Unter der Küche

 

Eingemummt sitzen sie in der Höhle, in die ich mich abgeseilt habe. Als wären sie an ein Ende gekommen, geknickt und gebrochen nach einer grossen vergeblichen Anstrengung. Dabei hat die Expedition noch nicht einmal begonnen. Nachdem ich durch den Durchschlupf in der Küchenwand gekrochen bin und mich an einem gut befestigten Seil abwärts gehangelt habe, sehe ich in der Dunkelheit die kleinen Stirnlampen. In ihrem Schein sehe ich die Menschen, auf deren Helmen die Stirnlampen montiert sind. Die Höhlenforscher winken mich zu sich heran. Sie weisen mir den Weg, und ich tapse vorwärts, zwischen ihnen und mir liegt eine Menge Geröll. Sperrige Felsbrocken drängen mich ab. Panische Blicke nach links und rechts, in die klaffende Schwärze. Ich merke, dass ich mich zusammenducke, obwohl die Decke für einen aufrecht stehenden Menschen hoch genug ist. Ich habe jetzt schon Kreuzschmerzen von der Dunkelheit, die auf mir lastet. Endlich bin ich bei ihnen. Die Höhlenforscher starren mich ausdruckslos an. Ich bin der Neue, und ich habe mich verspätet. Durch den Eingangsschacht bin ich zu ihnen vorgestossen. Ich sage, was es über mich zu sagen gibt, fasse mich jedoch den Umständen entsprechend kurz. Sie kennen mich noch nicht, sind dem Neuling gegenüber skeptisch. Da und dort ein nachsichtiges Grinsen, meine Verspätung kursiert bereits als Witz. Nun will man sehen, wie ich mich mache. Meine Bewährung steht noch aus. Die Höhlenforscher wollen, dass ich auf Augenhöhe mit ihnen zusammenarbeite. Nun gut, da bin ich, und ich bin topmotiviert, wie man so sagt, ich habe die Handflächen voller Spucke. Den Rückweg an die Erdoberfläche werden wir gemeinsam antreten, in geschlossener Einerkolonne. Aber zuerst, und das ist die Hauptsache, steigen wir zusammen noch weiter in die Tiefe hinab. Wir wollen hinuntergelangen, ganz hinunter. Wir sind jetzt ein Team. Wir sind die Höhlenforscher. Wir gehen den Dingen auf den Grund, wir gehen dem Grund auf den Grund.

 

Am Anfang unserer Expedition sind wir noch alle guter Dinge. Es herrscht eine Aufbruchsstimmung, die vom einen zum andern übergreift wie ein Fieber, die ganze Gruppe drängt auf einmal nach vorn und unten, als wäre sie ein einziges Wesen mit einer einzigen Seele und Bestimmung. Doch innert Minuten kann sich alles ändern, die Erfahrenen unter uns erwähnen es schaudernd. Sie berichten von Unglücksfällen und Fallen in der Tiefe, von Löchern und Schächten. Von Menschen, die in diesen Löchern und Schächten verschwinden und nie wieder auftauchen. Und von einer Schwärze, die so total ist, dass sie jedes Schreien erstickt. Komme es zum Schlimmsten, flüstert jemand neben mir, spiele der Zeitfaktor eine Schlüsselrolle... Mit der flachen Hand schlägt er immer wieder auf seinen Oberschenkel. Er grinst mich an. Jemand, der die ganze Zeit über schon vorneweg gegangen ist, streckt auf einmal den angefeuchteten Finger in die Luft und rät zu einer Richtungsänderung. Die Gruppe bleibt stehen. Noch sind wir nicht ganz überwiegend eine Einheit. Noch sind wir uns uneins. Nach etwas mehr als einer Stunde kommt der erste Gedanke an Rückkehr auf. Er wird sogleich verworfen. Das Höhlenklima ändert sich manchmal schnell. Auf alles und jedes zu reagieren, wäre unklug. Die Lichtschächte bleiben zurück, vieleckiges Gestein streift unsere Hosenbeine. Einer von uns fingert plötzlich in der Dunkelheit herum. Fledermäuse klatschen gegen sein Gesicht. Der Spot eines Suchscheinwerfers leuchtet in die Ecken und Winkel, stört eilig sich fortwindendes Getier auf. Es gibt Höhlen, die wir meiden, andere betreten wir wider besseres Wissen. Es ist leicht, sich etwas vorzumachen, die Selbstüberschätzung ist etwas Wunderliches, wäre eigentlich leicht vermeidbar. Ein Tunnel, dann ein Gewölbe, riesig, mit gewisperten Echos. Mit der Zeit verstummen wir und verständigen uns nur noch durch Blicke.

 

In der Nebenhöhle, die wir soeben erreicht haben, steht ein Canapée. Es ist besetzt, schade, aber lange ausruhen können wir sowieso nicht. Und überhaupt, was haben wir hier eigentlich verloren? Die saubere und wohltemperierte Höhle ist schon vollständig erforscht. Sie nochmals zu erforschen, wäre Zeitverschwendung. Man muss das Rad nicht zweimal erfinden. Ein sprudelndes Wasser geht durch diese Schattenwelt, wird irgendwo aufgehalten und verrinnt. Die nächste Nebenhöhle geht ins Unmessbare, dort tröpfelt es von meterlangen Stalaktiten herab. Es herrscht eine konstante Temperatur von 2 bis 4 Grad. Schmutz, Kieshaufen und Pfützen, endlich ein Quergang, und schon nach wenigen Schritten verliert sich das Licht. Wir sind angespannt und voll konzentriert. Dennoch sorgen wir dafür, dass das Menschliche nicht zu kurz kommt. Wir tauschen unsere Adressen, vielleicht gibt es nächstes Jahr ein Wiedersehen, ein Jubiläumstreffen, kann sein. Mit Räuspern und Schnalzlauten seilen wir uns in die Tiefe ab, schaukeln den kiesigen Böden entgegen. Wir zählen uns ab, prüfen, ob noch alle da sind. Das Grüppchen ist vollständig. Jetzt kommen die Spirituslampen zum Einsatz. Sie russen und stinken, sind aber sehr nützlich. Unsere Schatten buckeln über die Wände, strecken sich, springen fort. Eine morsche Holztreppe macht uns Mühe. Aber was ist das schon, so eine Holztreppe! Wir erklimmen sie einer hinter dem andern. An die Gehordnung haben wir uns gewöhnt, hält man sie ein, geht es sich leicht. Mit kurzen panischen Schreien verschwindet einer von uns in einem schräg abfallenden Schacht. Bald ist nichts mehr zu hören. Ein tiefes Schweigen senkt sich auf uns herab. Wir bleiben beisammen, steigen über Schmutzhaufen. Einer hält noch die Nabelschnur in den Händen, die uns mit der Oberwelt verbindet. Wir spüren einen leichten Luftzug. Es ist, als ob wir in ein grosses Gebäude mit vielen offenen Fenstern und Türen gekommen wären, und durch alles zöge ein Lüftchen hindurch. Schwer zu sagen, woher das Lüftchen kommt. Überhaupt fehlt es an Dingen, die man greifen und mit denen man sich absichern kann. Die Höhle, in der wir uns gerade befinden, ist leer, wie ausgeräumt. Einer von uns geht voran und lotet den engeren Teil aus. Ist es ein Durchgang? Er will uns seine Entdeckung mitteilen, weiss aber nicht, wie er sie beschreiben soll. Die Worte lassen ihn im Stich. Seine wirren Handbewegungen entnehmen wir, dass wir ihm folgen sollen. Einer von uns fällt hin. Als er wieder aufsteht, ist er über und über mit Matsch verschmiert. Wir geniessen die Innenansicht. Der Schacht ist nass. Ein hohl hallendes Tröpfelgeräusch lässt uns innehalten; wir lauschen, unsere Atemstösse erzeugen sichtbaren Dampf. Das Unternehmen gerät jetzt auf einmal ins Stocken, weil einer an Unterkühlung leidet. Er überredet uns zu einer Wärmepause. Also setzen wir Tee auf und wickeln den Unterkühlten in eine Wärmefolie. Und schon meldet sich der nächste Patient. Der hat einen Knieriss abgekriegt und muss sofort verarztet werden. Das ist schwierig, weil niemand von uns Medizin studiert hat. Wir tun unser Bestes. Den mit dem Unfall zusammenhängenden Papierkram erledigen wir natürlich so speditiv wie möglich. Auf die Unfallscheine der Unfallversicherung schreiben wir wahrheitsgemäss, wie sich der Unfall zugetragen hat. Für die passende Formulierung können wir uns Zeit lassen. Tagelang kommen wir nicht mehr aus der Nebenhöhle heraus.

 

Es ist schrecklich. Wir sitzen fest. Für einen Höhlentrupp, der aus lauter Höhlenspezialisten besteht, ist das mehr als ungewöhnlich. Um nicht zu sagen: peinlich.  Wir quartieren uns tief unter der Erde ein. Schon bald finden wir es nicht mehr so schlimm. Wie eingefroren in absoluter Stille warten wir auf die Erlösung, ein geklopftes Morsezeichen, irgendetwas, das uns Rettung verspricht. So werden wir auf die Probe gestellt. Langsam wächst die Erkenntnis, dass es schon an uns selber liegt, ob wir von hier fortkommen oder nicht. Der kraftraubende Rückweg, er besteht aus Klimmzügen an einem frei hängendem Seil. Einer von uns macht stumm seinen Mund auf, als wir auf der nächsthöheren Etage ankommen. Er muss viel Luft in sich hineinpumpen. Einer hilft ihm auf die Beine. Ständig kommt wieder einer oben an, und einer hilft ihm auf die Beine. Schliesslich haben alle wieder sicheren Boden unter den Füssen. Die vor uns liegende Höhle verleitet Jacques, unseren Anführer, zu einem Alleingang, worüber wir alles andere als erfreut sind. Als er zu uns zurückkommt, irgendwie schleichend und mit einem Ausdruck in den Augen, der an Tinte erinnert, bleibt er uns seinen dringend erwarteten Bericht schuldig. Er hockt sich hin und denkt lange nach. Niemand bringt ein Wort aus ihm heraus. Jemand leuchtet in seine Augen, untersucht die Pupillen. Die sind so schwarz wie die Höhle vor uns. Noch einmal nehmen wir es mit dem Berg und seinen Hohlräumen auf. Es heisst jetzt kühlen Kopf bewahren. Der Aufstieg muss gelingen. Einen zweiten Versuch gibt es nicht. Wir filmen uns gegenseitig beim Traversieren einer glitschigen Wand. Jeder von uns will mal auf dem Film sein, damit er später bei der Filmvorführung nicht ein Minderwertigkeitsgefühl bekommt. Unsere Lampen sind jetzt halb verlöscht. Höchste Zeit für die Rückkehr. Unter den Helmen schwitzen wir. Wir nehmen sie ab, weil sie wie Dampfhauben sind. Und wir haben Glück. Auf der letzten Etappe gibt es kaum noch ein Risiko. Die Gefahren sind überstanden. Es ist ein grosser Moment, als wir den Ausgang erblicken. Die Sonne legt eine Leuchtspur, der wir nur noch zu folgen brauchen, und schon sind wir droben. In einem einzigen vorwärtsdrängenden Knäuel stolpern wir hinaus. Als wir uns in der Küche umarmen, fühlen wir uns als Überlebende. Wir sehen den gedeckten Tisch. Erst als wir uns alle gesetzt haben, merken wir, dass ein Gedeck zuviel ist. Wir haben jemanden verloren. Und während auf dem Kochherd das Nachtessen brutzelt, versuchen wir uns an seinen Namen zu erinnern.

 

2015