Zivilschutz

 

 

 

“Heftige Regenfälle haben den Fluebach innerhalb von Minuten über die Ufer treten lassen. Gleichzeitig wurde die Stützmauer des eigentlich trockengelegten Stausees oberhalb von Meistelberg derart unterspült, dass es zum Bruch gekommen ist.” (Zeitungsmeldung)

 

Als das Wasser braungrün und schwerflüssig in meinen Garten schwappte, rückte ich aus, ohne dass ich schon alarmiert worden wäre. Gunzenhauser, Einsatzleiter des zivilen Katastrophenhilfscorps, war der einzige Mensch, den ich in den Fluten zu sehen bekam. Mit seinem in Zivilschutzkreisen oft verspotteten Bierbauch durchpflügte er die Wassermassen ohne ersichtliche Mühe, aber sehr, sehr langsam. Er gestikulierte und schrie. Im allgemeinen Getöse konnte ich ihn kaum verstehen. “Zweckmässigkeit... Ordnung... Dienstreglement!” Um nicht davongerissen zu werden, erklomm ich eine Mauer. “Die Pegelstände schwellen an!” schrie Gunzenhauser, als er dicht vor mir an die Mauer stiess. Das Wasser, gemischt mit Schlammbrocken, schoss auf einmal wuchtiger daher. “Zieh Leine!” Gunzenhauser schnaubte wie eine Seekuh, die Strömung drängte ihn ab. “In den Bären! Allez hop! Mobilmachung kommt!” Vielleicht war es wirklich noch zu früh. Die Unebenheit des Geländes, die das viele Wasser in Bewegung hielt, war auch der Grund dafür, dass es nicht auf Anhieb überall hinkam. Die Pegelstände waren weiterhin am Anschwellen, das Wasser stieg und stieg, und niemand wusste, bis wohin. Die Katastrophe konnte noch schlimmer werden, konnte sich zum Schlimmstmöglichen auswachsen, und das Schlimmstmögliche war es, auf das sich Gunzenhauser einstellte. Also galt es zu warten.

 

Etliche Kameraden aus meinem Zug - es war der Unterstützungszug mit rund 20 Pionieren - sassen bei einem Bier oder einer Cola und wunderten sich, dass das Aufgebot so lange auf sich warten liess. Ihnen war es gleich ergangen wir mir. Gunzenhauser hatte sie abgefangen und in den Bären geschickt. Die “anschwellenden Pegelstände” sorgten für Heiterkeit, Gunzenhauser hatte niemanden unbelehrt gelassen. Wir bestellten eine Flasche Williams, Strübi Eigenbrand. Die Stimmung war gut.  Mädi, die Serviertochter, hatte das Radio voll aufgedreht, durch die Wirtsstube plärrte ein Schlager-Potpourri. Doch dann wurde es ernst: in etlichen Übergewändchen, Latzhosen und Jacken piepste ein Handy oder Smartphone. Pikettalarmierung, Notfallstufe 1! Alle stürzten wir hinaus, einer hinter dem andern wateten wir durch die Drecksuppe zum Ortskommandoposten, zum “Headquarter”, wie Gunzenhauser die Schaltzentrale der Katastrophenbewältigung nannte. Dort fassten wir das Arbeitstenü, orange-beige Einheitskluft mit Gummizeug. Im Nu waren wir angeschirrt. Gunzenhauser verteilte ein Katastrophenmerkblatt. Die Arbeit lief an. Als erstes fugten wir die Geräte aus dem Magazin, ganze Karren voll Werkzeuge und Maschinen. Dann suchten wir die Kellereingänge, legten Schläuche und machten uns hinter die Pumpen. Dort, wo die Strassen nicht mehr überflutet waren, ergoss sich das heraufgepumpte Wasser in die verstopften Rinnsteine und richtete eine neue Überflutung an. Auf dem Ortskommandoposten trat unterdessen der Kommandostab zusammen. Es gab noch viele Schwierigkeiten, vor allem organisatorischer Art. Es waren zu viele Helfer da. Ständig kamen welche hinzu, vor allem aus den umliegenden Ortschaften. Die Menge der im Einsatz stehenden Helfer vervielfachte sich beängstigend, war kaum noch zu koordinieren. Wir traten uns gegenseitig auf die Füsse. Als Gunzenhauser den Befehl zur “Neuaufstellung” erteilte, hatten wir uns schon längst aus den Kellern zurückgezogen.

 

Am Eingang des Ortskommandopostens standen wir uns die Beine in den Leib. Es sah nicht gut aus. Der Kommandostab hatte sich verschanzt. Die neu aufgestellte Mannschaft blieb draussen. Die Mannschaftsstärke hatte sich vervielfacht. Aber wozu? Diese Frage drückte auf die Stimmung. Wer sich leutselig gab, wurde gemieden und als Schwätzer abgetan: der Mannschaftsgeist war gebrochen. Das einzige, was uns jetzt noch verband, war das Bedürfnis, die Warterei irgendwie zu überbrücken. Etwa fünfzig Mann hoch gingen wir ins Milchhüsli, um uns mit Getränken, Zigaretten und Zvierisnacks einzudecken. Zivilpersonen, die in Erwartung der vielleicht länger dauernden Isolierung des Dorfes nichts Gescheiteres zu tun gehabt hatten, als Vorräte zu hamstern, hatten das Milchhüsli schon vor Stunden geräumt. Ausser Zigaretten und Haushaltspapier gab es so gut wie nichts mehr. Während wir mit unsern schlammverdreckten Gummistiefeln im Laden umhertrampelten, begann Sämi Abgottspon - Milchgenossen-schaftsverwalter und Teilzeitverkäufer - den Boden zu schrubben. Das war uns peinlich, obwohl uns der Mann ja gar keine Vorwürfe machte, er schrubbte ja nur. Er nahm uns wortlos hin, fatalistisch, als wäre unser Herumtrampeln und Dreckverteilen genauso unvermeidlich wie jene Naturgewalt, die zu bekämpfen wir im Dienst standen.

 

Über Funk befahl mich Gunzenhauser ins “Headquarter”. Dort erwarteten mich zwei Herren in piekfeinen Anzügen. Es waren Versicherungsexperten, die, auf welchen Wegen auch immer, mit ihren schlanken Aktenköfferchen herbeigeeilt waren, um sich das sogenannte Schadensgelände anzusehen. Gewissenhaft unterstellten sie sich der Observanz der örtlichen Zivilschutzsektion. Die Aufgabe, die mir Gunzenhauser auftrug, bestand darin, diese Managertypen durch das stehende Wassers zu lotsen, und zwar möglichst so, dass keiner von ihnen schwimmen oder tauchen musste. “Immer schön im Seichten bleiben,” ermahnte Gunzenhauser die beiden Neulinge, “alles andere wäre ungesund.” Immerhin hatten sie sich in solide Gummistiefel gezwängt. Da sich die meisten innerörtlichen Strassen in unberechenbare Flüsse verwandelt hatten, liess ich meine Schutzbefohlenen über Zäune und Mäuerchen klettern. In den schleim- und sandbedeckten Gärten ging es nur langsam voran. Ich liess die Herren inspizieren, was immer sie inspizieren wollten, behielt sie jedoch im Auge, das Gelände war allzu unübersichtlich, und überall drohten Schlammlöcher. Halb versteckt hinter schrottreif gestrandeten Ladewägen und Mähdreschern beobachteten uns die einheimischen Bauern misstrauisch, während die geschniegelten Herren an ihren Krawatten zupften und mit Taschenrechnern hantierten, um die Schäden zu beziffern. Etliche Hühner waren ertrunken, Kellerräume standen unter Wasser, und viele Landarbeitsmaschinen mussten ersetzt werden. Doch das waren Bagatellschäden. Die eigentliche Katastrophe war, dass die Geschiebe des Fluebachs die Hauptstrasse verschüttet hatten. Da nützte auch die teuerste Versicherung nichts! Der Flaschenhals war verstopft, die einzige Zubringerstrasse blockiert. Für Schwertransporte blieb nur noch der Luftweg. Den ganzen Nachmittag hörten wir das Schwirren der landenden und startenden Helikopter. Wie Riesenlibellen, nervös und gebieterisch, beschützend und emsig, surrten sie über unsere Köpfe hinweg, beladen mit Arbeitsmaschinen und Trinkwasserkanistern, aber auch mit dem obligaten Brot- und Cervelatkontingent für die Verpflegung der Hilfsmannschaften. Helikopter, die ihren Auftrag erfüllt hatten, bogen bei der Zapfholderen nach Süden ab und verschwanden leicht gekippt hinter der steil vorspringenden Kante des Hünenbergs. Die Versicherungsexperten und ich kämpften uns am Boden weiter voran. Immer wieder querten wir Bachläufe, die erst seit der Flut existierten, und kletterten über neu enstandene Kieshaufen. Die vielen rund ums Dorf postierten Hydranten hatten etwas Lächerliches. Den Rundgang beschlossen wir mit einem Besuch im Bären. “Meine Herren, das geht auf Rechnung des Zivilschutzes!” verkündete ich. Die Versicherungsexperten liessen sich das nicht zweimal sagen. Nach jeder Bestellung verlangte ich von Mädi eine Quittung mit Unterschrift. Anfangs sträubte sie sich. “Mädi,” sagte ich, “du kennst doch unsere Administration. Da muss alles seine Richtigkeit haben.” Kaum waren die Herren winkend und lachend in einen der startbereiten Helikopter gestiegen, fiepte und knackste mein Funkgerät. Ich hielt es mir ans Ohr. Aus den wirren Störfrequenzen, die den Empfang überlagerten, drang eine Art Hundegebell. Es war Gunzenhauser: “Schadensplatz Zapfholderen, aber ein bisschen dalli!” Dass ich in der Beiz gewesen war, dazu noch offiziell und auf Kosten des Zivilschutzes, hatte sich bereits herumgesprochen. Anstatt mich zu begrüssen, drückte man mir wortlos einen Pickel in die Hand. Es fing an zu regnen. Die Männer setzten sich ihre zusammenfaltbaren Regenhütchen auf, grummelten ein paar Flüche und arbeiteten weiter. Wild ineinander verkantete Holzblöcke wurden zersägt, Felstrümmer weggehievt, Kieselsteinhaufen abgetragen. Ich schwitzte, bevor ich überhaupt einen Finger rührte, und bald schon machte ich einen diskreten Abgang. Als Kopfarbeiter hatte ich das dringende Bedürfnis nach etwas Geistigem.

 

Der Burgermeister tat gut. Ich nahm Schluck für Schluck, wie am Zählrahmen ging das, und schliesslich fühlte ich mich nach der ganzen Schinderei wieder einigermassen als Mensch. Rülpsend stellte ich das Glas auf den Tisch. Eine Weile schob ich es hin und her und liess es mehrmals mit dem Salzstreuer kollidieren, dann sah ich auf den zerstörten Biergarten hinaus. Die Plastikstühle waren zu einem fest verschnürten Turm gestapelt. Er stand noch, wie durch ein Wunder, während die Blumentröge ringsum zertrümmert waren. Die Wärme des Alkohols liess nach. Seufzend zückte ich mein Portemonnaie und begann das Münz herauszuklauben. Mit der Schnelligkeit eines Gedankens trat Mädi an meinen Tisch. Mädi war für den örtlichen Zivilschutz insofern eine wichtige Person, als sie die “mannschaftsinterne Bodenverständigung” (Gunzenhauser) aufrecht erhielt. Bei ihr lief alles wie von alleine - und meistens auch noch blitzschnell. Ja, Mädi war die schnellste und zuverlässigste Serviertochter der Welt, und auch im grössten Trubel blieb sie freundlich und gefasst. In ihrem “Aktivitätsbereich” (Gunzenhauser) wurden Katastrophenszenarien entworfen und bestandene Manöver gebührend begossen. Jetzt aber war ich der einzige Gast und Zivilschützer, der sich hier eingefunden hatte, es war niemand da, mit dem ich dienstlich hätte kommunizieren können, die Bodenverständigung war vollständig zum Erliegen gekommen. Nur gut, dass Mädi noch da war. Sie war die Pflichterfüllung in Person. Für den Fall, dass das Stromnetz bis zum Abend nicht wieder funktionieren würde, hatte sie zwei ausgestaubte Militär-Kerosinlampen aus dem Keller geholt. Sie war die Muse des Zivilschutzes, das wusste ich, mit ihrer Unterstützung würden wir auch gegen den Weltuntergang antreten können.

 

 

2013