Gundelmanns Bergbesteigung

 

Was Gundelmann vom Fenster seines Zimmers aus sehen konnte, war ein Waldrand am unteren Almrand mit schlanken spitzigen Tannen. Zwischen den wie mit Bleistift gestrichelten Ästen hingen Wolkenfetzen, Sprechblasen ohne Text. Eine fade Gräue sog die Helligkeit auf, die Alm, die Talschaft und das ganze Bergpanorama. Aus Grau wurde Schwarz. Nichts blieb übrig ausser diesem Hotelzimmer. Hier brannte noch Licht, ein schäbiges und kleines, aber immerhin. Gundelmann seufzte, die Reise hatte ihn mitgenommen, er fühlte sich ausserstande, die neue Umgebung zu geniessen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, den Koffer auszupacken. Er zog nur Hosen und Pulli aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Er klopfte sie ein wenig zurecht, passte sie seiner Körperform an, die eine recht umfängliche war. Das Bett war kühl und ziemlich durchgelegen, ein Hotelbett eben. Als Gundelmann nach längerem Gehüstel und Gemurmel das Nachttischlämpchen ausknipste, war die Nacht komplett.

 

Als Gundelmann erwachte, war in seinem Kopf ein Wummern, das, wie er in seiner Benommenheit feststellte, eigentlich gar nicht in seinem Kopf war, sondern von draussen mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit in seinen Kopf hineindröhnte. Metallische Schallwellen durchwogten die Luft und hämmerte auf Gundelmanns Stirn ein. Grunzend wühlte er sich aus der Bettdecke. Dieses Getön! Es war überall. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Gundelmann tapste um das Bett herum, und aus dem Vorhandensein der Berge, die vor dem Fenster riesig aufragten, mit Schnee da und dort, halb noch in Wolken gehüllt, schloss er, dass er das Bergsteigerfrühstück verschlafen hatte. Draussen war es hell, oder doch einigermassen. Die Verköstigung der Bergsteiger, ein Spezialservice des Hotels, war täglich auf sechs Uhr angesetzt, und jetzt war es mindestens halb acht. Gundelmann schob den Fensterriegel auf, streckte den Kopf hinaus. Die Luft war wie ein Rasierpinsel mit Metallborsten. Dieses Geschepper! War das eine Generalprobe für den Alpabzug? Ein Senn trieb seine holprig daherschlenkernden Kühe über ein steiniges Bachbett. Hu-lalala, hu-lalala, machte er. Hu-lalala, dachte Gundelmann knurrig. Kann man denn auch normal reden? Er schloss das Fenster, und nachdem er sich angekleidet hatte, ging er nach unten und bezog den für ihn reservierten Platz am Frühstückstisch. Das Bergsteigerfrühstück mit dem gebratenen Speck war bereits vorüber. Damit war zu rechnen gewesen. Gundelmann sah auf seine Armbanduhr. Er fragte die junge Frau, die ihm die Marmelade brachte, ob er auch noch ein Stück Speck haben dürfe, Speck, sie wisse schon, doppelt gewendet in brutzelndem Fett, an den Rändern so knusprig wie frisch gebackenes Brot, er sei schliesslich kein Hochgebirgsflaneur, sondern Bergsteiger, er sei zum Bergsteigen hier. Die junge Frau sagte: okay. Sie kaute Kaugummi, und sie sagte es in einem leicht gedehnten, fragend ausklingenden Tonfall, als zweifelte sie daran, dass Gundelmann im Ernst auf die Berge hinauf wolle. Mit der Entschlossenheit des Zuspätgekommenen machte sich Gundelmann über den Speck her. Es war köstlich, aber viel zu wenig, gerade ein Maulvoll. Er verlangte keine zweite Portion, er musste jetzt los. Er packte seinen Koffer aus, kehrte das Unterste zuoberst: Seilsack, Fiberglashelm, Klettergurt und die Karabiner, alles war da, er brauchte es nur noch in den kleinen Rucksack zu stopfen. Mit einem schweren Schnauf trat er schliesslich bergsteigermässig bepackt aus dem Hotelportal. Die Bergsteigerschuhe drückten ein bisschen, aber das war normal, er hatte sie noch nie angehabt. Erst vorgestern hatte er sie im Schuhgeschäft abgeholt, und wäre seine Frau Martha nicht gewesen, die immer an alles dachte, so hätte er glatt vergessen, die Schuhe zu imprägnieren. Den terpentinähnlichen Geruch hoffte er bald loszuwerden. Oben an den Flühen klebten noch die Wolken. Es war kalt. Gundelmann reckte den Hals, um eine körperliche Blockade aufzuheben, er hörte ein Knacken, und das Knacken wiederholte sich mehrfach, als er die Handgelenke und die Finger drannahm. Dann blickte er zu den Bergen hoch, forschend. Da und dort schimmerte ein Fetzelchen Blau. Der Himmel tat sich auf, Felswände kamen zum Vorschein, und die grasdurchsetzten Geländestufen hatten auf einmal etwas Farbe. Gundelmann war es ernst mit seiner Bergbesteigung, und jetzt, da das Wetter mitspielte, verflogen auch seine letzten Zweifel. Was er da vorhatte, war nicht nur Herzenssache, es war eine Sache des ganzen Körpers. In den Muskeln summte und surrte ein kräftigendes Wohlgefühl. Schnaufend setzte sich Gundelmann in Bewegung. Die Hangneigung nahm zu, die Sonne, wo immer sie sich auch verbergen mochte, umleuchtete geheimnisvoll die schwarzen, weit und hoch aufragenden Felsen. Auf Schritt und Tritt gab es schwindelerregend schöne Ausblicke, Fernblicke, doch Gundelmann dachte nicht im Traum daran, stehenzubleiben, um wie irgendein landschaftsvernarrter Hochgebirgsflaneur die Aussicht zu geniessen. Er wollte dann schon höher hinaus! Und aufs Geniessen legte er schon gar keinen Wert. Stümperiges Stehenbleiben und Landschaftsbegaffen war nichts für ihn, das hätte den Aufsstieg nur unnötig verzögert. Verschnaufen konnte er später, auf dem Gipfel. Ohne Fleiss kein Preis. Und so stapfte er weiter almaufwärts, über die harten Buckel, über die der Wind fegte, stapfte Stufe für Stufe den Felsen entgegen, der Schneegrenze. Dort oben gipfelten die Gesteinsmassen in einem unglaublichen Durcheinander von Schluchten, Gängen, Wänden und Eisfeldern, da musste man durch, förmlich durchsteigen, um den Hauptgipfel zu erreichen, den gewaltigen Brockenstockenföhnstock. Dort oben, dachte Gundelmann, in diesem Wirrwarr, bevor’s dann hinaufgeht zum Hauptgipfel mit dem unaussprechlichen Namen, werde ich mein Z’nüni essen. Aber der Weg war noch weit, und eigentlich war da gar kein Weg mehr, nur steglose Steigung ohne Windschutz. Bis zu den ersten Geröllhalden zog sich baumlose Graswüste. Wo war das Hotel? Es war in einer Senke verschwunden, es gehörte nun zum Tiefland, es hatte nichts mehr mit dieser Höhenlage zu tun, geschweige denn mit Gundelmann.

 

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2010

 

veröffentlicht im Gilde Journal 04/Dezember 2010