Die Party

 

Ich keuchte vom Treppensteigen. Mein Kopf war lebhaft durchblutet. Ich liess mich in einen Sessel plumpsen, schlug die Beine übereinander und fächelte mir mit einer hastig ergriffenen Zeitung Luft zu. Mein Stubentisch war wie immer voller Zeitungen. Die Gäste sassen bereits da. In meiner Abwesenheit waren sie gewaltsam in meine Wohnung eingedrungen. Sowohl die Sitzmöbel als auch das Getränkebüffet hatten sie in Besitz genommen. Mit Aperitifgläsern in den Händen und extra für diese Party gescheitelten oder doupierten Frisuren sassen sie mir gegenüber. Einige wenige lachten verlegen auf, murmelten eine Begrüssung. Ich meinerseits war unfähig, etwas zu sagen, da mir beim besten Willen nichts einfiel, womit ich meine Verspätung hätte entschuldigen können. Wie jemand, der das Formale schnell hinter sich haben möchte, nickte ich der Gästeschar kurz zu und legte die Zeitung wieder auf den Tisch. Meine Gäste konzentrierten sich auf ihre Getränke, das war taktvoll. Sie verschonten mich mit Fragen und Bemerkungen. Sie taten, als sähen sie über mein Zuspätkommen hinweg. Sie versuchten höflich zu sein. Mühsam unterdrückten sie ihren Unmut. Oder bildete ich mir diesen Unmut nur ein? Mochten sie mir nun böse sein oder nicht, es war doch immerhin ein Zeichen von Freundlichkeit, dass sie für mich einen Sessel freigelassen hatten. Das war nett von ihnen. Über die eingetretene Wohnungstür konnte ich hinwegsehen. Meine Gäste waren freundliche Menschen, sonst hätte ich sie gar nicht eingeladen. Meine Gäste, das waren sie wirklich, ich bluffe nicht, ich hatte sie eingeladen, um mit ihnen zusammen einen schönen Abend zu verbringen. Eine Einladung ist unter allen Umständen verbindlich, deshalb lag es mir fern, den Anwesenden einen Vorwurf zu machen. Ihre Anwesenheit hatte ich ja gewollt und gewünscht, ja ausdrücklich verlangt. Sogar schriftlich. Sie konnten ja nichts dafür, dass ich mich verspätet hatte. Meine Party hatte ohne mich begonnen, und dass ich als Letzter an meine eigene Party gekommen war und noch dazu völlig ausser Atem, war natürlich peinlich, kaum zu entschuldigen. Ein Gastgeber sollte für seine Gäste dasein, sie bewirten, unterhalten, mit ihnen Small Talk machen. Verständlich, dass meine Gäste, in Ermangelung des Gastgebers, gewaltsam in die verwaiste Wohnung eingedrungen waren. Es war das Beste, was sie hatten tun können. Meine Stube war die Party-Location, hier hatten sie sich versammelt, damit die Party abgehen konnte. Als meine Gäste hatten sie selbstverständlich das Recht gehabt, die abgeschlossene Wohnungstür mit Schultern, Fäusten und Füssen aufzustossen. Der Schaden war unerheblich, kein Fall für die Versicherung. Nur das Schloss war kaputt. Das konnte ich reparieren, keine Frage.

 

Puh, die Luft hier drinnen, sagte ich und merkte sogleich, dass ich laut gedacht hatte. Ich hatte tatsächlich Mühe, Luft zu bekommen, und jetzt war es heraus, ich hatte es verraten. Um meine Bemerkung nicht als die unbedachte Äusserung eines Blödians erscheinen zu lassen, der Selbstgespräche führt, deutete ich zum Fenster. Es war geschlossen. Die Gäste blickten mich an, dann blickten sie zum Fenster. Dann blickten sie wieder zu mir. Sie lächelten hilflos. Die Luft, sagte ich. Ich machte ein Gesicht, das niemand enträtseln konnte. Die Gäste sahen mich an, als hätte ich ihnen ein Rätsel gestellt, bei dem nicht einmal klar war, ob es als Rätsel überhaupt funktionierte. Das Rätsel war rätselhaft. Ja, fuhr ich fort, man mag sich fragen, warum ich hier über etwas so Selbstverständliches wie Luft spreche. Versteht sich Luft nicht von selbst? Ist sie nicht immer da? Unsichtbar? Raumfüllend? Beinahe geruchlos? Aber worauf will ich eigentlich hinaus? Etwa auf das Problem der Atemnot? Ist es das, worauf ich hinaus will? Leide ich unter - (ich seufzte) - Atemnot? Halb so schlimm. Das gibt sich. Womöglich gibt sich das sehr bald. Nur nicht ungeduldig werden. Geduld, Freunde, Geduld. Luft geht nie aus. Sie ist unerschöpflich. Ich schwieg. Alle schwiegen.

 

Es verging eine Weile, bis ich wieder etwas sagte. Luft! sagte ich. Es war, als hätte ich eine Schreckschusspistole abgefeuert. Die Gäste waren zusammengezuckt. Luft! wiederholte ich. Die Gäste glotzten mich an. Niemand schien auch nur im geringsten zu begreifen, was ich damit sagen wollte. Niemand erhob sich, um das Fenster zu öffnen.

 

Ich stemmte mich kopfschüttelnd aus meinem Sessel, wollte zum Fenster gehen. Doch Franz, den ich wahrscheinlich nur aus Gutmütigkeit eingeladen hatte, schnitt mir den Weg ab. Er hatte meinen Staubsauger aus dem Staubsaugerschrank geholt und schob nun den Staubsauger mit zackigen Bewegungen in der Stube hin und her, sodass man keinen Schritt mehr machen konnte. Ich stand wie verloren in meiner eigenen Stube. Zischend und surrend fuhr das Saugrohr zwischen die Stühle und Sessel. Die Gäste hoben die Füsse. Man war ein wenig missgestimmt, vor allem wegen des Lärms. Es war unmöglich, eine normale Unterhaltung zu führen. Deine Wohnung, schrie Franz in den Lärm des Staubsaugergebläses hinein, ist ein Dreckloch! Lass mich saubermachen! Gut, schrie ich zurück. Aber wenn du fertig bist, könnte ich dann vielleicht weitersprechen? Ich habe soeben über die Luft gesprochen... Was? schrie Franz. Wer ist ein Schuft? - Die Luft! schrie ich zurück. Die Gäste blickten mich an, dann blickten sie auf den hin und her springenden Staubsauger. Dann blickten sie wieder zu mir. Die Situation war wirklich sehr schwierig. In diesem Moment war ich gezwungen, sowohl Gastgeber als auch Krisenmanager zu sein. War diese Party noch zu retten? Warum hatte ich Franz bloss eingeladen? Franz wollte immer alles sauber haben, das hätte ich mir vor Augen halten müssen, als ich die Einladungen verschickte. Mit seinem Sauberkeitsfimmel hatte er sich bei seinen Freunden, Verwandten und Arbeitskollegen derart unbeliebt gemacht, dass ihm an Partys kein anderer Platz blieb als die Schandecke. Niemand mochte ihn. Er war die absolute Persona non grata. Franz, der Stimmungskiller, der Partyverderber. Der Staubsauger dröhnte auf einmal etwas stärker. Franz hatte die höchste Saugstufe eingestellt. Dies war für mich das Zeichen zum Einschreiten. Ich stürzte mich auf das Kabel und zog den Stecker aus der Dose. Sofort fiel das Staubsaugergedröhn in sich zusammen. Die Gäste blickten mich an, und Franz hielt noch das Saugrohr umklammert, mit dem er gerade unter den Stubentisch vorgedrungen war. So still war es, dass man die Zimmerpflanzen ihre Nährlösung schlürfen hörte. Also, sagte ich, auf dem Boden liegend, wo bin ich stehengeblieben?

 

 

2010