Müllers Garten

 

Schon lange, sagte Müller, möchte ich meinen gefiederten Freunden einen Gefallen tun. Ich möchte ihnen einen Tisch hinstellen. Scheu sind sie ja nicht. Sie dulden es nämlich durchaus, dass man sie aus gebührendem Abstand beobachtet. Einen Anreiz, mich zu besuchen, finden sie schon jetzt, nämlich im Futter, das ich für sie auf den Boden streue. Manchmal stürzen sie sich regelrecht darauf, sie verwickeln sich in Kämpfe, hacken aufeinander herum. Kleingehacktes und Körniges, also spezifisches Vogelfutter, wie man es nur im Spezialladen kaufen kann, verfüttere ich am liebsten. Allerdings gibt es bei mir auch anderes Vogelfutter. Ich habe so einiges an Resten, das ich loswerden möchte, ich selber ernähre mich ja auch wie ein Vogel. Ich lebe gesund, Naturprodukte aus dem biologisch zertifizierten Naschwareneinkauf bilden meine Grundnahrung. Jetzt, aufs Alter hin, habe ich immer häufiger das Bedürfnis, nicht nur für mich selbst zu sorgen, sondern über meinen eigenen Tellerrand hinauszuschauen, wenn ich so sagen darf; ich möchte, dass meine Gesundheit allen Tierchen zugute kommt, die den Willen und den Mut haben, mir Gesellschaft zu leisten. Weiss auch nicht, womit das zu tun hat. Im Alter wird man komisch, manche sagen kauzig. Die Interessen erweitern sich, fächern sich auf, man fängt viele neue Sachen an, obwohl man weiss, dass es dumme Sachen sind. Man kauft zum Beispiel ein Fahrradschloss, obwohl man gar kein Fahrrad hat. Sollte ich mich bei Gelegenheit ärztlich untersuchen lassen? Bin ich krank? Nicht ganz dicht? Woher denn? Es geht mir glänzend. Falls ich dabei verblöde, soll’s mir recht sein. Es gibt Schlimmeres als den Briefkasten mit dem Kühlschrank zu verwechseln oder versehentlich einmal ohne Hosen aus dem Haus zu gehen. Die Hauptsache ist ja immer, man ist glücklich und zufrieden. Wenn die Kräfte schwinden und das Hirn zu schrumpfen beginnt, ist es vielleicht gar nicht so einfach, mit sich im reinen zu sein. In der Welt bleiben, auf dem Boden der Tatsachen, das ist wichtig. Leute kontaktieren, Freundschaften pflegen, das ist wichtig. Das hält jung.

 

Die Erneuerung der Natur, erklärte Müller, ist mir das Wichtigste. Sehe ich auf meinen Spaziergängen einen Weiher, der nur noch vor sich hinstinkt, denke ich: den sollte ich ausschaufeln und neu mit Wasser füllen. Dann sollte ich neue Tiere dreintun, neues Leben darin hochziehen, das wäre doch eine lohnende Beschäftigung in meinem Alter. Solche Gedanken kommen mir oft beim Spazieren, das ich als eine ehrenamtliche Tätigkeit auffasse. Solange die Beine mittun, nicht wahr, sollte man herumgehen. Wer rastet, rostet. Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, habe ich enorme Anstrengungen unternommen, meinen kleinen, ursprünglich fast nur von Nusshölzern bewachsenen Garten neu herzurichten, ihn aufzurichten, wenn man so will. Sehen Sie, was aus diesem Garten geworden ist. Vor Jahren hätte ich mir einen solchen Prachtsgarten nicht einmal im meinen grünsten Träumen vorzustellen gewagt. Und jetzt habe ich ihn verwirklicht, aus eigener Kraft: ich habe ihn selber gemacht. Jedes Pflänzchen habe ich selber gemacht.

 

Auch Unerfreuliches gäbe es zu berichten, sagte Müller. Ein Tier, das ich noch nie zu Gesicht bekommen habe, zertrampelt meine Blumen und frisst meinen Salat. Es richtet Schäden an, für die mich niemand entschädigt, die Versicherung verlangt Beweise, die ich nicht erbringen kann. Was weiss ich denn schon? Es ist ein Gewohnheitstier, dieses Tier, vierfüssig und heimlich geht es immer den gleichen Weg, instinktgesteuert, wie Tiere halt sind. Dieses Tier, mein Tier, sage ich zuweilen und blinzle dabei schelmisch, wie wenn es dauernd um mich herum wäre, aber natürlich ist es nirgends, ich meine damit, gesehen habe ich es noch nie, und ich weiss noch nicht einmal mit Sicherheit, ob es überhaupt ein Tier ist, dieses Tier, will ich sagen, und ich bleibe beim Tier, weil alles andere vielleicht doch zu phantastisch wäre, ist allem Anschein nach ein Wandertier, ein Trampeltier, ein Wanderfüssler. Es trampelt sich vierfüssig einen Weg am Haus vorbei. An meinem Haus vorbei, aber auch an den Häusern meiner Nachbarn vorbei. Man kennt es eigentlich im ganzen Dorf. In Menschennähe, wenn ich hier eine Vermutung äussern darf, die auch ein Experte nicht von der Hand weisen kann, fühlt sich das Tier keineswegs fehl am Platz. Daraus ergibt sich zwangsläufig das eine oder andere Problem. Durchschneidet die Fährte einen neu angelegten Garten, ist es für den Gartenbesitzer Pflicht, am Gartenhag zwei Pforten anzubringen, damit das Tier seinen üblichen Weg auch weiterhin gehen kann: eine Pforte zum Hineingehen und eine Pforte zum Hinausgehen. So eine Pforte ist schnell gemacht. Eine Holzklappe, die an einem Scharnier herunterhängt, genügt vollauf. Die in der feuchten Gartenerde gut sichtbaren Pfotenabdrücke verraten, dass das Tier nicht sehr gross ist, nicht viel grösser als ein Hase, aber im Gegensatz zum Hasen fürchtet es die Menschen nicht. Die Menschen samt den menschenzugehörigen Sachen sind für dieses Tier wie nicht vorhanden. Jawohl, wie nicht vorhanden. Da kann man Flitter aufhängen, soviel man will, Schrecktöne aussenden oder mechanische Tanzpuppen hinstellen, nichts hält das Tier von seinem Gartenbegehungen ab. Die natürliche Scheu vor den Menschen kennt es nicht, was die Vermutung nahelegt, dass die sogenannte natürliche Menschenscheu bei vielen Tieren gar nicht so natürlich ist, wie es scheint. Nein, scheu ist dieses Tier nicht, es lässt sich weder verjagen noch vergraulen, weshalb man sich mit ihm arrangieren sollte. Trotz den Schäden, die es anrichtet. Wo immer es auftaucht, lässt es eine gewisse Unordnung zurück. Habe ich das schon erwähnt? Das Tier markiert sein Revier, häufelt da und dort etwas Erde an, wühlt Mulch auf, sammelt ein paar Steinchen zusammen, und auch Frassspuren sind zu sehen. Bei Pflanzen, die ihm als Nahrung dienen, legt es einen Zwischenhalt ein. Ist es dann wieder fort - und wie aus Berechnung ist es immer genau dann wieder fort, wenn man in den Garten hinausgeht - findet man auf einem der verwüsteten Beete vielleicht noch etwas Angeknabbertes. Eine Art Visitenkarte.

 

Lange Zeit, eigentlich den ganzen Winter hindurch, sagte Müller, verharrt das Unkraut an Ort und Stelle. Schon im Frühherbst, beim ersten Niedergang der Aussenwärme, wenn der vorzeitige Frost die Äpfel und Birnen einfriert, stirbt das Unkraut oberirdisch ab. Was an ihm weiterlebt, verbirgt sich zwischen Erde und Stein. Und dann? Solange der Himmel molkig oder eisig, schneeig oder trübgrau ist, herrscht Stillstand. Das Unkraut reiht sich unter die zahllosen Dinge ein, die einem nichts mehr zu tun geben. Die gefrorenen Böden kann man unmöglich bearbeiten. Im Winter kümmert man sich mit Vorliebe um Häusliches: Topflappen, Zimmerpflanzen und Ofenholz. Solange noch alles gefroren ist, denkt man an die Mühen der Gartenarbeit überhaupt nur sehr ungern und überlässt das Unkraut sich selbst. Das kommt dann noch früh genug. In seinen Kammern und Schächten bangt es dem magischen Moment entgegen, da die Sonne den pflanzlichen Bewegungsantrieb aktiviert. Sobald die Sonnenstrahlen scharf gespitzt sind, also spätestens im April, stehen die barometrischen Anzeichen wieder auf Frühling. Jetzt ist der Zeitpunkt da, wo sich in meinem Garten alles verwandelt. Das Unkraut drängt an die Luft, es dreht sich zur Sonne und bildet Blätter und Ranken aus, Wärme umfängt es, eine mitteleuropäische Wärme im Mittelbereich, wenn ich so sagen darf, gemässigt und lind.

 

Dieses Wachstum, sagte Müller, gibt mir so ganz nebenbei Anlass zu einer Betrachtung der allgemeinen Naturzustände. Das Aufspriessen des Unkrauts, so unerfreulich, ja lästig die damit verbundene Arbeit der Unkrautvertilgung auch sein mag, ist eigentlich höchst natürlich. Ich könnte den Vorgang ohne viele Worte beschreiben, in einem einzigen runden kleinen Satz oder einem beschwingt formulierten Teilsatz. Aber vielleicht sind Worte hier gar nicht das richtige Mitteilungsmittel. Ich könnte, um ein wirklich zutreffendes Bild von diesem Wachstum zu geben, einfach nur mit dem Finger auf die grüne Welt zeigen. Die luftdurchströmte grüne Welt, ist sie nicht schön? Stapfe ich im Frühling aus dem Haus, mitten in diese Welt hinein, so stelle ich befriedigt fest, dass die Wärme alle Pflanzen in die Luft hinaufzieht. Mit erstaunlicher Schnelligkeit wuchern sie in die gleichmässig feuchte und warme Umgebung hinein. Sie drängen nach allen Seiten, drängen sich überall vor, und immer ist es das Unkraut, das hier die überraschendsten Kapriolen macht. Jedes Hindernis überwindet es mit einer unwirschen Bewegung seiner sich ringelnden Ausläufer, die, wie Hände, sowohl Werkzeuge als auch Sensoren sind. Diese Ausläufer sind wurzlig und ästig und reich verzweigt. Und sie sind sehr eigenwillig. Das Unkraut wehrt sich natürlich gegen jeden Eingriff. Es entwindet sich. Obendrein ist es auch noch zäh wie Gummi und hart wie Stein. Man kommt ihm nicht bei, da kann man machen, was man will. Schere, Hand und Hacke sind machtlos, Unkrautvertilger nützen nichts. Der Gärtner hat allen Grund, das Unkraut zu fürchten. Natürlich kann man es auch ignorieren: der Natur wegen. Das halte ich für falsch. Mir persönlich liegt das Wohl jener Pflanzen am Herzen, die irgendeinen reellen Nutzen versprechen. Für sie bin ich da. Für sie kämpfe ich gegen das Unkraut. Aber grundsätzlich, so im grossen und ganzen, habe ich nichts gegen Unkraut. So wie ich auch nichts gegen das Tier habe, das meine Blumen zertrampelt.

 

 

2008