Bibelvergötzung

 

 

Eine Schmähschrift gegen die Dummgläubigen

 

Die Bibel ist kein kohärentes, in sich geschlossenes Werk wie der Koran, als Leitfaden für die Lebenspraxis taugt sie nicht. Ja, sie taugt nicht einmal als Fundament für das Christentum. Aus den unzusammenhängenden und allzu verschiedenartigen Bibeltexten kann sich jeder heraussuchen, was er will und braucht: faktisch läuft das auf Willkür hinaus. Ohne die Katholische Kirche, die diese Willkür in Schach hält und eine subjektive Bibelvergötzung verhindert, wäre das Christentum schon längst vor die Hunde gegangen. Die Bibel ist eben nicht das, was die Bibelfundis so gern in ihr sehen: sie ist nicht das “Wort Gottes”. Sie ist kein “geheiligtes” Buch wie der Koran, der, angeblich von höherer Macht diktiert, als die in Buchform inkarnierte göttliche Weisheit einen Rang beansprucht, den die Bibel nicht beanspruchen kann und darf. Die Bibel ist etwas anderes, sie ist ein blosses Zeugnis, sie enthält Berichte, Zeugenaussagen und Meinungen, die zum Teil sehr weit voneinander abweichen. Das ist weiter gar nicht so schlimm, denn die göttliche Inkarnation sehen und erleben die Christen in Jesus und nicht in der Bibel. Wer mit Bibelzitaten um sich wirft in der Absicht, “die Wahrheit zu verkünden”, hat etwas Grundsätzliches am Christentum falsch verstanden. Sogar die reformierte Kirche, die dem geschriebenen und gesprochenen Wort einen hohen Stellenwert einräumt, lehnt eine wortwörtliche Bibelauslegung vehement ab: “Die fundamentalitische Gleichsetzung des Wortes Gottes mit den Bibelbuchstaben führt zu einem folgenschweren Irrtum. In dem Bestreben, dem Wort Gottes ja nichts von seiner göttlichen Autorität zu nehmen, übersieht man, dass Gottes eigentliches Wort seine Menschwerdung ist, und macht aus der Bibel einen biblischen Götzen.” (Fischer Lexikon Christliche Religion, Hrsg. P. Oskar Simmel und Dr. Rudolf Stählin, 1957) Die Evangelikalen befinden sich im Irrtum, wenn sie in der Bibel eine Anleitung zum “richtigen Glauben” oder zum “richtigen Leben” sehen. Die ausser- oder freikirchliche Inanspruchnahme der Bibeltexte verkennt den eigenen blinden Fleck. Nicht nur die Bibel ist historisch bedingt, sondern auch der Glauben. Nicht die Bibel definiert die Christen, sondern die Christen definieren die Bibel, sie definieren, was die Bibel auszusagen hat; sie autorisieren das Heilige Buch und bestimmen aus ihren durchaus weltlichen Bedürfnissen heraus, inwieweit es gültig sein darf. Immer wird da irgendwo eine Grenze gezogen, die die Bibeltreue exakt auf das gerade Gewünschte und Erforderliche abstimmt. Das heisst: jede Lesart ist selektiv und geht nur gerade so weit, wie es den Lesenden passt. Sie legen sich die Bibel nach ihrem eigenen Gusto zurecht, sortieren, gewichten, filtern und liften 1189 Kapitel eines Buches, das eigentlich kein Buch ist, sondern eine hundertfach redigierte Schriftensammlung mit unendlich vielen inhaltlichen und formalen Abstufungen. Und so wird die ganze Fülle des uneinheitlichen Textmaterials auf eine bestimmte Lesart zurechtgestutzt. Dieses Vorgehen ist allen Christen gemeinsam; eine Schriftreligion, die auf einer so grossen Bandbreite verschiedenartiger Texten beruht, kann gar nicht anders vorgehen. Die Frage ist nur, wie bewusst und selbstkritisch sie damit umgeht. Daran misst sich letztlich die Seriosität des Zugangs zum Christentum: wer diesen Zugang herausstellt, ihn zur Lebensfrage macht, steht den unterschiedlichsten Glaubenskonzepten und Wahrheitsansprüchen gegenüber, muss Entscheidungen treffen und Überlegungen anstellen, kurzum: ohne Kopf geht hier gar nichts. Die Evangelikalen glauben sich im Besitz göttlicher Legitimität, weil sie das Bibelwort als ihre höchste Autorität ansehen. Dabei entgeht ihnen völlig, dass sie es sind, die diese Autorität erschaffen und einsetzen, sie sind es, die den biblischen Textkorpus autorisieren, indem sie ihn zurechtstoppeln und alles, was ihrem Glaubensideal zuwiderläuft, aus ihm entfernen. Sie ermächtigen sich zu einem Glauben, den sie fälschlicherweise der Gnade des Herrn zuschreiben. Nein, der Herr war’s nicht. Sie selbst waren es. Sie glauben, das Bibelwort würde sie verwandeln und verzaubern, und merken nicht, dass sie die eigenen Zaubereien in die Bibel hineininterpretieren. Das Bibelwort ist wie für sie geschaffen, kein Wunder, denn sie selbst verantworten die Redaktion. Sie schustern es sich zurecht. Sie kontextualisieren es, machen es alltagstauglich und unterwerfen es Bedürfnissen, die so subjektiv, zeitbedingt, eskapistisch und unbiblisch sind wie beispielsweise die Bedürfnisse von Karl-May-Lesern. Auch Karl-May-Leser betreiben einen Kult, auch sie haben ihre Lichtgestalt. Ob man Winnetou oder Jesus verehrt, ist aus psychologischer Sicht kaum zu unterscheiden. In beiden Fällen handelt es sich um eine Projektion, lebt jemand seine Phantasie aus. Die menschliche Vorstellungskraft (auch das Wunschdenken) kann so gut wie jedes Feld besetzen. Zum Glück sind die kirchlichen Exponenten - trotz ihres Mitgliederschwundes - nach wie vor in der Lage, das Christentum so zu definieren, dass es nicht zum Selbstbedienungsladen verkommt. Sie durchschauen den evangelikalen Missbrauch und versuchen ihn einzudämmen. Als Institution mag die Kirche (sowohl die katholische als auch die reformierte) beschränkt und rückständig sein, aber sie hat immerhin ein Bewusstsein davon, dass die Bibeltexte nicht unbedacht übernommen werden dürfen. Sie hat einen ausgeklügelten Deutungsapparat entwickelt, kooperiert mit Philosophie und Wissenschaft und bemüht sich um einen Glauben, der den Kriterien der Vernunft standhält. Oder diese Kriterien zumindest berücksichtigt. Ganz anders die Evangelikalen, ihnen fehlt für diese Problematik jedes Bewusstsein. Wenn die Glaubenszeugnisse primitiver Wüstenbewohner und antiker Strassenprediger für die wissenschaftlich aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts zur Lebensnorm erhoben werden, ist das nicht nur skurril, sondern geradezu kriminell: ein Akt geistiger Selbstverstümmelung. Wer sich Christ nennen will, ohne als Idiot dazustehen, muss mit einem gewaltigen Widerspruch fertig werden, und das geht nicht ohne Kopf. Seit mehr als zweihundert Jahren mühen sich kluge Theologen damit ab, diesen Widerspruch zu lösen, und lösen können sie ihn nur, wenn sie die Bibel einer kritischen Deutung zugänglich machen. Doch just davon wollen die Evangelikalen nichts wissen. Ihre Lesart geht weit hinter die Theologie zurück, mit ihrer Buchstabengläubigkeit (die Jesus wohl schwerlich gutgeheissen hätte, er selbst polemisierte an vorderster Front gegen die Buchstabengläubigen seiner Zeit) setzen sie sich über Traditionen und Denkformen hinweg, die für ein humanes und vernunftgemässes Christentum unerlässlich sind. Jeder Theologiestudent ackert schon im ersten Semester die Synopsis durch und weiss ebendeshalb sehr genau, dass sich die Evangelien in einigen entscheidenden Punkten massiv widersprechen. Niemand kann behaupten, diese Texte seien von Gott oder dem Heiligen Geist diktiert worden, ohne sich und seinen Glauben zu diskreditieren. Die Evangelikalen (wie überhaupt alle Bibelfundamentalisten) unterstellen Gott unwissentlich eine sträfliche Inkompetenz. Sie behaupten nämlich, er sei nicht in der Lage gewesen, sich klar zu äussern. Wenn Gott tatsächlich die Absicht gehabt hätte, sich der Menschheit in einem “geheiligten” Buch zu offenbaren, so hätte er wahrscheinlich wenig Grund gehabt, den göttlichen Masterplan als Verwirrspiel zu offenbaren. Dieser Gott muss ja ein rechter Stümper sein. Wieso vier verschiedene Evangelien? Woher die widersprüchlichen bis konfusen Berichte über Jesu Auferstehung? Und woher die Parusieverzögerung? Errare humanum est, solche Irrtümer, Vagheiten und Willkürlichkeiten kommen eben daher, dass die Autoren und Protagonisten der Bibel Menschen gewesen sind. Da gab es keinen Regisseur, der alle Fäden in der Hand hielt, da gab und gibt es auch keinen Zentralpunkt, keine zentrale Aussage. Das Christentum wurde gemacht, und zwar nach Massgabe dessen, was gerade opportun schien, es ist buchstäblich Flickwerk. Das Problem ist hier nicht die Bibel, die als zeitlose Dichtung - ähnlich wie die Illias und die Werke Shakespeares - und in den Grenzen ihrer Zeitbezogenheit sogar als Glaubenszeugnis durchaus gewürdigt werden kann: dagegen ist wenig einzuwenden. Das Problem ist vielmehr die fundamentalistische Bibelrezeption. Leider wird die Problematik des Bibelfundamentalismus allzu oft an der Bibel festgemacht. Ein gängiger Irrtum. Die Bibel kann nichts dafür, dass sie von Idioten gelesen wird. Evangelikale Bibelvergötzung ist zutiefst unchristlich, eigentlich eine Häresie. Das Christentum kennt keine Buchstabenbindung, und zwar aus guten Gründen. Die Bibel ist nicht wie der Koran ein Buch, an dem kein Komma geändert werden dürfte. Sie ist ein Sammelsurium, eine ganze Bibliothek, ein Chor von Stimmen und Meinungen. Dank dieser Weiträumigkeit hat die Bibel auch glaubensferne Leute wie Bertold Brecht oder Samuel Beckett in ihren Bann gezogen, während es dem Koran schon von seinem Anspruch her schwerfällt, in der modernen Welt Akzeptanz zu finden. Er behauptet, vom ersten bis zum letzten Wort “gechannelt”, d.h. von Gott diktiert worden zu sein. Mit einem solchen Anspruch kommt ein Buch heute nicht mehr durch. Modernes Denken akzeptiert keine “göttliche Autorisierung". Diese aber wird vom Koran monologisch und monomanisch behauptet, und so manövriert er den Islam in eine Sackgasse, die dem Christentum erspart bleibt. Das Problem liegt im Christentum ganz woanders. Mit ihrer Buchstabengläubigkeit fundieren die Evangelikalen eine Haltung, die sich zwar betont bibeltreu gibt, aber in Wirklichkeit weniger der Bibel als einer subjektiven Lebensauffassung verhaftet ist: man versucht sich den unbequemen Forderungen und Ansprüchen der Moderne zu entziehen, indem man sich in die einfachen, scheinbar überzeitlichen und göttlich sanktionierten Gewissheiten eines vorwissenschaftlichen Weltbildes hineinflüchtet. Diese Haltung ist so verlogen und verschroben, dass sie als pathologisch eingestuft werden müsste. Übrigens auch aus christlicher Sicht. Warum gibt es überhaupt so etwas wie Theologie? Eben darum! Weil man einen Text aus der Antike nicht eins zu eins übernehmen kann. Versucht man es trotzdem, verwickelt man sich in unauflösbare Widersprüche. Auch die grössten Hardliner unter den Evangelikalen putzen ihre Zähne mit einer Zahnpasta, die von naturwissenschaftlich geschulten Laboranten unter streng rationalen Gesichtspunkten entwickelt worden ist und nie und nimmer hätte entwickelt werden können, wenn wir heute noch dasselbe Weltbild hätten wie die Verfasser der Bibeltexte. Würden die Evangelikalen ihre Zähne mit Urin putzen, in Beduinenzelten schlafen, Schafe schächten und bei Vollmond heilige Verse rezitieren, wären sie konsequent - das Problem wäre dann nur, dass sie sich von der modernen Zivilisation lossagen müssten. Das wiederum tun sie natürlich nicht, im Gegenteil, sie gestalten ihre Gottesdienste als Popkonzerte und zelebrieren die konsumistische Emotionalität von MTV. Überhaupt, mit der Konsequenz ist es bei den Evangelikalen so eine Sache. Alles in allem machen sie gute Geschäfte mit dem Glauben und vergessen dabei, dass Jesus mit der Peitsche auf die Tempelhändler losgegangen ist. Bei ihren Grossveranstaltungen geraten sie in Ekstase, recken die Fäuste empor und schreien “Jesus! Jesus!” Dabei vergessen sie, dass Paulus die Gläubigen vor solchem Verhalten gewarnt hat, (“seid besonnen und nüchtern”), und wahrscheinlich ist ihnen auch nicht bewusst, dass Jesus selbst, als hätte er das alles kommen sehen, von zukünftigen Anhängern gesprochen hat, die sich in ihrer Glaubensinbrunst als Lämmer Gottes aufspielen, inwendig aber eigentlich Wölfe sind. (Matthaeus 7, 15-23) Bezeichnenderweise kennen die ansonsten so bibelfesten Evangelikalen solche Bibelstellen nicht. Ihr Glaube gibt sich bibeltreu, unterliegt aber einer rigiden und völlig unqualifizierten Selektion. Genaugenommen handelt es sich dabei um ein völlig losgelöstes, selbstgebasteltes Christentum für Spinner und Idioten. Dieses Christentum ist fundamentalistisch, wenn auch nur in einem naiven Sinn. Die theologische Fundierung fehlt. Dafür spricht zum Beispiel auch die Tatsache, dass die Evangelikalen ihre ganze Gläubigkeit auf übersetzten Texten aufbauen; ihre Prediger zitieren die Bibel weder auf Hebräisch noch auf Griechisch, geschweige denn auf Aramäisch. Dass moderne Bibelübersetzungen auf einem historisch-kritischen Deutungsapparat beruhen und dass die Bibel - anders als der Koran - keinen Anspruch erhebt, verbalinspiriert zu sein, ist ihnen ebenso wenig bewusst wie die Tatsache, dass eine fundierte Bibelkenntnis jeden Fundamentalismus ausschliesst. Studierte Theologen sind gegen den Fundamentalismus meistens resistent. Sie wissen aus erster Hand, dass die biblischen Berichte fehlerhaft sind, voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Gott hat sein eigenes Buch anscheinend sehr schlecht redigiert! Die Sache ist ja reichlich seltsam. Von Exegese und Hermeneutik haben die Evangelikalen keinen blassen Schimmer, aber sie meinen ganz genau zu verstehen, was in der Bibel verkündet, gedacht und erzählt wird. Und nichts bringt sie davon ab, an einen göttlichen Textmacher zu glauben, der mit Hilfe des Heiligen Geistes das “richtige” Verständnis der biblischen Texte garantiert. Jedes einzelne Bibelwort ist gemäss ihrer Auslegung exakt so gemeint, wie sie es verstehen und es sich aneigenen. Und natürlich hat der Herrgott in seiner übergrossen Weisheit auch an die Dümmsten unter den Evangelikalen gedacht und die göttlichen Aussagen extra so zurechtgelegt, dass auch der beschränkteste Verstand damit umgehen kann. Klar, gilt Lichtenbergs Sentenz auch hier: wenn ein Affe in den Spiegel schaut, schaut ein Affe zurück. Wenn ein Evangelikaler die Bibel liest, dann liest er eben eine evangelikale Bibel. Was die Evangelikalen als göttlich autorisierte Wahrheit ausgeben, ist in Wirklichkeit ein Dumpfbacken-Präparat. Diskutiert man mit einem Evangelikalen über Glaubensfragen und versucht man ihn dabei in die Enge zu treiben und sein göttliches Über-Ich zu knacken (was ganz schön Puste braucht), so wird er sich früher oder später in den Zirkelschluss der Gefühlsevidenz hineinflüchten. “Ich glaube, also habe ich Recht”. “Ich fühle das so, also muss es stimmen.” Diskussion beendet. Wer so argumentiert, hat nicht wirklich begriffen, was Glauben heisst. Ein Bergsteiger bezwingt einen Berg nicht dadurch, dass er mit einem Helikopter auf den Gipfel hinauffliegt. Glauben kann niemals eine Ausrede für Denkfaulheit und geistigen Opportunismus sein. Das Gefühl, das den Denkfaulen oft als Alibi dient, weil es unbegründete und unbegründbare Annahmen vermeintlich als richtig anzeigen kann, ist kein Garant für irgendeine Wahrheit, im Gegenteil. Fühlen kann man alles, das emotionale Gehirnareal ist die Illusionsmaschine par excellence.

 

2012