Teewasserkochen

 

Unter der fachkundigen Aufsicht meines Bruders setzte ich das Teewasser auf. Mein Bruder fragte mich, ob ich damit klarkäme. Klar komme ich damit klar, sagte ich. Ob das Teewasser auch sauber sei, fragte mein Bruder sicherheitshalber. Sicher, sagte ich, schon leicht genervt. Es ist Leitungswasser, fügte ich hinzu, frisch aus der Kläranlage. Es ist völlig unbedenklich. Mit diesen Worten wies ich auf den inzwischen brühheissen Teekessel, den ich, wie immer um die Teezeit, mit einem lässigen Schwung auf die Herdplatte befördert hatte. Mein Bruder liess mich nicht aus den Augen, egal, was ich tat. Bist du sicher, dass du nicht irgendetwas falsch gemacht hast? fragte er zweifelnd. Ich glaubte aus seiner Frage herauszuhören, dass er die Teewasserzubereitung gerne etwas anders gehabt hätte. Ich erzählte ihm, wie ich nach dem Wassereinfüllen den vollen Teekessel durch die Luft geschwenkt und auf die Herdplatte befördert hatte. Ich erzählte es ihm, obwohl er ja dabeigewesen war. Ich war in den Hausschuhen gewesen und hatte den Teekessel in hohem Bogen durch die Luft geschwenkt. Das erzählte ich jetzt meinem Bruder, und ich verhehle es nicht, ich war ein wenig stolz, weil mir das Teekesselschwenken so locker von der Hand gegangen war. Und du hast nie daran gedacht, fragte mein Bruder, dass man das auch ein wenig anders angehen könnte? Oder sagen wir: es wäre doch ganz schön, wenn du das Teewasser einmal so hurtig und umstandslos auf die Herdplatte stellen könntest, dass damit schon alles zum Wasserkochen Erforderliche getan wäre, die Faxen, die du dir angewöhnt hast, könntest du dann nämlich lassen. - Ich werde darüber nachdenken, versprach ich, und es war mir peinlich, dass das Teewasser, das ich während unseres Gesprächs vom Herd genommen hatte, die zum Teeaufgiessen erforderliche Hitze inzwischen fast vollständig verloren hatte. Ich leerte es aus, füllte neues ein. Später, als das neue Teewasser zu kochen begann, sagte ich: es geht gut mit dem Wasserkochen. Sieh, wie das Wasser köchelt! Wie es kocht! Sieh, Bruder! Das Wasser ist dicht am Sprudeln! Freilich sah man überhaupt nichts vom Teewasser, der Teekessel war ja verschlossen. Das war mir entgangen. Nun ja, manchmal passiert es eben, dass man sich im Affekt in eine Rhetorik hineinsteigert, die alles Faktische an den Rand drängt. Mein Bruder setzte sich auf einen Stuhl, einen Küchenstuhl. Ich sah gleich, dass er wieder seinen unverrückbaren Standpunkt einnahm. Du redest, sagte er und liess dazu seine Hand in der Luft herumwackeln wie ein Puppenspieler. Und während du redest, fuhr mein Bruder fort, verkochst du das Teewasser oder lässt es kalt werden. Und obwohl ich allen Grund hätte, dich zu rügen, raffe ich mich zu einem ungeheuchelten Lob auf. Gewiss gefällt es dir, wenn ich auch mal was Positives an dir hervorhebe. Zum Beispiel deinen Sinn für den schönen Teekesselschwung. - Danke, sagte ich. Mein Selbstwertgefühl stieg ins Unermessliche. Es kam selten vor, dass mein Bruder mich lobte, und es stärkte mich, dieses Lob, auch wenn es ein bisschen ironisch geklungen hatte. Das war mir egal. Seine Ironie kaufte ich ihm nicht ab. Sie war gekünstelt. Das mit dem “schönen Teekesselschwung” hatte er durchaus ernst gemeint und ohne Abstrich, wenngleich er sich natürlich nur ungern ein Lob abrang. Lieber beschimpfte er mich. Ich hatte die Hand schon am Teekessel, der mit kleinen Ruckern und Hüpfern den Siedepunkt ankündigte. Doch meine Hand bemerkte nichts. Mein Bruder hätte mich warnen müssen, Dringlichkeitsstufe eins. Ehe ich etwas tun konnte, schrillte der Dampf durch die nadelöhrkleine Öffnung im Deckel des Teekessels. Der Teekessel hüpfte. Ich hielt mir die Ohren zu, instinktiv. Mach es aus! schrie mein Bruder. Was? fragte ich. Ich verstand kein Wort. Mach es aus, verflucht nochmal! schrie mein Bruder. Wie? fragte ich. Wie macht man es denn aus? Mein Bruder riss den Teekessel vom Herd, der noch immer pfeifende Topf schepperte in den Schüttstein. Das Pfeifen sank herab zu einem bösartigen Fauchen. Der Deckel sprang auf, und das kochende Wasser lief durch den Abguss davon. Jetzt siehst du, schimpfte mein Bruder, was dabei herauskommt, wenn man dich machen lässt! Nichts kommt dabei heraus, absolut nichts. Es ist immer das Gleiche mit dir, kaum lässt man dich machen, hat man schon ein Problem. Als gäbe es nicht schon genügend Probleme auf der Welt: Hunger, Armut, Terrorismus. Das Abschmelzen der Polkappen. Und jetzt kommst auch noch du. - Na und? schnaubte ich. Meinst du, ich wüsste das nicht? Deine Kritik kannst du dir sparen, nie habe ich grössere Zweifel an mir gehabt als gerade jetzt. Warum kritisierst du mich, wenn ich mich doch selber schon kritisiere? Ich hoble und schleife mich durch unausgesetzte Selbstkritik. Du tätest besser daran, dich da rauszuhalten. Ich schaffe das aus eigener Kraft, ich werde besser und besser. Oder ist das nun auch wieder etwas, das du herunterreissen musst? - Neinnein, versuchte mich mein Bruder zu beschwichtigen. Es ist okay. Ich halte es für ehrenwert, wenn man sich selber drannimmt, sich selber zur Schnecke macht. Eine harte Selbstkritik zeugt von Charakter. Aber manchmal bist du ganz schön mühsam, weisst du. Manchmal denke ich, unsere Mutter hat dich mit dem Dorftrottel gemacht. - Wenigstens wurde da ein Macher gemacht, sagte ich und klopfte mir auf die Brust. Und dann ging ich zum Gegenangriff über: siehst du, was du angerichtet hast? Grundlos hast du das Teewasser verschüttet. Einfach aus Wut. Weil du so verdammt unbeherrscht bist, muss ich jetzt wieder von vorn anfangen... Und das tat ich auch. Mein Bruder zog sich beleidigt zurück. Immer wenn er sich beleidigt zurückzog, bekam ich noch irgendeinen Kommentar von ihm zu hören. Du musst aber schon sehr gute Gründe haben, wenn du in Zukunft das Teewasser ohne mich kochen willst! hörte ich ihn maulen. Er ging im Nebenzimmer auf und ab, ein Stuhl fiel krachend zu Boden. Mach was du willst! schrie mein Bruder. Ich klammerte mich schwitzend an den Schüttstein. Das neue - das allerneuste - Teewasser kochte. Die Luft war heiss hier drin, gesättigt mit Dampf. Es war eine typische Küchenluft. Jeder muss mal klein anfangen, dachte ich, und jeder muss dort anfangen, wo’s am leichtesten geht, und sich dann Stufe für Stufe hocharbeiten zu einem Schwierigkeitsgrad, den man gerade noch bewältigt. Ja, tu das! schrie mein Bruder aus dem Nebenzimmer. Ich öffnete den Küchenschrank, tastete darin herum. Da war irgendwo die Teedose, die ich jetzt brauchte: “Baldrianwurzel-Tee zur Entspannung”.

 

2010