Die Waldkartierungskommission

 

 

In dem kleinen, üppigen Wälchen mitten im Talkessel, wo ich versehentlich eine Station zu früh aus dem Bus gestiegen war, hatten sich Ansammlungen kalter Luft gebildet. Es waren Kaltluftseen, die im Talgrund stagniert waren. Das eingedolte Wasser eines unterirdischen Baches rumpelte dumpf unter meinen Füssen. Ich setzte mich auf eine Bank und brachte meine Kleider in Ordnung. Sie waren patschnass. Aus den umliegenden Hügeln hatte der Regen jede Farbe herausgewaschen, sumpfiges Wiesland wölbte sich in den grauen Himmel. An den Hängen über mir erblickte ich das Dorf. Die Häuser klein wie Bauklötze. Die Strecke bis zur Station “Post” musste ich nun zu Fuss zurücklegen, weil ich mich beim Aussteigen vertan hatte. Meine Aktenmappe hatte ich vor mir auf dem Schoss. Ich öffnete sie und schaute nach, ob die Schreibblöcke Schaden gelitten hatten. Ich nahm sie heraus. Ja, sie hatten. Dass mir so etwas passieren musste! Mein Äusseres gab eine vage Andeutung davon, mit welcher Sorgfalt und Umsicht ich mich auf diese Reise vorbereitet hatte. Ich hatte meine Hosen extra gebügelt, hatte neue Jackenknöpfe angenäht, den gefütterten Halsschutz hochgeklappt und den Verschluss an meiner Aktenmappe zweimal einschnappen lassen. Das alles, um gegen jede Eventualität gewappnet zu sein. Und jetzt das! Zu früh aus dem Bus gestiegen und dann auch noch ein Platzregen.

 

Das Papier, das ich aus meiner Aktentasche nahm, pappte mit seinen aufeinander klebenden, schrumpligen Seiten zwischen meinen Fingern, ein Matsch aus Zellulose. Ich dachte nach. Bis zum Abend musste das wieder in Ordnung sein. Damit ich bei den Sitzungsgesprächen mitschreiben konnte. Der Titel des Aktuars war mir ja nicht einfach so gegeben, ich verdiente ihn mir mühevoll ab, bei jeder Sitzung aufs neue, und jedesmal galt es wieder alles oder nichts. Das Papier musste also innert nützlicher Frist wieder halbwegs trocken und geglättet sein, ohne Mitschreiben kein Protokoll. Es war mir ein ernsthaftes Anliegen, meine nicht sehr schwierige, ja eigentlich kinderleichte Aufgabe erwatungsgemäss zu erfüllen. Unter normalen Umständen wäre sie kaum eines Gedankens wert gewesen. Sie war leicht, man hätte sie ohne weiteres einem Primarschüler übetragen können. Was sicher ein Grund dafür war, dass man sie dem Jüngsten in der Kommission anvertraut hatte, also mir. Das Notieren von Gesprächen, die immer nach dem gleichen Schema ablaufen, Frage und Antwort, Zwischenbemerkungen und so weiter, mag eine unbedeutende Formsache sein, etwas, das dazugehört und automatisch mitläuft. Nichts Aufregendes jedenfalls. Da darf man ruhig die Nase darüber rümpfen. Aber einer muss es ja tun, einer muss in den sauren Apfel beissen, wobei dieser Apfel gar nicht so sauer ist, höchstens etwas fade. Wo kämen wir hin ohne Aktuar, der das gesprochene Wort für die Nachwelt festhält? Was aufgeschrieben ist, kann man verständlicherweise von sich wegschieben. Man kann es als entbehrlich betrachten. Durch Reinschrift hat man es ins reine gebracht. Man hat es schriftlich, schwarz auf weiss, und kann es in eine Aktenkladde tun. So unzuverlässig und flüchtig das gesprochene Wort auch ist: hat man es schriftlich festgehalten, ist nicht mehr an seiner Verlässlichkeit zu rütteln. Man kann es auf sich beruhen lassen, es guten Gewissens wegtun. Für den Fall, dass man es je wieder brauchen sollte, ist es ja noch da. Irgendwo. Auf lange Sicht ist auf nichts so Verlass wie auf ein sauberes Protokoll. Es überdauert die Zeit, es überlebt die Umgruppierungen innerhalb der Behörde, das Wischiwaschi der Dienststellen, die jährlichen Personalrochaden, es bleibt für ewig ein Bündel Papier mit Buchstaben drauf, und diese Buchstaben ändern sich nicht.

 

Mit diesen Gedanken schritt ich dem Dorf zu. Soweit ich sehen konnte, lief die Strasse über ein steiles Rutschgebiet und erreichte die ersten Häuser erst nach etlichen Windungen. Wäre der Boden trocken gewesen, hätte ich querfeldein über den Hang gehen können, aber das war nun leider nicht möglich. Auf dem lättenhaltigen, regendurchweichten Boden hätte ich meine Schuhe ruiniert. Ein rasch sich näherndes Motorengeräusch brachte mich zum Stehen. Ich erkannte diesen Motor, bevor ich das dazugehörige Auto sehen konnte. Es hatte seine Geschwindigkeit gedrosselt und fuhr im Tempo eines gemütlichen Rennsportlers dicht an mich heran. Es war ein Überlandwagen mit einer schmutzverkrusteten Haube und einer hin und her schwankenden Bordantenne. Hinter dem Steuer sass Künold, Pferdepfleger, Kanzleischreiber und stellvertretender Vizepräsident der Waldkartierungskommission. Er kurbelte das Wagenfenster herunter und grinste, während er zu mir hochsah, wie eine Hyäne. Holmiker, sagte er. Sie holen sich noch den Tod. Das ist ungesund.... Ich zuckte die Achseln. Jetzt übertreiben Sie mal nicht, beharrte Künold. Steigen Sie schon ein! Schliesslich tat ich es, ich quetschte mich in den vorderen Sitz neben Künold und gurtete mich an. Künold lachte. Es sind zweihundert Meter bis zum Dorf, höchstens dreihundert, gluckste er. Sie sind mir vielleicht einer. Sie mit Ihrem Gurtenobligatorium! Er trat aufs Gas, und der Wagen kurvte mit Allradantrieb ins Dorf hinauf. Ich war froh, dass ich mich angegurtet hatte.

 

Warum die Tagung der Kantonalen Waldkartierungskommission in diesem abgelegenen Weiler stattfand, weitab von den warmen Büroräumlichkeiten, die wir gewohnt waren, das konnte mir Künold nur andeutungsweise erklären. Das sei jetzt halt so eine Art erweiterte Sitzungsmodalität. Es war überdeutlich, dass er das nur sagte, um mich mit meiner Frage nicht völlig allein zu lassen. Eigentlich hätte ich erwarten dürfen, dass Künold, der seit Jahrzehnten im Vorstand sass, über die Dislokation Bescheid wusste. Doch was er mir erzählte, war so vage und allgemein, dass ich es mir auch selber hätte erzählen können. Indem man sich öffne für Neues, sagte Künold, verschaffe man sich ein gutes Gefühl. Künold brach in ein breites Lachen aus und trampelte mit den Füssen unter dem Tisch herum. Die Kantonale Waldkartierungskommission war also drauf und dran, sich neue Impulse zuzuführen. Das liess sich hören. Immerhin war das eine Erklärung. Auf beiden Seiten eines mit Topfpflanzen bestückten Gitters, das sich mitten durch die Gaststube zog, reihten sich viereckige Tische mit Wachsdecken und Gewürzständern. Es roch nach Aromat, nach schmuddligem Gemischtwarenladen, schwer und fettig wölkten Essensgerüche in den Raum hinein. Künold und ich hatten das Tagesmenü bestellt, mit Suppe. Die Gaststube war nahezu leer, zwei oder drei Einheimische sassen stumm vor ihren Biergläsern. Gemächlich und gleichmässig schluckten sie das Bier in sich hinein. Sie nickten mit den Köpfen wie gutmütige Roboter. Einer rülpste. Sie sahen uns an mit weissen Schaumschnäuzen. Jede sinnvolle Antwort auf deine Frage, sagte Künold, sollte mit einer ausführlichen Schilderung der ländlichen Versammlungslokale beginnen. Es ist doch schön hier, oder nicht? Ich nickte. Lamentieren hilft nicht, meinte Künold, nur ein entschlussfreudiges Aufkrempeln der Ärmel kann uns weiterbringen. Künold lachte. Wie von unsichtbaren Fäden gelenkt liess die Serviertochter beide Teller vor uns auf den Tisch niederschweben und huschte lautlos davon. Sie hatte Korksohlen an den Schuhen. Die Teller waren randvoll gefüllt. Künold band sich die Serviette um den Hals. Er verknotete sie doppelt. Dann beugte er sich vor und stocherte mit Messer und Gabel in dem zu einem kreisrunden Hügel aufgetürmten Kartoffelstockbrei. Ich schob meinen Stuhl ein wenig zurück und streckte mich nach dem Heizkörper aus. Die Blätter fühlten sich nicht mehr so weich an. Die Nässe war schon fast verdunstet. Das ist gut, sagte Künold mit vollem Mund, dass wir hier sind, es ist gut... Er schluckte den Kartoffelstockbrei hinunter, nahm einen Bissen Fleisch, käute. Es ist wie Ferien, fuhr er fort. Man schlägt sich den Bauch voll, trinkt, bespricht sich, Blaumachen würde ich das nennen, Ausspannen, die Arbeitsmoral renovieren, man tummelt sich auf der Gegenseite, wo es keinen Stress gibt. Keinen Stress? wandte ich ein. Also wenn das kein Stress ist! Wo sind denn unsere Kollegen? Sollten sie nicht schon längst hier sein?

 

Keine Sorge, lachte Künold, die lassen uns schon nicht hängen. Ja hallo, da sind sie ja...

 

Ich drehte mich erwartungsvoll zur Tür. Da war niemand. Wann fängt eigentlich die Sitzung offiziell an? wollte ich wissen. Künold lächelte nachsichtig. Natürlich dann, wenn alle da sind, sagte er. Ohne die andern eröffnen wir die Sitzung nicht. Oder meinen Sie, wir zwei könnten das alleine machen? Das geht nicht. Bescheiden wir uns. Wir zwei sind zwar schon ein ganzer Haufen, aber die Waldkartierungskommission sind wir nicht. Wir sind unvollständig, auch wenn ich Sie mitzähle, Holmiker. Rechnen Sie nach. Gebrauchen Sie Ihren Kopf. Eine Abstimmung zu zweit ergibt keine stabile Mehrheit. Der Zahl nach sind wir zu wenige. Mindestens Heintz, Schläfli und Ziegenberger müssten sich uns anschliessen, damit das Dutzend voll wird. Und zwar nicht nur zahlenmässig. Ohne die läuft gar nichts. Sie sind das Öl im Getriebe, sie erteilen sich selber das Wort, und das Wort, das sie führen, ist gewichtig: sie lassen es rumpeln, sie schieben es herum, jeder will mal drankommen und sich aufs grosse Podest stellen, um eine Rede zu schwingen. Es ist ein Ablauf, von dem die Kommission als Ganzes erheblich profitiert, finden Sie nicht? Was wäre eine Sitzung ohne Redner, die das Kollektiv in Schwung halten? Also warten wir ab. Wir haben genug zu essen, und wir haben gute Gespräche. Ich spreche, und Sie hören mir zu. Das Versammlungslokal ist reserviert. In einer Stunde sind alle beisammen, wetten? In der Zwischenzeit können wir uns ausruhen. Wir können ein Stück Kuchen bestellen. Oder die Papiere ordnen. Oder wie wär’s mit einem Nachtspaziergang? Wenn auch die Umgebung etwas traurig und öde ist, schaurig und nass, eine Waldkauzgegend eigentlich, so hat sie doch ihren Reiz, vor allem nachts, wenn man kaum die Hand vor Augen sieht.

 

Künold blickte auf seinen leergegessenen Teller. Die Suppe, sagte er, wo ist die Suppe? Da kam schon die Serviertochter herbeigehuscht, sichtlich nervös und kurzatmig. Die Finger in die Schürze gekrallt, knickste sie steif, aber das Gesicht blieb erhoben wie eine Hand, die den Verkehr regelt. Sie habe, stotterte sie, die Suppe komplett vergossen. Eh, vergessen, korrigierte sie sich. Künold kratzte sich am Kopf und blickte mich ratsuchend an. Ob sie uns die Suppe nachreichen dürfe? fragte die Serviertochter hastig. Sie wippte auf ihren Korksohlen vor und zurück. Künold winkte ab. Ihm stand der Sinn jetzt nicht nach Suppe. Er wollte hinaus in die Nacht. Er wollte sich die Füsse vertreten. Holmiker, fragte er. Was meinen Sie? Wie wär’s mit einem Nachtspaziergang?

 

 

 

2003