Siebeneinhalb Brote

 

 

 

Seit ich denken kann, gehen wir zusammen an der Bäckerei vorüber, die Köpfe gegen das Schaufenster gewendet, und beide haben wir kurze Hosen an, die uns kratzen, und beide träumen wir davon, Atomforscher oder so etwas zu werden. Mit meinem Bruder gehe ich nicht überallhin, aber fast jeden Tag gehen wir an der Bäckerei vorüber, die in ihrem Schaufenster Brote ausstellt. Schaubrote: die sehen zwar frisch aus, sind aber steinalt und steinhart. Wir wissen es, nie werden sie ausgewechselt, und während wir an der Auslage vorübergehen, hält uns eine seltsame Erwartung gepackt; es ist, als müsste jeden Moment der Bäcker oder die Bäckerin in das Schaufenster hineingreifen und die Brote endlich auswechseln... Was natürlich nie passiert. Es ist nur eine Phantasie, wir reden darüber halblaut wie über etwas Unanständiges, die Hände vor dem Mund, während wir an der Bäckerei vorübergehen.

 

Im Internet hat mein Bruder ein Mädchen kennengelernt, und ein paar Tage später steht sie bei uns vor der Tür. Sie ist dick und aufdringlich und knetet sich unaufhörlich die Arschbacken. Zufällig bin ich derjenige, der die Besucherin in Empfang nimmt. Mein Bruder hat mir von ihr erzählt, und ich bin recht gespannt, was er sich da wieder eingehandelt hat. Du meine Güte, auf das bin ich nun wirklich nicht gefasst gewesen! Als ich sie sehe, denke ich, dass es mir eigentlich egal sein müsste, weil ohnehin jeder bekommt, was er verdient, auch mein Bruder, aber ich gebe so schnell nicht nach, ich verteidige die Familienehre. Im Namen meines Bruders sage ich Danke und wimmle sie ab. Ob er so eine gewollt habe, frage ich ihn. Er: ja, natürlich. Und dann schliesst er sich in seinem Zimmer ein und ist auf Tage hinaus nicht mehr zu sprechen. Als seine Wut verraucht ist, gehen wir zusammen wieder an der Bäckerei vorüber, und wenn man uns so sieht, die “lustigen Hanselmann-Brüder”, wie man uns nennt, hat man den Eindruck, wir kämen gut miteinander aus. Nach dem Hagelschlag scheint wieder die Sonne. Doch die Beulen auf dem Kopf, die sieht niemand.

 

Manchmal trödeln wir vor der Bäckerei etwas herum. Rein aus Gewohnheit prüfen wir nach, ob noch alle Brote da sind. Wir haben sie gezählt, es sind siebeneinhalb, eines ist angeschnitten, der Bäcker hat wohl zeigen wollen, dass in seinen Broten etwas drin ist. Dass er keine Attrappen verkauft. Nur eben, das Schaufenster lügt. Wenn man es anschaut, wird man traurig. Betrüblich ist auch, dass es immer die gleichen Brote sind, nicht einmal das Arrangement ändert sich. Wenn man die Brote anschaut, hört man ein hohles Schluckgeräusch. Es kommt aus dem eigenen Hals. Dabei könnte das Schaufenster so phantastisch sein! Es könnte Leute anlocken, die etwas Aufregendes sehen wollen. Ich würde darin eine Modelleisenbahn aufbauen, mit Dekorbäumchen und Miniaturhäuschen und einem Glacier-Express, der durch einen tunnelierten Brotlaib fährt. Solche Ideen habe ich öfter, und ich diskutiere sie mit meinem Bruder, während wir mit grossen eisenbahnverrückten Augen durch die Schaufensterscheibe gaffen. Wir betatschen die Glasfläche mit beiden Händen. Die Bäckerin sieht das gar nicht gern. Ertappt sie uns, entfernen wir uns lieber gar nicht als zu schnell. Rennen wir weg, rennt sie uns hinterher. Tun wir einfach so, als täten wir etwas völlig Normales, macht sie vielleicht nur ein böses Gesicht und lässt uns in Ruhe.

 

In die Bäckerei hinein gehen wir selten, wir gehen meistens an ihr vorüber, die Köpfe gegen das Schaufenster gewendet, zum Einkaufen verlockt uns die Bäckerei nicht, unser Taschengeld ist uns zu schade für Brot. Lieber kaufen wir Bärendreck oder Batman-Hefte. Die Bäckerei soll nicht auch noch an uns verdienen, wo sie uns doch schon so viel Zeit wegnimmt. Sie hält uns oftmals unnötigerweise auf. Ich und mein Bruder, wir haben sehr viel zu tun, wir müssen in die Schule. Auch Genies müssen etwas lernen. Aber sobald wir uns selbst überlassen sind, gehen wir wieder zur Bäckerei, ohne hineinzugehen, wir gehen an der Bäckerei vorüber oder bleiben stehen, um in das Schaufenster zu gaffen. Uns liegt daran, wie zwei normale Passanten auszusehen, die zufällig auf dieses Schaufenster gestossen sind und sich fast nicht mehr davon losreissen können. Der Bäcker und die Bäckerin müssten sich eigentlich freuen. Endlich hat ihr Schaufenster Beachtung gefunden. Sie müssten das freudig zur Kenntnis nehmen, herumhüpfend und sich umarmend müssten sie dieser ihrer Freude Ausdruck geben. Aber das tun sie nicht. Das tun sie nie. Es ist immer das Gleiche mit den Erwachsenen. Nie tun sie das, was sie tun müssten.

 

Im Internet hat mein Bruder sein Dreirad versteigert. Er schlägt vor, dass wir mit dem Geld ein Schaubrot kaufen und es in unsere Schatztruhe tun. Wir haben nämlich eine Schatztruhe, so nennen wir die Holzkiste, in die wir alles hineintun, was die Archäologen nach 1000 Jahren ausgraben sollen. Darin sind zum Beispiel unsere Aufsatzhefte, ein Stück Knochen, eine Rangierkelle, eine Zauberbohne, ein Lockvogel aus Gummi und ein Mikro-Chip. Anhand solcher Gegenstände werden die Menschen in der Zukunft herausfinden, wie wir Menschen von heute leben. Den grössten Aufschluss darüber, wie wir Menschen von heute leben, geben natürlich unsere Schulaufsatzhefte. Es sind wertvolle Dokumente. Wer sie liest, erfährt einiges über uns. Auch Unschönes natürlich, das gehört eben dazu. Wir bewahren diese Hefte auf, weil wir das Schlimmstmögliche voraussehen: den Zusammenbruch des Internets. Ein Virus wird alles vernichten, alle Leitungen, Festplatten und Datenträger. Dann stehen die dumm da, die nichts auf Papier haben. Und wie will die Menschheit weiterbestehen können, wenn die ganze gespeicherte Lebensweisheit den Bach runter geht? Gut haben wir eine Schatztruhe, eine Zeitkapsel, die unser Leben irgendwie konserviert. Unser Wissen weitergibt. Auf dass es die Menschen in der fernen, nebligen Zukunft erleuchten möge. Und unsere Lehrer wundern sich, warum wir so gerne Aufsätze schreiben.

 

Aber dann, im letzten Moment, verzichten wir auf das Schaubrot. Wir haben uns die Sache wohl nicht reiflich genug überlegt. Das Brot, auf das mein Bruder so scharf gewesen ist, gehört ins Schaufenster, nichts und niemand soll das Arrangement auflösen oder durcheinanderbringen. Siebeneinhalb Brote: wir haben sie gezählt, vorwärts und rückwärts und immer wieder. Diese Zahl haben wir für gut befunden, und bei dieser Zahl soll es bleiben. Seit ich denken kann, gehen wir zusammen an der Bäckerei vorüber, die Köpfe gegen das Schaufenster gewendet, und immer liegen die Brote da und bieten sich feil, obwohl sie doch gar nicht essbar sind. Mein Bruder will den Erlös aus der Versteigerung in Aktienfonds anlegen. Er erklärt mir, er wolle die Dicke heiraten, “in ein paar Jahren”, dazu brauche er Geld, viel Geld. Währenddessen gehen wir an der Bäckerei vorüber, in unsern kurzen, kratzenden Hosen, die in naher Zukunft vielleicht schon sehr altmodisch sein werden.

 

 

 

2009