Künstlers Ungestalt

 

In der Kunst ist der Künstler nicht der Wissende. Er ist nicht Wissenschaftler, hat kein Lehrerdiplom und bekleidet auch kein Priesteramt. Seine Kompetenz liegt nicht im Erklären, sondern im Zeigen, und meistens nicht einmal dort. Was zeigt uns der Künstler? Was holt er zu uns heran? Die Antwort ist einfach: seine Kunst. Mehr ist da nicht. Künstler wird man, weil man zu nichts taugt und erkannt hat, dass “Irgendwas tun” ab einem bestimmten Niveau als Kunst durchgeht. Vom Machen her betrachtet ist Kunst eine Selbstermöglichung auf Bastelbasis, aber sicher kein Kompetenzerweis. Diese Selbstermöglichung liefert sich ungern aus, sie akzeptiert keine Ansprüche von aussen. Deshalb operiert sie mit Verweigerung, mit einem schwierig zu definierenden Daran-Vorbeigehen. Sie ist eine Absage an jeden vorgegebenen Sinn und Zweck. Sie bietet keinerlei Hilfe, egal auf welchem Gebiet. Geht sie den umgekehrten Weg und dient sich der Gesellschaft an (der Künstler als Koch, Sozialarbeiter, Wissenschaftler etc.) so nähert sie sich ihrer Auflösung. In dem Grad, wie Kunst sich nicht verweigert, verliert sie ihre Essenz, geht in etwas anderes über. Den Gegenpol zu einer Kunstauffassung, die mit gesellschaftlicher Verwertbarkeit, dem sozial Werthaltigen operiert, besetzen Kunst-Puristen, Minimalisten, L’art-pour-l’art-Exponenten, Post-Expressionisten, Post-Surrealisten und Post-Dadaisten, verschiedene Lager, die sich zwar nicht immer so mögen, aber bezüglich der Frage, wie sich Kunst in der Gesellschaft zu positionieren habe, doch ganz ähnliche Auffassungen vertreten: Kunst soll autonom sein, nicht verfügbar, nur sich selber zugehörig. Freilich gibt es auch hier verschiedene Abstufungen: solange zum Beispiel ein Maler darauf zählen kann, dass seine Bilder irgendwie dekorativ wirken, kann er seine Kunst als nützlich betrachten. Seine Bilder sind nützlich, weil sie schön sind. Oder besser gesagt: weil sie irgendwie schön sind. Sie genügen formalästhetischen Kriterien oder thematisieren diese Kriterien durch Regelbrüche. Hier geht es um Formfragen, um Anmutung, Gestaltung, Wahrnehmung und dergleichen mehr. Formalismus ist ein beliebter Trick künstlerischer Selbstlegitimierung. Doch nicht jeder Künstler kann sich so leicht aus der Affäre ziehen. Es gibt auch eine Welt neben der Kunst, es gibt die reale Welt, zu der man als Mensch (und nicht nur als Künstler) irgendeine Haltung einnehmen muss. Diese Haltung kann sich nach ethischen Werten ausrichten oder die totale Verweigerung beinhalten, so nach dem Motto: die Welt ist eh nur Einbildung. Hüben wie drüben gibt es Puristen. Und dazwischen gibt es Künstler, die sich mit Vorbedacht zwischen Stuhl und Bank setzen. Ein Künstler, der den Formalismus umgeht, aber gleichzeitig auch keine gesellschaftliche Thematik herausstellt, macht etwas sehr Seltsames. Nennen wir diesen Künstler “Radikal-Künstler”. Der Radikal-Künstler lässt aus, verbirgt, erzeugt Unsichtbarkeit, Unhörbarkeit, Unsagbarkeit, erzeugt Verunklärung ausgerechnet dort, wo er darstellt und zeigt. Ausgerechnet dort, wo Sichtbares, Lesbares und Hörbares eine fassbare Form findet, ist auf einmal alles unklar, das Verständnis fraglich, der Sinn vernebelt. Da baut jemand ein Haus ohne Türen und Fenster. Jedem ist klar, dass dieses Haus unbewohnbar ist, und weil man das erkennt, erkennt man auch, dass es ein Haus ist. Das ist logisch und unlogisch zugleich. Um feststellen zu können, ob ein Haus bewohnbar oder unbewohnbar ist, muss man das Haus als solches identifiziert haben. Falls sich herausstellt, dass es nicht bewohnbar ist, wird die Identifizierung rückwirkend negiert und gleichsam widersprüchlich. Auf diesem Widerspruch beruht auch die Radikal-Kunst. Sie ist zwar als Kunst erkennbar, ist also weder Wissenschaft noch Dienstleistung, aber dennoch verweigert sie sich jeder direkten Zuschreibung. Je mehr der Radikal-Künstler macht, desto unbegreiflicher wird sein Werk, desto ungreifbarer erscheint, was sich da Ausdruck verschafft. In seinem Tun steckt immer ein Nicht-Tun, ein Sich-Davonstehlen und Auslassen. Er schreibt mit weisser Tinte, malt Vexierbilder, zeichnet in die Luft und springt beim Interview aus dem Fenster. Er stellt sich aus und stellt sich dar und macht sich dabei völlig unkenntlich. In allen seinen Betätigungen bringt er sich zum Verschwinden. Er schlüpft durch ein Loch, das er gezeichnet hat, ein Witz, selbst sein Entschlüpfen ist zweifelhaft. Darin unterscheidet er sich vom dokumentarisch arbeitenden Künstler, der die Welt interpretiert, desgleichen vom Hobby-Künstler, der selbsttherapeutisch oder dekorativ arbeitet, wie auch vom Grafikdesigner, der Botschaften grafisch verpackt oder Form und Funktion in Übereinstimmung bringt, darin unterscheidet er sich überhaupt von allen anderen Kreativen. In gewisser Weise repräsentiert der Radikal-Künstler das Nicht-Verfügbare der Kunst. Seine Radikalität steckt in jedem Künstler, wenn auch ganz unterschiedlich dosiert. Der Künstler ist nicht Künstler, weil er über ein höheres Können oder eine besondere Kompetenz verfügt, noch weniger ist er Künstler, weil ihm ein überdurchschnittliches Mass an Kreativität eignet, überdurchschnittliche Kreativität findet man auch bei Köchen und Wissenschaftlern, auch bei der Grossmutter, die ein neues Guetzlirezept austüftelt: was den Künstler zum Künstler macht, hat vielmehr mit einer besonderen Verschiebung oder Brechung zu tun, mit etwas, das ausserhalb der Kunst als vollkommen sinnlos dasteht. In der Tat wäre es schon etwas seltsam, wenn ein Klempner seine Rohre verkehrtherum zusammenschrauben würde, weil “das irgendwie interessant aussieht”. Natürlich gibt es auch Künstler, die eine solche Haltung ablehnen. Sie stemmen sich gegen den eigenen Eigensinn. Sie plädieren für eine kommunizierbare Kunst, eine Kunst, die verwertbare Aussagen und Antworten liefert. Der Künstler als Luftakrobat? Alles, nur das nicht! An Hochschulen und Forschungsinstituten wird denn auch gezielt daran gearbeitet, den Status des Künstlers aufzuwerten. Viele Künstler - und inzwischen sind es vielleicht sogar die meisten - geben sich den Anschein von Dienstleistern, Sozialarbeitern, Forschern und Welterklärern. Warum nicht? Erlaubt ist in der Kunst sowieso alles, zumindest theoretisch, und wenn sich ein Künstler als gesellschaftskonform definiert, so wird ihm das hoch angerechnet. Ein nützlicher Künstler! So etwas hat die bürgerliche Gesellschaft doch schon immer gewollt. Dass die interdisziplinäre "Aufgabenerweiterung" im Kunstkontext nicht unbedingt ein Zugewinn ist, sondern eher ein Zugeständnis an finanzielle und institutionelle Rahmenbedingungen, liegt auf der Hand. Steigt der Künstler von seinem Lufttrapez, gewinnt er weder an geistiger Höhe noch an künstlerischer Substanz. Er schlüpft in eine Rolle, mimt den Spezialisten, protzt mit oberflächlichen Bildungsmixturen. Seine wissenschaftlichen Anleihen sind so willkürlich wie unverbindlich: er ist ja immer noch Künstler, um wissenschaftliche Masstäbe braucht er sich nicht zu kümmern. Diese Unbekümmertheit nennt er "künstlerische Freiheit". So ist er fein raus und erhält sogar noch einen Extra-Aufmerksamkeitsbonus. Natürlich spricht nichts gegen einen erweiterten Kunstbegriff: solange man noch weiss, was man da erweitert. Je nach Thema und Aktualität kann das zu interessanten Ergebnissen führen. Kann, muss aber nicht - und schon gar nicht, wenn daraus eine Doktrin gemacht wird. Eine Kunstrichtung, die sich um jeden Preis mit "seriösen" Fachgebieten messen oder sich mit ihnen vermischen will, ist eine Sackgasse. Hier entsteht zwangsläufig Zweitrangiges. Im direkten Vergleich zu den faszinierenden und bahnbrechenden Forschungen, die man im CERN oder bei der NASA anstellt, sind die scientistischen Kunstprojekte eines Olafur Eliasson ziemlich dröge. 

 

2013