heisst Birk oder Bürki, steht am Fenster seines tannengrün gestrichenen Hauses am Dorfrand und rasiert sich. Als er eben dabei ist, seine Rasur zu beenden, rennt Dora in einem Zustand, der sich vielleicht noch am ehesten als unschicklich charakterisieren lässt, durch den hauseigenen Zwetschgenhain. Während der Mann sich den Schaum abkratzt, sieht er im Spiegel nicht nur sein verkniffenes, in die Länge gezogenes Gesicht mit den freigeschabten Streifen im Schaum, sondern, schräg hereinragend und mit Sonnenlicht gepudert, auch ein Stück des Zwetschgenhains, ein kleines Stück nur, gerade noch sichtbar. Wie auf einer verwackelten Photographie rennt dort Dora vorüber. Sie ist splitternackt. Birk oder Bürki dreht sich fluchend um. Er hat sich in die Wange geschnitten. Als er sich aus dem Fenster beugt, blutige Flocken wegschabend, sieht er Dora auf einem schwankenden Bäumchen, einem Zwetschgenbäumchen, und zwei Männer, mit Hut, Regenschirm, Mantel und weissem Brustlatz, treten oder trampeln auf sie zu, treten oder trampeln auf das Zwetschgenbäumchen zu, auf dem sich Dora vor diesen Männern in Sicherheit gebracht hat. Birk oder Bürki beobachtet das mit einiger Verwunderung. Dicke, zeitig gereifte Zwetschgen plumpsen herab wie Steine. Das Bäumchen biegt sich und schwankt, als Dora darin nach Halt sucht. Die Männer schreien, und Dora schreit zurück. Sackerlot! schreit sie. Sackerlot! Das Bäumchen krümmt sich fast auf den Boden herunter und schnellt wieder nach oben zurück, und dies wiederholt sich schwindelerregend schnell. Schwindelerregend vor allem für Dora. Dora, festgekeilt in einer Astgabel, halb in der Luft hängend, halb am Baum klebend, sitzt sozusagen in der Klemme. Die Männer tun nichts, um das Bäumchen zu bewegen, die Hände behalten sie bei sich. Es ist Dora, die das Bäumchen zum Schwingen bringt. Durch ihre Bewegungen erzeugt sie nicht nur Schwingungen, sondern lockert auch ständig wieder die Griffe, mit denen sie sich festklammert. Sie gefährdet sich doppelt. Jeden Moment könnte sie den Halt verlieren, durch das Astwerk brechen und kopfvoran herunterpurzeln, es fehlt gar nicht mehr so viel. Die Männer lassen das geschehen. Sie machen es sich einfach. Schreiend versuchen sie, Dora in Panik zu versetzen. Den Rest erledigt sie selbst. Diese Zwetschge, denkt Birk oder Bürki, die schüttelt sich ja selber vom Ast. Er macht das Fenster zu. Er hat genug gesehen. Eilig wäscht er sich das Gesicht und klebt ein Pflaster auf die Schnittwunde. Danach holt er die Zeitung aus dem Briefkasten. Aus der Zeitung erfährt er nichts, was ihm Aufschluss geben könnte über den Vorfall in seinem Garten. Er muss sich das schon selber angucken. Aus der Nähe diesmal. Er geht hinaus, in den leichten Wind dieses Vormittags: die Eindringlinge sind verschwunden, was Birk oder Bürki ein wenig erleichtert. Dass auch Dora verschwunden ist, nimmt er mit einem gewissen Bedauern zur Kenntnis. Er untersucht die Fusspuren, das niedergedrückte Gras, bückt sich nach den heruntergefallenen Zwetschgen, prüft den Fruchtbestand. Die Zwetschgen, die er aufliest, sind reif. Er legt sie sorgsam in ein Körbchen. Dann nimmt er eine Leiter, eine Handleiter, die man an den Ästen ganz einfach einhaken kann, und geht von Stamm zu Stamm, nimmt die üblichen Untersuchungen vor, schaut den kleinen empfindlichen Bäumchen in die Rachenhöhlen und unter die Achseln. Auf der Rinde jenes bedauernswerten, weil arg beschädigten Bäumchens, das unter Doras Gewicht beinahe zerborsten wäre, findet sich eine dünne Schicht Fettschminke. An einem Strunk, ein paar Schritte weiter südlich, entdeckt er weissen Porling. Während Birk oder Bürki noch damit beschäftigt ist, den Porling zu untersuchen, macht der Himmel ganz plötzlich zu. Dunkle Schleiher wehen herab, ein Platzregen, von launischen Winden zerrissen, deckt den Garten unter sich zu. Dann reissen die Wolken wieder auf, die Sonne schiebt sich hervor, und alles funkelt und blendet in schneidender Frische. Birk oder Bürki schüttelt sich die Nässe aus den Haaren, dreht die Finger in den Ohren, bis das Wasser aus den Gehörgängen schiesst. Dann stapft er zum Gartenhag, postiert sich dort auf einem Schemel, den er normalerweise für Gymnastikübungen gebraucht, und späht nach den Männern aus, die in seinen Garten eingedrungen sind. In einiger Entfernung, am Südosthang des Lätten, rennen sie aufwärts über die Wiese. Geduckt hasten sie dahin, rabenschwarz gekleidet, vielleicht Referenten aus dem theologischen Seminar, vielleicht Kaminfeger. Am Rand einer Gipsgrube sind sie durch die Büsche gebrochen und jagen nun in grossen ungeschickten Sprüngen den Hang hinauf zum Wald. Ihr Anblick ist Birk oder Bürki ein Graus: das hastige Vorwärtszuckeln, das schief geduckte Rennen über Ackerfurchen und Grashügel, das schiefbeinige Hüpfen und Herumtollen mit den zurückfliegenden Armen, den wehenden schwarzen Rockschössen, den wallenden Mähnen, das alles flösst ihm Widerwillen ein. Unfähig, seinen Blick woandershin zu lenken, verdeckt er die Männer mit dem Daumen, ein Trick, mit dem sich jedes Übel aus der Welt schaffen lässt. Man deckt ganz einfach den Teil, den man verabscheut, mit dem Daumen ab, und schon hat man wieder die Welt, die einem behagt. Kurze Zeit später, Birk oder Bürki sieht das schon nicht mehr, haben sie den Wald erreicht und verlieren sich wie Rauch oder Dunst in der grauschwarz schraffierten Wirrnis aus Tannen und Buchen. Im Gefühl einer erledigten Aufgabe steigt Birk oder Bürki in seine Wohnung hinauf. Er wäscht sich grünlich - nein, ich meine nicht grünlich, ich meine gründlich, er wäscht sich gründlich die Hände. Es überrascht ihn keineswegs, dass ihm jemand beim Händewaschen in den Nacken stupst. Aha, sagt er. Wen haben wir denn da? Er dreht sich langsam um, die Hände im Handtuch. Dora trägt ein Blümchenkleid mit Schlitzärmeln, das sie wahrscheinlich im letzten Sommerausverkauf gekauft hat. Hier in seiner Wohnung, zwischen den geblümten Tapeten, kommt ihm das Kleid beinahe normal vor. Wie nett sie darin aussieht! Und doch auch wie komisch! Sie tänzelt vor seinen skeptischen Augen her durch die Stube und ins Schlafzimmer. Sie setzt sich aufs Bett, glucksend, Rauch vor dem Mund, eine Zigarette zwischen den Fingern. Sie raucht? Ja, das will uns bekannt vorkommen. Sie raucht tatsächlich. Sie mustert ihre klumpigen Hände, die kurzen stummligen Finger mit der immer geröteten Haut. Dann hebt sie das Blümchenkleid an der Hüfte etwas an und kratzt sich am Bein. Und währenddessen verqualmt sie in aller Seelenruhe das Schlafzimmer. Dora, denkt Birk oder Bürki, sie heisst Dora. Den Namen haben wir ihm eingeflüstert, damit er seine Verlegenheit benennen und bannen kann. Dora, denkt Birk oder Bürki, hat sich bei mir einquartiert, um es mir leichter zu machen, sie kennenzulernen. Ich habe gewusst, dass es auf so etwas hinauslaufen würde: zuerst rennt sie nackt durch meinen Garten, und dann erstattet mir diese Frau auch noch einen sogenannten Damenbesuch und erscheint für diesen Anlass in einem ausgesuchten Blümchenkleid, das von der Tapete in meiner Wohnung kaum zu unterscheiden ist. Wenn das nicht etwas gar zu viele Zufälle auf einem Haufen sind! Und während er diese Frau betrachtet, denkt er: da ist sie also, macht auf freundlich und lieb, ist reizend auf hilflose Art, ist tapsig, erscheint wie zu einer Anprobe, einem Vorsingen, setzt sich aus und will beschützt sein. Ja, er soll sie beschützen, für sie da sein in der Bedrängnis, gar keine Frage, sie hat ihn beschlagnahmt, und dazu auch noch sein Bett und seine Wohnung. Das hat sie gut gemacht. Sie kratzt sich am Bein. Wie unschuldig, wie verletzlich das wirkt! So schutzbedürftig! Birk oder Bürki fühlt einen Klumpen im Hals. Dora redet viel, auch über die Männer, die sie in die Enge und auf das Bäumchen getrieben haben, die Krähenmänner, die Dunkelmänner, die Dunkel-Dürren und wie sie sonst noch heissen mögen. Dora nennt sie immer wieder anders. Dora erzählt viel, aber nichts Konkretes. Das, worüber sie sich auslässt, verschwimmt in vagen Andeutungen. Manchmal stockt sie bei einem Wort, das ihr nicht ganz geheuer ist, oder sie buchstabiert ein Wort vor- und rückwärts, wie um sicherzugehen, dass es auch genau das Wort ist, das sie meint. Birk oder Bürki blickt aus dem Fenster in die Dämmerung. Er sieht das Gras graugrün verschwimmen, sieht die krüppligen kleinen Bäume, die funkelnden Dörfer und die schwärzlichen Wälder und dahinter das Hügelland, und jenseits der Hügel die schimmernden Wolken im rötlichen Zwielicht. Birk oder Bürki öffnet seinen Halskragen. Dora ist eingeschlafen. Sie liegt auf dem Bett wie ein hingeworfenes Kleiderbündel. Was nun? Birk oder Bürki nimmt einen Stuhl, setzt sich neben das Bett und überlegt, wie er Dora schonend dazu bewegen könnte, ihm ein Stücklein des Bettes zu überlassen. Er will sie ja nicht wecken. Nach allem, was sie durchgemacht hat, wäre es gemein, sie wegen einer solchen Lappalie aus dem Schlaf zu holen. Sie schläft doch so schön! Beim Betrachten ihres Schlafs fühlt er sich kaum noch in der Lage, aufrecht zu sitzen, ihr Schlaf greift auf ihn über und ergreift von ihm Besitz; eine lähmende Müdigkeit rieselt durch ihn hindurch, lässt seinen Kopf auf die Brust sinken. Doch nein, das darf nicht sein! Er rafft sich hoch, geht zum Fenster, betrachtet zum zweiten Mal an diesem Abend die Aussicht, das graugrün verschwimmende Gras, die krüppligen kleinen Bäume, die funkelnden Dörfer und die schwärzlichen Wälder und dahinter das Hügelland, und jenseits der Hügel die schimmernden Wolken im rötlichen Zwielicht. Ah, und der Mond ist auch schon aufgegangen, schrundig und weiss zieht er seine Bahn und macht das Dunkel leuchten. Birk oder Bürki wendet sich wieder dem Zimmer zu. Er hört ein Geräusch. Kerzengerade und wachsbleich steht Dora auf dem Bett, sie atmet ein und aus. Und auf einmal ihre Stimme, klar und deutlich wie eine Glocke: bin ich nicht vom Mond? Bin ich nicht vom Mond?

 

Birk oder Bürki schreckt hoch, als hätte ihn jemand mit einem spitzigen Finger in den Rücken gestupst. Verwundert stellt er fest, dass er noch immer auf seinem Stuhl sitzt. Er reibt sich die Augen. Nichts hat sich geändert, nichts. Er muss kurz eingenickt sein, als er Dora beim Schlafen zugesehen hat. Sie schläft noch immer. Doch jetzt will er wachbleiben, um auf sie aufzupassen. Sie schläft schlecht. Sie hat Träume, Alpträume. Sie runzelt die Stirn, wälzt sich herum auf dem knarrenden Bett. Manchmal richtet sie den Oberkörper jäh auf, flüstert etwas und sinkt wieder aufs Kissen zurück. Birk oder Bürki beobachtet das mit wachsendem Unbehagen. Er beginnt sich vor diesen Alpträumen zu fürchten. Die Aufführung des Schrecklichen findet sichtbar und unsichtbar hinter einem geheimnisvoll sich bauschenden Vorhang statt. Birk oder Bürki bekommt diese Aufführung nur so ungefähr mit, er sieht nicht, was da aufgeführt wird, sieht es nicht wirklich, nicht direkt, aber er bekommt gleichwohl mit, dass da etwas Schreckliches geschieht. Dora greift in die Luft, strampelt die Bettdecke auf den Boden. Das muss etwas Schlimmes sein, denkt Birk oder Bürki. Besser nicht hinsehen, besser wegsehen. Er schlurft in die Küche, um sich eine Portion Obstgrütze aufzuwärmen. Düster und endlos ist die Nacht. Niemals, so scheint es, ist eine Nacht so lang gewesen. Im Küchenfenster hinter dem Fliegengitter der kalte, käsige Mond, das Geraschel und Getuschel des Gartens, sonst nichts. Birk oder Bürki würzt die Grütze mit sehr viel Muskat, löffelt sie langsam in sich hinein, und als der Tag heraufdämmert, grau wie eine Wand, mit leichtem Sprühregen, schlurft er gähnend ins Schlafzimmer zurück, klatscht in die Hände und ruft: Zeit zum Aufstehen, schöne Asylantin! Nun, was sagt sie da? Lieber Himmel, sagt sie, ich muss eingeschlafen sein, wie peinlich! Bin ich lange fort gewesen? Birk oder Bürki klärt sie auf, erwähnt auch die Alpträume. Weißt du noch, was du geträumt hast? fragt er. Dora schaut ihn erschrocken an. Sie rafft die Bettdecke über sich zusammen, ihre Hände zittern. Nein, sagt sie, nein. Ich würde nur zu gern wissen, was du in meinem Bett geträumt hast, sagt Birk oder Bürki. Nein, sagt sie, nein, bitte nicht. Er, nun plötzlich fürsorglich, mit sanfter Stimme: wenn du’s mir erzählst, will ich dafür sorgen, dass du nie mehr auf ein Zwetschgenbäumchen klettern musst. Als sie dann aber den Mond erwähnt und die Schwärze, die ihn hie und da verschlingt, die Schwärze des Weltalls, der absoluten Lichtlosigkeit, da bekommt es Birk oder Bürki wieder mit der Angst zu tun. Er wirft sich zu Boden und macht eine Rolle seitwärts unter das Bett.

 

2003