Moderne Spukhäuser

 

Eine Reportage über das Hörensagen

 

Wohlverstanden, mit Esoterik hatte diese Kollegin nichts am Hut. Sie wohnte lediglich in einem alten Haus, dort, wo Häuser noch gruftig und verwinkelt sind: in der Basler Innerstadt. Als ich sie wieder einmal neidisch auf ihre Altbauwohnung ansprach, erwähnte sie ganz beiläufig die Schritte im Treppenhaus. Da komme manchmal jemand die Treppe hoch, und wenn man dann nachschaue, sei niemand da. Angst habe sie noch nie gehabt. Es sei harmlos. Sie lebe damit. Immerhin geniesse sie das Privileg, in einem mittelalterlichen Haus zu wohnen.

 

Ein Spukhaus also. Dass vernünftige Menschen des 21. Jahrhunderts, die Handys und Internet benutzen und pünktlich ihre Stromrechnungen bezahlen, mit Geistern gar nicht so ungern in Berührung kommen, ist eigentlich logisch. In einer entzauberten Welt bürgen die Geister für den Fortbestand einer Realität, die noch nicht ganz so normiert ist wie unser Alltagsbewusstsein. Es tut gut, wenn man merkt, dass die Geister noch da sind. Es ist wie mit der Folklore. Trachten und Heugabeln sind sinnlos: aber sie tun gut. Ob wahr oder erfunden, um sieben Ecken herum weitererzählt oder authentisch und verbürgt: Spukgeschichten sind noch längst nicht abgehakt. Und auch insofern weisen sie eine Parallele zur Folklore auf, als sie in ihrer klischierten Form liebevoll gepflegt und tradiert werden. Oft bilden Spukhäuser den Mittelpunkt solcher “urban legends”. Es liegt – wie zahlreiche volkskundliche und literaturhistorische Studien nachweisen – durchaus in der Konsequenz des Unheimlichen, dass es mit Vorliebe dort auftritt, wo es am empfindlichsten stört: im bewohnten Haus. Kinder scheinen das noch instinktiv zu wissen, wenn sie abends, bevor sie das Licht ausknipsen, noch schnell unter dem Bett nachschauen, ob sich dort eventuell einer versteckt, nämlich ein Geist.

 

Traditionelle Spukhäuser sind keine Geheimsache. Man tauscht sich bereitwillig über sie aus. Um den kolportierten Spuk geht es hierbei nur vordergründig. Als Kolportageobjekt ist er Bestandteil eines lokalen Erzählpanoptikums, das in Familiengeschichten und historischen Anekdoten, Stadt- und Dorfklatsch, Moralpredigten und grusligen Jahrmarktsmoritaten Geschehenes festhält, reflektiert und ausschmückt. Spukhäuser erzählen. In ihnen “ist etwas passiert”, meistens etwas Schlimmes, Anrüchiges, Heimliches, das jedoch in aller Regel nicht privat bleibt, sondern über Waschweiberzirkel und Dienstbotenzimmer sehr schnell an die Öffentlichkeit gelangt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren Spukfälle eine kollektive Angelegenheit. Sie machten von sich reden. Wo ein Geist erschien, galt es eine Botschaft zu entschlüsseln. Geister wurden als moralische Indikatoren wahrgenommen, als Verkünder und Mahner. In der Folklore des Unheimlichen haben sich die entsprechenden Berichte und Gerüchte bis heute erhalten. Gegenwärtig erleben wir ein richtiges “Gespenster-Revival”. Die alten Schauergeschichten werden aus den verstaubten Truhen geholt, Spukhäuser kann man allerorten besichtigen. Anscheinend ist es uns ein Bedürfnis, an den Geistern und ihren traditionellen Erscheinungsorten festzuhalten. Auf Burgen und Schlössern, in Sennhütten und Altstadthäusern können und wollen wir die Geister zulassen, nicht aber in unsern solargeheizten Einfamilienhäuschen und klimatisierten Büros. Aus dem normalen Leben sind die Geister verbannt. Schon vor mehr als hundert Jahren hat Oscar Wilde in seinem "Gespenst von Canterville" diese Thematik amüsant auf den Punkt gebracht.

 

Trotzdem, ganz vom Tisch ist die Sache nicht. Es könnte ja sein, dass es sich mit Geistern ähnlich verhält wie mit Wildtieren. Je weiter die Städte ins Umland hineinwachsen, desto mehr Wildtiere verirren sich in die Häuserschluchten. Vielleicht gibt es sie ja doch: die moderne Spukhäuser. Wer sagt denn, dass Geister immer mit historischen Ketten rasseln müssen? Könnte es nicht auch in einem Gebäude von Herzog & de Meuron spuken? Oder in der Passerelle des Basler Bahnhofs? Wer solche Fragen stellt, wird schnell mal schräg angesehen. Hier werden die Auskünfte rar, und meine Internetrecherche bringt mich auch nicht weiter. Ausserhalb von Burgen, Schlössern, Sennhütten und Altstadthäusern scheint es nirgends wirklich zu spuken. Als ich einen stadtbekannten Architekten anrufe und ihn frage, ob es in seinen Häusern spuke, schnappt er nach Luft und rät mir, einen Psychiater aufzusuchen. Das bringt mich dann doch noch auf die richtige Fährte. Ich wende mich an Professor Dr. Dr. Walter von Lucadou, den Leiter einer Parapsychologischen Beratungsstelle im deutschen Freiburg. Der Physiker und Psychologe gilt als einer der weltweit führenden Geisterexperten. Seit Jahren macht er sich stark für eine rational begründete Spukforschung. Entgegen der traditionellen Vorstellung, die noch in vielen Köpfen fest verankert ist, sieht Walter von Lucadou in Geistererscheinungen keine Verstorbenen, sondern unbewusst aktivierte psychische Energien, die von einzelnen Personen ausgehen, lebenden Personen natürlich. Der Professor wird mir das noch genauer erklären. Es ist erklärungsbedürftig.

 

Zuerst möchte ich wissen, was Spukhäuser eigentlich sind. Sind das einfach nur alte Häuser, in denen schon ein Vorhangrascheln genügt, damit man fast zu Tode erschrickt? Ist das Alter des Hauses überhaupt relevant, wenn es um Spuk geht? Der Professor verneint. Zweifellos sei die Vorstellung, dass es in gewissen Häusern spuke, noch sehr lebendig. Und natürlich gebe es auch moderne Spukorte. Aber beim Spuk sei nicht das Haus das Entscheidende, sondern der Mensch. Er  wolle das ein bisschen ausführen. Was sei überhaupt Spuk? Schon nach wenigen Sätzen referiert Walter von Lucadou über seine Forschungsergebnisse. Spuk könne eine psychosomatische Reaktion sein, die aber nicht, wie üblich, im Körper stattfinde, sondern nach aussen verlegt werde. Ein innerer Konflikt werde veräusserlicht. Walter von Lucadou gebraucht hier den Begriff "Externalisierung". Der Mechanismus dieses Vorgangs sei noch immer rätselhaft, räumt der Professor ein, aber nach allem, was man wisse, könne psychische Energie den Körper verlassen und sich ausserkörperlich manifestieren, zumindest bei Personen mit entsprechender Disposition. “Auf einmal schlagen Türen auf und zu, Geräusche ohne erkennbare Ursache spuken durchs Haus, Dinge werden verstellt, Gegenstände fliegen herum. Und bei alledem ist das Haus nur die Bühne. Der eigentlich Verursacher des Spuks ist der Mensch, der das Haus bewohnt. Der externalisierte innere Konflikt wird in die altbewährte Erzählform des Spukhauses eingekleidet, wodurch das Unerklärliche erträglicher wird. Es passt dann in ein Erklärungsschema." Und dann kommt der Professor fast übergangslos auf die sogenannte Baubiologie zu sprechen. Auch dies könne ein Grund für Spuk sein: bauliche Mängel und Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit Chemikalien, Infraschall, Magnetismus, Temperaturschwankungen etc. Das Eigenleben des Hauses. Oder schlicht und einfach: Baupfusch. Die Architekten nimmt Walter von Lucadou allerdings in Schutz. Nur in einem Bruchteil der untersuchten Fälle sei man auf baubiologische Störquellen gestossen. Fast immer sei der Spukauslöser ein Hausbewohner. Und um jedes Missverständnis auszuschliessen: ein Hausbewohner, der noch quicklebendig sei.

 

Ja, das ist eben das Dumme. Häuser werden von Menschen bewohnt. Da hilft auch die menschenfreundlichste Architektur nichts: spuken kann es trotzdem. Spuken kann es überall, selbst an den nettesten Orten. Hier hat Walter von Lucadou denn auch ein gutes Beispiel zur Hand: eine idyllisch gelegene Bungalow-Siedlung irgendwo im südlichen Mittelland. Dort, so der Professor, habe es derart heftig gespukt, dass man die Polizei habe einschalten müssen. Und da die spukbedingte Wertminderung des betroffenen Anwesens einen handfesten Rechtsstreit ausgelöst habe, habe man ihn, Walter von Lucadou, als wissenschaftlichen Gutachter beigezogen. Sowohl Betrug als auch das Wirken übernatürlicher Kräfte habe er mit seiner rationalen Analyse ausschliessen können. Nun gut, für mich bleibt dieser Fall dennoch irreal. Den Ort des Geschehens sowie gewisse Einzelheiten, die vielleicht allzu konkret sind, behält Walter von Lucadou für sich. Was genau dort passiert ist, erfahre ich nicht. Haben sich die Rasenmäher selbständig gemacht? Sind die gemütlichen Gartenzwerge plötzlich durch die Luft geflogen? Der Professor möchte dergleichen meiner Phantasie überlassen. Sein Schweigen begründet er mit dem Datenschutz.

 

Ist auch verständlich. Der Spuk ist das eine. Das andere sind die betroffenen Menschen. Zu beneiden sind sie nicht. Was erzählen sie ihren Nachbarn? Ihren Verwandten? Den Kollegen? Was erzählen sie der Presse, wenn die Wind von der Sache bekommt? Die Ansichten über Spuk gehen drastisch auseinander. Der Skeptiker tut ihn als Humbug und Betrug ab. Der Naive bauscht ihn auf. Der Ängstliche will nichts davon wissen. Und dann noch der Esoteriker: schon wenn er nur das Wort "Spuk" hört, macht er Augen, als hätte er zuviel Weihrauch eingeatmet. Wer allerdings in seiner eigenen Wohnung mitansehen muss, wie eine unsichtbare Kraft das Teeservice oder den Toilettenpapierhalter zerschlägt, steht auf einmal zwischen sämtlichen Fronten und muss sich nach allen Seiten hin abgrenzen. Ähnlich ergeht es auch Walter von Lucadou mit seinem transdisziplinären Erklärungsversuch, diesem schwierigen, aber klugen Spagat zwischen Psychologie und Physik.

 

Eines habe ich gemerkt: an moderne Spukhäuser heranzukommen, ist schwierig. Und in sie hineinzukommen, ist wohl noch schwieriger. Wo man sich auch erkundigt, es wird verwedelt oder geschwiegen. Man steht vor verschlossenen Türen, und wenn sich dann doch eine Tür öffnet, muss man sich mit vagen Andeutungen begnügen. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Das war doch schon früher so: in den Waschweiberzirkeln und Dienstbotenzimmern, als über Spuk eifrig getratscht wurde, obwohl oder gerade weil die Faktenlage so dürftig war. Im Unterschied aber zu heute waren diese Storys klar zu verorten. Sie hatten eine gewisse Selbstverständlichkeit. Und insofern waren sie dann doch zugänglich. So bleibt mir also nur das abgenützte Klischee vom alten Spukhaus mit den knarrenden Treppen und den spinnwebverhangenen Ecken. Da weiss man wenigstens, woran man ist. Ein Geist gehört hier einfach zum Mobiliar. Meine Kollegin übrigens, die mit der Basler Altbauwohnung und den knarrenden Fusstritten im Treppenhaus, wohnt heute woanders. Aber nicht wegen des Spuks, sondern weil sie sich mit ihrem Vermieter, einem echten Plaggeist, zerstritten hat.

 

 

 

2009

 

Beitrag für ein Online-Dossier der Architekturzeitschrift "Hochparterre" zum Thema "Emotion und Architektur"