Operation Libero

 

 

"La Suisse dans l'histoire aura le dernier mot."

Victor Hugo

 

Operation Libero ist nicht etwa ein Fussballverein; so nennt sich eine neue Studentenbewegung. Die Initianten sind smart. Und sie sind ehrgeizig. Sie haben sich sehr viel vorgenommen. Sie setzen sich dafür ein, dass die Schweiz eine Zukunft hat. Denn die Zukunft der Schweiz ist bedroht. Wir wissen es alle: es gibt die böse SVP, eine populistische Propagandamaschine, die ständig wieder neuen Mist zettelt, und es gibt die dummen Landbewohner, die in stupider Unbelehrbarkeit desöftern mal ihre Stimmzettelchen falsch ausfüllen. Sobald es um Ausländerfragen oder Minarette geht, verwechseln sie das Ja mit dem Nein oder das Nein mit dem Ja, und die bundesrätliche Empfehlung ist wieder einmal für die Katz gewesen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, kommt jetzt auch noch die Ecopop-Initiative, eine Krake aus den braungrünen Tiefen des politischen und wirtschaftlichen Unverstands. So etwas geht natürlich nicht! Da muss man aktiv werden. Da muss man eingreifen. Einem Studenten, der in den Startlöchern seiner zukünftigen Karriere steht, liegt viel an Mitgestaltung, Vernetzung und Internationalität. Er weiss, wofür er sich einsetzt, wenn er - offen oder verdeckt - den neoliberalen Sozialingenieuren und Grosskapitalverwaltern das Wort redet. Durch gewisse Enwicklungen oder Nicht-Entwicklungen sieht er sich ins Abseits gedrängt. Die “Ich AG”, die ihm für seine Zukunft vorschwebt, braucht eine offene, eine nach EU-Normen orientierte Schweiz. Die Studenten und so gut wie alle gesellschaftlichen Funktionsträger schwören auf die EU, weil sie von deren Vernetzungskapazitäten profitieren. Die EU ist ein Eliteverein, der vor allem Eliten fördert. Und ganz besonders die aufstrebenden Noch-nicht-Eliten, bestehend aus jungen, perfekt angepassten, ehrgeizigen Menschen, die in ihrem Optimierungsdrang ein strahlendes Megalopolis imaginieren, ein New Switzerland aus funkelnden Glaspalästen und umweltfreundlichen Softtech-Infrastrukturen, ein helvetisches Silicon Valley, das den hipen Leistungsträgern und smarten Global Players jede denkbare Vergünstigung gewährt - und im meist verschwiegenen Umkehrschluss alles nicht dazu Passende eliminiert. Und genau hier - im sowohl Verschwiegenen als auch offen Proklamierten einer Ideologie, die jede soziale Trägheit und Unbotmässigkeit weghaben möchte - formiert sich nun die neue Studentenbewegung. Hier findet sie ihren Standpunkt und macht ihn zum Politikum. Er lautet: im Geltungsbereich der EU gibt es ein Vorankommen. Wo die EU nicht gilt, gilt Blocher. Will heissen: Stagnation und Erstarrung, die Trutzburgen-Romantik einer rechtskonservativen Irrlehre. So jedenfalls tönt es von dort, wo man Erfolg, Weltoffenheit und Zukunft in eine einzige Formel gebracht hat, die da lautet: "Die SVP ist Scheisse." Doch wohin zielt diese Formel? Was impliziert sie gesellschaftlich? Wie lautet das Gegenrezept zum Blocherismus? Was hat uns Operation Libero zu bieten? Es ist die Ideologie des grenzenlosen Wachstums, eines wirtschaftlichen Automatismus, der uneingeschränkt und unangefochten gültig sein soll, das Primat der Ökonomie. Unter dieser Wachstumsideologie firmiert auch die Auffassung, die rein marktorientierte, unregulierte Einwanderung, die wir gegenwärtig erleben, sei für die Schweiz ein Segen und deshalb unbedingt beizubehalten. Man predigt ein Schneeballsystem, ohne es als solches zu deklarieren. Der unausgesetzte Arbeitskräfteimport, so die Überzeugung der studentischen Jung-Liberalen, hält die Wirtschaft am Laufen und beschert uns Wohlstand in Hülle und Fülle. Ja sogar Glück! Was die selbsternannte Leistungselite, die dieses Szenarium vorantreibt und verteidigt, unter Glück versteht, kann man sich ungefähr vorstellen: wer sich nach oben strampelt, erwirbt sich das Recht, am Globalisierungswucher mitzuverdienen. Den erhebt Operation Libero zur ultimativen Handlungsmaxime und ignoriert dabei geflissentlich, dass ein Grossteil der Bevölkerung bei dem ganzen Liberalisierungsausbau in die Röhre guckt. Nicht jeder bekommt ein Stück des Kuchens ab. Das durchschnittliche und tiefe Einkommen stagniert oder sinkt, und die Arbeitsplatzsicherheit wackelt. Die Armut nimmt zu, obwohl man diesen Umstand noch halbwegs relativieren kann. (Schöne Vollbeschäftigung dank Billiglohnjobs, unwürdigen Arbeitsbedingungen und frisierter Arbeitslosenstatistik etc.) Unzweifelhaft hat sich die allgemeine Stimmung gedreht. Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit hat sich die Situation für viele Schweizer zum Schlechteren gewendet. Umso besser geht es denjenigen, die auf den oberen Sprossen der Einkommensleiter stehen. Eine privilegierte Minderheit ist eifrig damit beschäftigt, die persönlichen Pfründe zu sichern und aus der sozialen Ungleichheit den grösstmöglichen Gewinn zu schlagen. Wer nicht ganz oben und nicht ganz unten steht und noch einigermassen gut dran ist, weil er wenigstens die Krümel auflesen darf, die von oben herabfallen, versucht die Realität zu verdrängen. Die Tatsache, dass es ihm bald selbst an den Kragen gehen könnte. Die Tatsache, dass immer mehr Menschen immer weniger zu verlieren haben: sogar hier in der reichen Schweiz. So und nicht anders sieht das Gesellschaftsmodell aus, mit dem uns Operation Libero beglücken will. Die Studentenbewegung befindet sich - wie ihr Name schon sagt - in einer Verteidigungsposition. Sie verteidigt ein Ideal, das längst schon Realität ist. Aber eben: diese Realität wird nicht überall willkommen geheissen. Auch auf der Gegenseite gibt es Verteidiger, gut aufgestellte Defensivspieler. Es gibt dort eine Menge Widerstand, den man brechen muss. Und es gibt die Unentschlossenen, Gleichgültigen und rechtspopulistisch Verwirrten, die man auf den rechten Pfad bringen muss. Da muss man eingreifen. Und dem Namen zum Trotz: man muss sogar angreifen. Im Originalton klingt das dann so:

 

Die Operation Libero setzt sich ein für eine Schweiz, die Chancen bietet und Freiheiten schützt. Eine Schweiz, die Zuwanderung als Bereicherung erkennt und die ihre humanitäre Tradition hochhält. Eine Schweiz die weiss, dass sie wegen, und nicht trotz ihrer Offenheit ein erfolgreiches Land ist. Wir wollen eine weltoffene, liberale, moderne und international vernetzte Schweiz.

 

Wir Liberas und Liberos wollen eine Schweiz, in der Leistung zählt, nicht Herkunft. Eine Schweiz, die Selbstverantwortung und Pioniergeist fördert, die Wachstum als Grundlage einer gerechten Gesellschaft sieht, und die Fortschritt als Ziel versteht.

 

Wir sehen die Schweiz als das Chancenland des 21. Jahrhunderts. Denn Chancen sind der Schlüssel zum Glück, zu Wohlstand, zu freier Lebensentfaltung und zu Fairness. Das ist die Schweiz, in der wir leben wollen und für die wir uns einsetzen wollen.

 

Vielleicht ist es hilfreich, die Beweggründe von Operation Libero im ideologischen Umfeld der Initianten zu suchen. Für sie ist die Lage kritisch. Sie sind vorgewarnt. Seit dem 9. Februar 2014 wissen sie, wo es geschlagen hat. Die rechtskonservative Randzone hat sich ausgeweitet. Die Ideale der SVP sind auf einmal mehrheitsfähig. Die Schweiz will sich per Plebiszit “abschotten”. Entsetzen macht sich breit, Fassungslosigkeit im In- und Ausland, überall erheben sich die professoralen Zeigefinger, Warnungen werden ausgestossen, Moralkeulen geschwungen, man spricht von Fremdenfeindlichkeit - und das, obwohl jährlich weiterhin 80'000 Menschen ins Land strömen, Tendenz steigend, bald schon sind es 100'000, schon etwas merkwürdig für ein Land, das von Fremdenfeinden beherrscht wird, die Zuwanderungszahlen sprechen eine andere Sprache, man kommt mit Zählen fast nicht mehr mit, wobei das ja nur Zahlen sind, mit Zahlen kann man jonglieren, die Unverhältnismässigkeit lässt sich wegreden. Was aber jedem vernünftigen Schweizer Sorge bereiten sollte, weil es sich nicht so leicht relativieren lässt, ist die pyramidale Logik dieser Einwanderung. Es ist die Logik eines Schneeballsystems. Während die ärmeren EU-Länder ausbluten, weil ihnen die halbwegs gut Ausgebildeten in Scharen davonlaufen, wird unsere Hochprofit-Insel mit hoch profitablen Arbeitskräften geflutet (Zuwanderung als Bereicherung, wie wahr!), wobei es hier nicht in erster Linie um den Import wertvoller Fachkräfte geht - nur etwa 15 Prozent aller Einwanderer sind überdurchschnittlich qualifiziert - es geht um den Profit durch Masse, die schiere Quantität, nicht erst seit vorgestern hat die Schweiz den höchsten Ausländeranteil aller europäischen Staaten, und die Masseneinwanderungsinitiative wird jetzt schon derart kleingemahlen, dass man kein Prophet sein muss, um ihre völlige Wirkungslosigkeit vorhersagen zu können. Besonders konfus verhalten sich unsere Intellektuellen und Kulturschaffenden. Sie stehen unter Strom. Mit Händen und Füssen wehren sie sich gegen "Abschottung" und "Isolationismus". Angesichts der Realität eine Farce. In der Sahara ein Schild aufzustellen, das vor Eisbären warnt, zeugt entweder von Eisbären-Phobie oder von geografischer Unkenntnis. Man scheint die Relationen völlig aus den Augen verloren zu haben. Liegt es am Schock? Der Vorgang ist ja unerhört! Das Volk - um hier das passgenaue Wort zu verwenden, in Abgrenzung zur linksliberalen Diktion, die das ideologisch vorbelastete Wort "Volk" durch das neutralere Wort "Bevölkerung" ersetzt haben will, letztlich ein Trugschluss, weil das Wort "Bevölkerung" eigentlich in den Jargon der Verwaltungstechnik gehört, ein "Volk" lässt sich eben nicht verwalten, ist keine Verwaltungseinheit, sondern in der Tat etwas sehr Diffuses, Unberechenbares, das unter Umständen Revolutionen anzetteln kann - das Volk erteilt der geballten, propagandastisch hochgerüsteten Wirtschaftsmacht eine Abfuhr und spricht sich für politische Selbstbestimmung aus. Trotzig stellt es sich gegen das Machtkartell aus Regierung, Economiesuisse, IG Industrie, Branchenverbänden, Gewerkschaften und Universitäten. Es rutscht nach rechts, oder korrekter gesagt: eine hauchdünne Mehrheit von Verführten und Irregeleiteten schliesst sich dem von langer Hand geplanten Isolationskurs an. Oder haben hier vielleicht doch etliche Stimmbürger einen berechtigten und gut begründbaren Unwillen zum Ausdruck gebracht? Nein, nie und nimmer! Was nicht sein darf, kann nicht sein. Anstatt nach den Ursachen zu forschen und auf die gegnerischen Argumente einzugehen, predigt man von der elitären Kanzel herab zum "gemeinen" Volk und erklärt es kurzerhand für dumm, unmündig, unzuständig, zurückgeblieben und fremdenfeindlich. Die Mehrheitsmeinung wird als Irrtum diffamiert. Die Schweiz, so die offizielle Meinung, igelt sich ein, überlässt den Ewiggestrigen das Feld. Nun, was heisst eigentlich "ewiggestrig"? Wenn man als Schweizer die Siebziger und Achtziger Jahre erlebt hat, (rigorose Gepäckdurchsuchung und Arschdurchleuchtung am französisch-schweizerischen Zoll nach einem harmlosen Amsterdam-Trip, ach, das waren noch Zeiten!), kommt einem der gehässige Abschottungsvorwurf schon etwas seltsam vor. Klar, man darf und soll die SVP kritisieren. Wieso auch nicht? Aber wenn man sich denn schon drauf einschiesst, in Blocher den helvetischen "Darth Vather" zu sehen, dann sollte man bitteschön den rechten Wirtschaftsliberalismus auch nicht verschonen. In diesem Punkt ist die SVP kein bisschen anders als die FPD und andere gutbürgerliche Parteien. Auch der SVP geht es häufig nur um Besitz und Geld und eine möglichst schmale gesellschaftliche Solidarität. Aber eben: nicht nur. Es ist eine der grossen Paradoxien unserer Zeit, dass ausgerechnet die SVP - ursprünglich eine nach Stumpenrauch stinkende Interessengemeinschaft für Melkmaschinen-Hersteller und Viehzüchter - zur progressivsten und ideenreichsten Partei der Schweiz aufgestiegen ist. Mit ihrem ideellen Mobilisierungsfaktor sticht sie aus allen "Füdlibürger-Parteien" markant heraus. Zwar betätigt sie sich hier nicht immer als Partei: die Anti-Minarett-Initiative wurde von der SVP eher toleriert als gutgeheissen. Dennoch gib es rund um die SVP so etwas wie ein breites neokonservatives morphisches Feld, das viele Linke und Liberale verwirrt und aus dem Konzept wirft, weil ausgerechnet an diesem solid mittelständischen "rechten Rand" das gutbürgerliche Geld- und Prestigedenken nicht in jeder Angelegenheit das letzte Wort behält. Was zweifellos von grosser aufklärerischer Kraft und Wahrhaftigkeit ist. Und was die Linken, Grünen und Liberalen regelmässig zur Weissglut treibt. Die SVP macht sich zum Hassobjekt, weil sie diejenigen als Heuchler vorführt, die seit jeher mit der grössten Selbstverständlichkeit das Monopol auf die moralisch korrekte Einstellung für sich beanspruchen. Denn eines zeichnet sich hier deutlich ab: eine intakte humanistische Werthaltung zeigt sich nicht zwangsläufig dort, wo ständig von Werten geschwafelt wird. Und "Liberalität" im Sinne von "Toleranz" und "Offenheit" ist eigentlich nur der euphemistische Ausdruck für eine Haltung, die keine ist, weil sie kein Rückgrat hat. Wer die Saudis zum Skifahren nach Gstaad locken will, muss die Burka tolerieren - oder unter dem Aspekt "gelebter Vielfalt" sogar toll finden. (Neues, exklusives Kursangebot: Skifahren mit Burka). Natürlich denkt ein Hotelier, der solcherart für die Burka wirbt, in erster Linie an sein Portemonnaie, respektive das Portemonnaie des Ölscheichs. Dass Kleidervorschriften diskriminierend seien, herabwürdigend für diejenigen, die unsere Sitten nicht teilen, ist ein Argument, mit dem sich seine eigentlich plump materielle Einstellung gut kaschieren lässt. Ein Burka-Verbot sei ein Zeichen von Intoleranz, eine Image-Schädigung für Gstaad und die ganze Schweiz, empört sich der Hotelier in scheinheiligem Einklang mit den Linken und Grünen, während er im Hinterkopf seine Abschlussbilanz durchrechnet. "Wir sind doch modern und progressiv, bei uns können alle herumlaufen, wie sie wollen!" Natürlich ändert er diese Meinung schlagartig, wenn sich seine Lehrtochter ein Nasenpiercing stechen lässt. Oder sich die Haare violett färbt. Kurzum, wenn unser Hotelier im Hinblick auf burkatragende Haremsdamen für ein "tolerantes Miteinander" wirbt und gleichzeitig seinem politischen Selbstverständnis nach die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die in der abendländischen Kultur tief verankerte Bedeutung der Gesichtserkennung (Individualismus!) als wichtig und zentral erachtet, fällt einem dazu nur ein einziges Wort ein: Heuchler. Letztlich ist die ganze SVP-Kritik zutiefst heuchlerisch. Und sie richtet sich gegen ein Phantom. Soweit ich das als Polit-Laie einschätzen kann, ist die SVP weit davon entfernt, uns zu einem zweiten Nordkorea zu machen. (Obwohl Toni Brunner sicher die Postur dafür hätte). Im Alltag erleben wir eher das andere Extrem: eine pseudo-freiheitliche Kapital- und Markthörigkeit ohne Ende, eine zwänglerische Deregulierung im Dauerlauftempo und als Dreingabe ein verlogener Kulturrelativismus, mit dem man sich sozusagen das eigene Wasser abgräbt. Und immer geht es hier ums Ganze. Hochnäsig verkennt man den Unterschied zwischen einem Richtungswechsel und einer Korrektur, die innerhalb einer bestehenden Richtung vorgenommen wird. Im Zusammenhang mit der Masseneinwanderungsinitiative trifft nur Letzteres zu. Viele Menschen wünschen sich eine Korrektur. Und nein: es trifft nicht zu, dass der Schweizer Souverän auch nur im entferntesten einer isolationistischen Politik huldigt. Die Globalisierungslakaien zeichnen ein völlig verzerrtes Bild. In geradezu hetzerischer Manier unterstellen sie den Befürwortern einer vernünftigen Migrationspolitik, sie seien rückständig und isolationistisch. Als ob die Schweiz vor der Einführung der Personenfreizügigkeit eine dreissig Meter hohe Mauer um sich herum gehabt hätte! Als ob die gutschweizerische Weltoffenheit jemals zur Disposition gestanden hätte! Die überbesorgte Haltung der Weltoffenen und Dynamischen hat etwas Donquichottisches. Diese Leute formieren sich im Kampf gegen Windmühlen (Rechtspopulismus) und verteidigen etwas, das in seiner Omnipräsenz kaum gefährdet sein dürfte (Internationalität). Andererseits verdrängen sie die wirklichen Probleme. Sie klagen über den Rohrbruch im Keller, während es im Dachstock lichterloh brennt. Genau das tun auch die aufstrebenden Jungakademiker von Operation Libero. Sie wollen die Polit-Landschaft neu aufmischen, wollen Gegensteuer geben. Doch von Problembewusstsein keine Spur. Soziale Ungleichheit? Bankenkrise? Schwindendes Volksvermögen? Die Halbierung vieler Reallöhne seit 1990? (Letzteres hab ich selber nachgerechnet, weil ich es nicht glauben konnte. Tatsächlich trifft es auf die meisten niedrigen Löhne zu. Aber eigentlich weiss man es ja sowieso. Und es ist auch leicht herauszufinden. Fragen Sie Ihren Vater oder Ihre Mutter, was man Ende der Sechzigerjahre in einem normalen Job so ungefähr verdient hat. Und fragen Sie, wie hoch damals die Lebenskosten gewesen sind. Sie werden staunen! Und Sie werden in Zukunft allen schönfärberischen Statistiken misstrauen. Mit Hilfe der Kubikquadratwurzel des BIPs kann jeder gut bezahlte Ökonom den spitzfindigen Beweis erbringen, dass wir alle immer reicher und reicher werden. Schön wär's! In Wirklichkeit verarmen wir zusehends, ein Normalverdiener ist heute ein Working poor, und die Vermögensschere geht immer weiter auseinander). Nein, da schaut man lieber weg. Das Böse im "konservativen Ungeist" zu verorten, ist allemal einfacher und passt wunderbar in das simple Weltbild einer aerodynamisch getrimmten Fortschrittsgläubigkeit. Für die Studenten von Operation Libero ist der vermeintliche Siegeszug von Blocher und Co. allein schon aus ideologischen Gründen ein Schlag ins Gesicht. Für sie kaum nachvollziehbar, dass jemand die Vormachtsstellung der Globalisierung und die Zugriffsrechte internationaler Wirtschafts- und Politinstanzen auch nur im Ansatz in Frage zu stellen wagt! Für sie ist die Globalisierung XXL die Realität schlechthin, das gelobte Land, das wir kleinen Kuhschweizer unter dankbaren Bücklingen annehmen sollten. Sich selber sehen sie natürlich als Anwälte dieser Realität. Freilich ist das eine Realität, die sie sich selber zurechtgemacht haben. Und diese gemachte, eigentlich abgekartete Realität gilt es nun zu verteidigen. Sie wird als etwas Offenes propagiert, obwohl sie eigentlich alternativlos zu sein hat. Die unausgesprochene Formel lautet: wer den Ökonomisierungszwang nicht gutheisst, ist rückständig, kommt nicht mehr mit. Mit dieser Formel kann man in einer durch und durch ökonomisierten, neoliberalistisch indoktrinierten Gesellschaft kaum etwas falsch machen. Man steht sozusagen auf der sicheren Seite, kann auf eine breite wirtschaftspolitische Unterstützung zählen und rennt wahrscheinlich viele offene Türen ein. Denn die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung untersteht einem Wirtschaftsdiktat, das sich ohnehin auf ganzer Linie durchsetzt. Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf die SVP, ohne Rücksicht auf die Sozis, ohne Rücksicht auf den arg bedrängten Mittelstand, ohne Rücksicht auf irgendwen oder irgendwas. Ganz Europa - und da ist auch die vorläufig noch einigermassen solid gebaute, mittelständische Schweiz nicht ausgenommen - erfährt eine rasante neoliberalistische Implementierung, wie sie in Indien oder Brasilien bereits vollumfänglich verwirklicht ist: nämlich als Mehrklassen-System mit einem breiten Armutssockel und einer dünnen, aber bestens globalisierten Bildungs- und Leistungselite. 

 

Operation Libero setzt sich ein für Deregulierung, Liberalisierung der Märkte, globale Verschiebung von Menschenmassen und die Schaffung neuer Lohnsklaverei. Operation Libero will eine starke Wirtschaft, koste es, was es wolle. Operation Libero will Menschen, die nur noch auf der Grundlage ihrer wirtschaftlichen Kompatibilität handlungs- und entscheidungsfähig sind. Operation Libero setzt sich dafür ein, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet. Operation Libero setzt sich dafür ein, dass Staaten ökonomisch erpressbar und in ihrem Souveränitätsanspruch geschwächt werden. Operation Libero setzt sich dafür ein, dass Wohlfahrtssysteme kollabieren. Operation Libero setzt sich dafür ein, dass Verteilungskämpfe zunehmen, damit sich das Prekariat einem verschärften Wettbewerb stellen muss und die Kapitalerträge kontinuierlich gesteigert werden können. Operation Libero setzt sich dafür ein, dass sich die Zerstörung von Demokratie und sozialem Frieden als Fortschritt verkaufen lässt. Und hier der wichtigste Punkt: Operation Libero setzt sich dafür ein, dass der böse Blocher vom Papst exkommuniziert wird.

 

Vor dem Hintergrund des weltweit entfesselten Turbo-Kapitalismus müssen die schönen Verlautbarungen von Operation Libero zunächst einmal kritisch decodiert werden. Das Orwellsche Neusprech muss so umformuliert werden, dass klar wird, welches die Absichten und Beweggründe hinter den schönen Worten sind. Und dann wird auch klar, dass hier eine Front abgesteckt wird, die quer durch die ganze Gesellschaft verläuft. Und dass Gut und Böse, Fortschritt und Rückschritt, Humanität und Inhumanität keineswegs so trennscharf sind, wie von Operation Libero und ihren Verbündeten suggeriert. Es sind nicht die manchmal etwas holzköpfigen und rückwärts gewandten und insofern durchaus kritikwürdigen SVP-Expontenen, die hier den totalitären Ton anschlagen. Es sind ihre Gegner. Natürlich zeigt sich das nicht in Sonntagspredigten und gutmenschlichen Schönwetter-Floskeln. Es zeigt sich dort, wo es hart auf hart geht, inmitten der politischen Turbulenzen. Noch nie hat die SVP eine Wahlschlappe lautstark als "demokratische Panne" oder als "das bedauerliche Ergebnis einer unqualifizierten Mehrheitsentscheidung" hingestellt. Die Gegenseite jedoch fackelt da nicht lange herum. Nach jeder Niederlage fährt sie das schwerste Geschütz auf. Da wird beschimpft und deklassiert, getadelt und gerüffelt, dass man sich manchmal vorkommt wie bei einem inquisitorischen Kesseltreiben. Entscheidet sich das Volk für die SVP, ist es dumm und rückständig und die direkte Demokratie des Teufels. Entscheidet es sich aber (was gar nicht so selten vorkommt) zu Gunsten des linksliberalen Establishment, wird dem Volk die volle Mündigkeit zugesprochen, und die direkte Demokratie ist etwas, worauf man stolz sein darf. Nun ja, auch der Dümmste müsste langsam merken, was da gespielt wird. Da stehen sich also zwei Kontrahenten unversöhnlich gegenüber: auf der rechtskonservativen Seite eine polemische Überpartei, die die Oberhoheit über die Stammtische beansprucht und personell eine gewisses Polit-Clown-Potential besitzt, und auf der Gegenseite ein linksliberaler, erschreckend gleichgeschalteter Machtblock, der seine wirtschaftspolitische Korrumpiertheit ausblendet, um sich als der moralisch integere Anwalt einer freien Zivilgesellschaft inszenieren zu können. Doch in ihrem Anspruch auf Totalität ist auch die SVP unglaubwürdig. Als "Volkes Stimme" singt sie weitestgehend neben dem Notenschlüssel. Ein Schiedsrichter müsste beiden Seiten die rote Karte erteilen. Da kämpfen progressive Demokratiefeinde gegen rückständige Demagogen. Und es ist keineswegs die ach so unzimperliche SVP, die hier mit den härteren Bandagen kämpft. Die Polarisierung, die man der SVP ständig ankreidet, ist eine Sache, die die moralisch Korrekten exzellent bewirtschaften - und zwar mit grossem Vorsprung. Hier die Guten, Dynamischen, Fortschrittlichen, Wohlgesinnten, dort die Bösen, Verstockten, Rückständigen, die Partei der Hetzer und Angstmacher mit den drei Buchstaben des Schreckens. So einfach ist also die Welt! Und so einfach ist es, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch was heisst das genau? Bis vor kurzem ist die Front gegen die SVP, trotz der propagierten linksliberalen Einheitsmeinung, noch nicht sehr homogen gewesen. Eine Partei oder Bewegung, die sich vorsätzlich und programmatisch gegen die SVP gestemmt hätte, gab es bislang nicht. Durch Operation Libero ist nun zweifellos so etwas wie ein Profil in die Gegnerschaft gekommen. Deren Schwäche besteht ja gerade darin, dass sie schwer zu fassen und zu bündeln ist. Die von Operation Libero anvisierte Zielgruppe ist jung, wohlhabend, anpassungsfähig, fortschrittsgläubig, urban, kosmopolitisch, konsumistisch und leistungsorientiert. Über den Daumen gepeilt, ist es die Bevölkerungsgruppe der bis ungefähr dreissigjährigen Städter. Und zweifellos sind es diejenigen jungen Menschen, die "on the top" sind, junge Menschen, die sich heranzoomen lassen, wenn man einen werbepsychologischen Näherungswert für eine Produktplatzierung sucht, den idealen Konsumenten und Konsum-Appetizer. Diese Jugend ist von ihrem Bild in der Werbung kaum noch zu unterscheiden. Heutige Werbung arbeitet gezielt mit Authentizität, und die Realität wiederum ahmt die Werbung nach, sodass beides unentwegt zusammenfliesst. In dieser Rückkopplungsschlaufe befindet sich eine Jugend, die durchaus gefällig wirkt. Sie ist erstaunlich optimistisch, eckt kaum an und bereitet wenig Probleme. Für den Kapitalismus ist sie das ideale Aushängeschild. Und gerade deshalb wird sie hin und wieder auch kritisiert. Sie gilt als politisch desinteressiert, und tatsächlich scheint sie völlig ausserstande, eine Protesthaltung einzunehmen oder irgendeine grössere Vision zu formulieren. Statt dessen summt und surrt sie wie ein Bienenschwarm. Sie geht völlig im Kapitalismus auf. Der Grund dafür liegt freilich nicht nur in der Konsumorientierung oder im oft beschworenen Einfluss der Medienvielfalt und der sozialen Netzwerke. Ein Einflussfaktor, der häufig vergessen wird, obwohl er eigentlich immense Auswirkungen gehabt hat und immer noch hat, ist die paradigmatische Veränderung des geistigen Klimas. Gesellschaftskritik formuliert sich heute nur noch partikulär. Sie verzettelt sich im Einzelnen und Kleinen und wird dadurch irrelevant. Dem entspricht eine Geisteshaltung, die auf Orientierungsfreiheit setzt und alles Fliessende und Oszillierende dem gültigen Wurf vorzieht. Ideengeschichtlich ist das gut erforscht und eigentlich schon längst abgehandelt. Die grossen dialektischen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts haben sich im Poststrukturalismus aufgelöst wie Eisberge im Wasser. Nun hat dieser Vorgang, neben der hinlänglich bekannten postmodernen Beliebigkeit, auch eine gravierende Unfähigkeit hervorgebracht. Fehlt jemandem die Fähigkeit, in einer Sache auch die Kehrseite zu sehen und aus der Auseinandersetzung mit sozialen Widersprüchen und Gegen-Sätzen Erkenntnisse zu gewinnen, die ein platt summierendes Denken in Analogien (Vogel hat Federn, Hund hat Fell) überschreiten, macht sich das auf ähnliche Weise bemerkbar wie Farbenblindheit oder Autismus. Menschen, die mit dialektischen Erkenntnisprozessen nicht vertraut sind, tun sich schwer damit, Gegensätze zusammenzubringen. Sie reihen die Dinge bloss noch aneinander und sehen sie dementsprechend als völlig unverbunden oder bestenfalls in Analogien als vage miteinander verkettet an. Alles verschwimmt. Oder klafft auseinander. Und alles ist irgendwie wahr und irgendwie doch nicht. Und letztlich zerbröselt alles zwischen den Fingern: anything goes. Der springende Punkt dabei ist, dass man hier zwar die grösstmögliche Offenheit erreicht, sie aber nicht nutzen kann. Ein tragfähiger Erkenntnisgewinn in Bezug auf den eigenen gesellschaftlichen Status in seinem Produktions- und Verwertungszusammenhang gelingt auf diese Weise nicht, ja wird nicht einmal angestrebt. Derart dem kapitalistischen Status quo ausgeliefert, der seine brutalen Ausbeutungsmechanismen der Kapitalkumulation (Schneeballsystem) hinter phantasievollen Freiheitssuggestionen und einer historisch begründeten Alternativlosigkeit geschickt verbirgt, fällt man unausgesetzt auf das herein, was einem vorgespiegelt wird. Man ist dazu verurteilt, sich mit dem Bestehenden zu identifizieren, als sei es gottgewollt oder Natur. Den Naturgesetzen aber entspricht der Kapitalismus am allerwenigsten. Natur ist tendenziell eher zyklisch als kumulativ. Dass dennoch die meisten Menschen den Kapitalismus als natürlich und naturgegeben ansehen, hat mit einer spezifischen Einschränkung der Selbstwahrnehmung zu tun. Man verhält sich wie ein gemästetes Schweinchen, das zufrieden in seinem Freilauf-Gehege herumrennt, eifrig schnüffelnd, aber doch unfähig, den Nutztier-Status wahrzunehmen, auf den es zwecks Schinken- oder Speckgewinnung reduziert ist. Unmöglich kann dieses Schweinchen, das von Karl Marx und seiner Dialektik noch nie etwas gehört hat, auf die drohende Schlachtung reagieren, das Bestehende ist für das arme Tier das schlechthin Gegebene, das Unhinterfragbare, in gewisser Hinsicht also Natur. Auf die Idee, sich aufzulehnen oder abzuhauen, käme das Schweinchen erst, wenn es den Widerspruch zwischen Freilauf und Gehege realisieren und dialektisch weiterdenken könnte. Dann könnte es vielleicht verstehen, wozu das Freilauf-Gehege da ist und warum diese paradoxe Gefangenschaft mit reichhaltigem Futter verbunden ist. Sinn und Zweck des Ganzen ist nämlich ein gut geräucherter Bio-Schinken. Ich weiss, der Vergleich hört sich etwas übertrieben an, und spätestens seit der Occupy-Bewegung, die allerdings sang- und klanglos verschwunden ist, während die globalen Abzocker weitermachen, als wäre nichts gewesen, wissen wir, dass es durchaus Stimmen gibt, die den Neo-Kapitalismus hinterfragen. Allerdings gelingt es diesen Stimmen nicht, sich zu einem Chor zu vereinigen. Man kann halt nicht Kapitalismuskritik betreiben ohne Marx. Ins Leere läuft Systemkritik insbesondere dort, wo sie nicht einmal im Ansatz eine intellektuelle Bemühung erkennen lässt. Und sich dementsprechend im putzigen Fingerpuppentheater individueller Bedürfnisse und Interessen verliert. Die heutige Jugend kann sehr engagiert für gewisse Anliegen eintreten, zum Beispiel für das Recht auf mehr Party ("Tanz dich frei") oder tiefere Studiengebühren. Nun, der Frust hält sich hier wohl in Grenzen. Aus der Sicht früherer Generationen sind solche Proteste ein Witz, zumal die soziale Gerechtigkeit im Jahr 2014 keineswegs über das Niveau von 1968 oder 1980 hinausgekommen ist. Ganz im Gegenteil, wenn wir die rosarote Brille abnehmen, sehen wir überall nur Rückschritt und Erosion. Der Kapitalismus wütet schlimmer denn je, und nicht etwa nur in der Dritten Welt, sondern auch in Bümpliz und Hinterzupfigen. Grund zum Widerstand gäbe es also genug. Der Verdacht, dass hier eine zahnlose Generation anpasslerischer Smartphone-Deppen herangewachsen sei, mag vielleicht etwas sauertöpfisch klingen, aber auch der grösste Menschenfreund kann unmöglich in Abrede stellen, dass diese Jugend etwas Entscheidendes vermissen lässt: nämlich den Stinkefinger. Inwiefern das mit dem technologischen Fortschritt zu tun hat, ist schwer zu sagen. Und der Poststrukturalismus hätte wahrscheinlich kaum mehr als eine spezialisierte akademische Spielerei sein können, wäre er nicht dem Kapitalismus in die offenen Arme gelaufen. Vermutlich resultiert also die Differenz zu früheren Generationen eben doch aus einer verstärkten Sogwirkung des Kapitalismus, der eigentlich erst ab 1989 so richtig in Schwung gekommen ist und dank der Digitalisierung auf eine nahezu unbeschränkte Selbst-Regeneration im Zeichen individueller Entfaltung zählen kann. Selbstverwirklichung bedeutet nicht mehr Abweichung, sondern Anpassung. Und folgerichtig lautet die jugendgemässe Lebensmaxime des 21. Jahrhunderts: Freiheit durch Anpassung, Individualität durch Opportunismus. Ein heikler Widerspruch. Andererseits sind die Digital Natives selber die Taktgeber ihrer Zeit. Insofern erübrigt sich für sie wohl jede Rebellion. Wogegen sollen sie auch rebellieren? Gegen sich selbst? Abgesehen davon, dass sie als Lieblinge und Profiteure des neuen Kapitalismus wohl kaum so blöd sind, sich vom Ast abzusägen, auf dem sie selber sitzen, sind sie - sozusagen in der Rückkopplung ihres Mediengebrauchs - nichts Einheitliches und begreifen sich dementsprechend nicht als Bewegung oder Generation, sondern als eine unbestimmbare "Cloud" mit offenen Inhalten und durchlässigen Grenzen. Ihre Stärke ist die situative, flexible und spontane Schwarmintelligenz, die auch etwas Dummes an sich hat, insofern sie die geistige und soziale Leichtgewichtigkeit fördert, Eigenschaften wie Ablenkbarkeit, Unverbindlichkeit und Inkonstanz. Für alles, was Festlegung und Nachhaltigkeit erfordert - also auch Politik - hat sich diese Zielgruppe bislang wenig interessiert. Und fassbar ist sie nur, weil sie sich als schwer fassbar charakterisieren lässt. Klare Konturen, Eindeutigkeit, eine über Kleingruppen hinausgehende kollektive Identität, kulturelle Verwurzelung und eine streitbare geistige Statur sucht man hier vergebens. Aber das soll sich nun ändern. Hier gibt es ein grosses Wählerpotential. "Uns Jungen darf man die Zukunft nicht verbauen!" Mit diesem Mantra will man der kollektiven Schwammigkeit zu Leibe rücken. Operation Libero bietet jungen Menschen eine politische Rolle an, in der das jugendliche Bedürfnis nach Vorne-Dabeisein auf die Coolness des Hipsters trifft. Es ist die Rolle des geschniegelten Desillusionisten: Marx hat er wahrscheinlich nie gelesen, "weil der ein bisschen uncool ist", aber politisches Engagement: why not? Damit kann man sich richtig gut profilieren. Er weiss Bescheid, obwohl er sich kaum je die Mühe macht, gesellschaftliche Missstände zu analysieren. Wozu auch? Schliesslich gibt es den uncoolen Blocher, dem man die ganze Schuld zuschieben kann, und es gibt das uncoole, leicht verführbare Landvolk mit den uncoolen SVP-Wählern. Ja, wenn die nicht wären! Darüber hinaus sieht er kein einziges Problem. Alles läuft bestens: wenn man es denn nur lässt... Er, der geschniegelte Desillusionist, weiss, was abgeht, und er weiss auch, wie man sich zu dem, was da abgeht, optimalerweise verhält. Ihm kann man nichts vormachen. Das Misthaufen-Imitat der SVP, hinter dem das goldene Sünneli aufgeht, ach wie läppisch! Dieses Ballenbergschweiz-Getue! So etwas von uncool! Das von den EU-Gegnern beschworene Eintrachts- und Heimatgefühl verachtet er als Anachronismus. Bei den Klängen von "O mein Heimatland" kräuseln sich ihm die Zehennägel. Und nicht weniger verstaubt erscheint ihm der Marxismus. Alles von gestern. Alles längst überholt. Das Gerechtigkeits- oder Unrechtsgefühl der Sozis, pah! So ein Schwulst! Diesbezüglich hält er sich für positiv desillusioniert, er hat so etwas nicht nötig. Nichts geht ihm über das real Gegebene, den aerodynamisch getrimmten Kapitalismus. Da haben doch alle was davon! Alle zwei Jahre ein neues, komplettüberholtes I-Phone! Unendlich viele Apps, die man sich ganz individuell zusammenstellen kann! Nein, von ideologischen Gefühlsduseleien hält er nichts, seien die nun rot oder rotweiss. Er selber fühlt auch etwas, aber etwas ganz anderes. Anstatt von Gefühlen redet er lieber von Fühlern. Seine Fühler richtet er in die Zukunft, und die Zukunft sieht er als etwas Positives, "weil man die ja gestalten kann”. Wobei er kraft seiner ganz eigenen Logik darauf beharrt, dass die Rechtskonservativen und die Ecopop-Initianten genau das eben nicht tun: sie gestalten die Zukunft nicht. Sie verweigern sich ihr. Er selbst verweigert sich natürlich nicht. Er gehört zu den Guten, den Anti-Verweigerern. Er verweigert die Verweigerung. Er packt die Zukunft an. Die Zumutungen, die der Fortschritt so mit sich bringt, sieht er als Herausforderung, als Gestaltungsmaterial. Anstatt von “Dichtestress” redet er lieber von “verdichtetem Bauen”. Für alles gibt es eine Lösung. Alles eine Frage der Gewichtung, der richtigen Optik. Die Migrationsdebatte entlarvt er genüsslich als Scheindebatte, in der lediglich darüber gestritten wird, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Und selbst wenn er das Offensichtliche akzeptieren und zugeben müsste, dass das Glas “randvoll” ist, so voll wie die Pendlerzüge und die verstopften Strassen, so könnte er, pfiffig wie er ist, einfach ein zweites Glas hervorzaubern. Und vielleicht auch noch ein drittes. Und warum nicht auch noch ein viertes? Am besten eine ganze Trinkglas-Manufaktur! Was hindert uns daran, eine mehrstöckige Schweiz zu bauen? Was hindert uns daran, die Menschenmassen in unterirdische Wohn- und Arbeitscontainer zu pferchen? Was hindert uns daran, die frei werdende Fläche des schrumpfenden Aletschgleschters zu besiedeln? Oder den unnütz am Himmel hängenden Mond? Vielleicht wäre es sogar sinnvoll, die ETH mit der Entwicklung einer Rakete zu beauftragen, mit der man Jahr für Jahr die jeweils 80'000 oder 100'000 neuzugezogenen Ausländer auf den Mond schiessen könnte. Eine Mission “Apollo Tell” mit einer stehenden Verbindung zu einer Mondkolonie namens "New Sankt Gallen" wäre doch ideal, um den Bevölkerungsdruck ein bisschen zu mildern. Der Mond, obwohl auch nicht sehr gross, hat gegenüber der Schweiz doch einen gewichtigen Vorteil: er hat eine Rückseite! Aber Ironie beiseite. In ihren Zukunftsträumen sehen die Youngsters von Operation Libero natürlich keinerlei Ironie. Sie meinen es völlig ernst. Sie glauben an die Machbarkeit. Und sie glauben an den Relativismus. Wenn jemand aus einer Millionenmetropole wie Tokio oder Singapur in die Schweiz kommt, wird er sich wohl kaum beengt fühlen. Wieso auch? Viele putzige kleine Häuschen, das höchste Hochhaus mickrige 178 Meter, reichlich Seen und Grünflächen, und nicht zu vergessen die Alpen, die Jurakette: in der Wahrnehmung eines Grossstädters wohl eher eine ländliche Stadt als ein überbautes Land. Kommt aber jemand aus den Pampas von Chile oder den Wäldern Kanadas in die Schweiz, dann ist der Schock programmiert: vom Boden- bis zum Genfersee eine einzige Betonüberbauung. Und von den Menschenmassen, die darin herumwuseln, wird sich jeder Landbewohner aus Chile oder Kanada zwangsläufig erdrückt fühlen. Zustandsbeschreibungen wie “eng” oder “weit” sind relativ, die Frage ist ja immer: verglichen womit? An welcher Vergleichsgrösse ist die Zustandsbeschreibung festzumachen? An früher? Nein, früher war früher. Und heute ist heute. Es gibt kein Zurück. Wer etwas Verlorenes zurückhaben möchte, steht argumentativ auf verlorenem Posten: seine Vergleichsgrösse (“Die gute alte Zeit”) beruht auf etwas, das durch das unausgesetzte Entschwinden der Gegenwart immer schon relativiert ist. Denn die Vergangenheit, die in der Rückblende so ideal aussieht, ist ja auch einmal Gegenwart gewesen, und mit Sicherheit eine Gegenwart, in der es bestimmt auch schon viele Gründe gegeben hat, in eine erträumte Vergangenheit zu flüchten. Dieser Vorgang scheint sich in jeder Epoche zu wiederholen. Es ist menschlich, die Vergangenheit zu verklären, denn sie bietet geistigen und biologischen Rückhalt durch Eltern, Vorfahren, Traditionen, kulturelle Bezüge, tradierte Geschichte etc. Unsere kulturelle und biologische DNA ist ein Baum, dessen Früchte wir sind. Und deshalb schauen wir auch so gerne zurück, betrachten die Vergangenheit als etwas, das uns "Abkömmlinge" überragt. Auch qualitativ. Immer ist die Zeit, in der man lebt, die prekärste, immer war die Vergangenheit besser. Rein statistisch gesehen ist es aber eher umgekehrt: nachweislich leben wir in der friedlichsten und humansten Epoche der Menschheitsgeschichte. Im prozentualen Verhältnis zur Zahl der Weltbevölkerung gab es noch nie so wenige Gewaltopfer. Kriege und überhaupt alle zwischenmenschlichen Handlungen, die mit Mord und Totschlag zu tun haben, sind über die Jahrhunderte hinweg kontinuierlich zurückgegangen, natürlich mit gewissen Rückschlägen und Einbrüchen, aber in der allgemeinen Tendenz weist die Kurve aufwärts: die Menschheit wird weltweit immer zivilisierter. Und trotzdem malt man ständig den zivilisatorischen Untergang an die Wand. Eigentlich absurd: noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Menschen in der Schweiz öffentlich enthauptet. Und nicht etwa mit der Guillotine, sondern mit dem Richtschwert. Und knapp zwei Generationen ist es her, da kannten die Leute auf dem Land noch kein Toilettenpapier, weshalb die Bauern gezwungen waren, die NZZ zu abonnieren. Andererseits gibt es auch die umgekehrte Täuschung. Unsere Vorfahren waren nicht halb so schlecht dran, wie wir häufig glauben. Das Mittelalter - zumindest bis zur grossen Pestepidemie des 14. Jahrhunderts - war alles andere als finster, und wenn wir die Menschen von früher bemitleiden, weil sie unsern Komfort nicht gekannt haben, dann sollten wir vielleicht bedenken, dass man bis zur industriellen Revolution viel weniger gearbeitet hat als heute, weniger lang und auch weniger intensiv, das Normale war ein Dreistundentag, den man entsprechend in die Länge zog, falls der Tag nicht sowieso arbeitsfrei war: bis zur Reformation hatte das Kirchenjahr über hundert Feiertage. So gesehen ist es verständlich, dass die meisten Kathedralen nie fertig gebaut wurden. Gehen wir in der Zeit noch weiter zurück, öffnet sich uns das ultimative Schlaraffenland. Knochenfunde beweisen, dass die Menschen der Steinzeit - und vor allem der Jungsteinzeit - in einer regelrechten Komfortzone gelebt haben. Sie erfreuten sich grosser Gesundheit und hatten, trotz allen Härten, denen sie ausgesetzt waren, eine erstaunlich hohe Lebenserwartung. Ist auch kein Wunder, denn das Steinzeit-Milieu hat unsere Gattung geformt. Es wäre unser natürlicher Lebensraum. Wäre! Wir haben uns selber daraus vertrieben, ein Exodus, den wir insgeheim bereuen. Die Zivilisation überfordert uns, sie liegt uns irgendwie nicht so richtig im Blut. Deshalb quälen uns allerlei Zipperlein und Neurosen, und deshalb gehen wir in die Öko-Läden, weil es dort noch echte Natur gibt. Doch was ist nun eigentlich richtig? Die Vergangenheit als die einzige verlässliche Andockstelle zu verklären oder sich auf den Fortschritt zu konzentrieren, der ein Fortschreiten vom Schlechten zum Besseren suggeriert? Nun, beide Betrachtungsweisen sind irgendwie richtig - und beide sind irgendwie falsch. Sie sind selektiv. Ob wir die Vergangenheit verklären oder sie als überwunden abtun, ob wir die Gegenwart eher wie Rousseau oder eher wie Hobbes betrachten: das Resultat hängt immer von der Vergleichsgrösse ab, und die kann man sich aussuchen. Alles relativ, alles Ansichtssache. Die schlauen Köpfe von Operation Libero haben das erkannt, ziehen aber sehr einseitige Konsequenzen daraus. Gewieft nutzen sie den Relativismus, um die "Dichtestress-Argumentation" als subjektiven Unsinn zu entlarven. Um dem Stimmvolk die Vision einer EU-kompatiblen Schweiz zu verkaufen, stossen sie jede Richtgrösse um, hinter der man eine subjektive Empfindlichkeit vermuten könnte. Die einzige Richtgrösse, die sie gelten lassen, ist die Maxime des neo-ökonomischen Fortschritts. Den relativieren sie natürlich nicht. Dabei müssten doch beide Wahrnehmungen als selektiv erkannt werden! Man kann die Zukunft oder die Vergangenheit verklären: in beiden Fällen setzt man eine ideologische Richtschnur an. Und in beiden Fälle glaubt man an eine Art Prädestination, eine "höhere" Notwendigkeit. Das tut nicht nur der Rechtskonservative, wenn er seine politische Agenda mit einer mythischen Vergangenheit rechtfertigt, die Schlacht von Morgarten mit EU-Kritik vermischt oder den Landvogt Gessler mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In das gleiche Denken verfällt auch der fortschrittlichste Liberalist. In seiner Fortschrittsperspektive erscheint die Wirtschaft als eine Art Naturmacht, die weder gesteuert noch gebremst und schon gar nicht angehalten werden kann. Die Menschen müssen tun, was die Wirtschaft von ihnen verlangt, nicht etwa umgekehrt. Auch hier erscheint eine "höhere" Notwendigkeit, auch hier haben die Menschen zu begreifen, dass ihre Entscheidungsfreiheit beschränkt ist. Sie ist durch den Markt determiniert, durch eine marktkonforme Zukunftsgläubigkeit. Wer ökonomisch denkt, denkt zukunftsgerichtet, im ständigen Maximierungsmodus. Dieses Denken ist eindimensional und zweckgerichtet. Direkt oder indirekt ist es wirtschaftlichen Interessen immer nachgeordnet. Der Liberale predigt nicht Freiheit, sondern Notwendigkeit; für ihn ist die Zukunft genauso fixiert und handlungsbestimmend wie die Vergangenheit für den Rechtskonservativen. Und aus diesem zukunftsgläubigen Wirtschaftsautomatismus, der die Menschen entweder mitzieht oder abhängt, geht eine potentiell unendliche Progression hervor. Damit die Motoren brummen, damit Migros, Coop, die Bauwirtschaft, die Versicherungen, die Banken, die Unternehmer und Wohneigentümer weiterhin ihre Rentiten einstreichen können, braucht es unausgesetzt Nachschub, braucht es Menschen, die konsumieren und Wohnungen mieten, immer mehr Menschen, die konsumieren und Wohnungen mieten, brauchte es infolgedessen auch Ressourcen, Infrastrukturen und Platz, braucht es immer mehr und immer mehr von allem. Für jeden Menschen, der sich hier niederlässt, braucht es zwei bis drei oder vielleicht sogar zehn Nachzügler, damit dessen Spitalbetreuung, Sozialversorgung, Einkaufsmöglichkeit, Fahrmöglichkeit, AHV-Deckung etc. sichergestellt ist. Seit 2002 prosperiert die Schweiz nur noch dank unlimitierter Zuwanderung. Das Land beutet sich wirtschaftlich aus, tritt jede Nachhaltigkeit mit Füssen. Im Namen einer ideologisch verordneten Hypermobilität, die der neoliberalen Profitmaximierung als Vehikel dient, zerstört man jede gesellschaftliche Kohärenz, zerstört man jeden Humanwert, macht die Menschen zu bindungslosen Egoisten, zwingt ihnen die sklavenartige Existenz von Kapital-Monaden auf, die nichts mehr kennen ausser Konsum, Konkurrenzkampf und Geldverdienen. Man huldigt einem Wirtschaftsgebaren, das sich ausbreitet wie eine Heuschreckenplage. Und der Staat verhält sich hier hochgradig paradox: einerseits muss er die sozialen Folgekosten dieser Heuschreckenplage möglichst niedrig halten, zumal sie auf ihn abgewälzt werden, das heisst, er hat ein Interesse daran, "nicht-produktive" Menschen als Versager hinzustellen; andererseits setzt er alles daran, dieses System nicht zu gefährden. Nicht zuletzt deshalb, weil die politischen Akteure wirtschaftlich verstrickt sind. Somit lässt der Staat die eigene Bevölkerung gleich doppelt im Regen stehen. Die meisten Politiker wissen oder ahnen, dass die eingesessene Bevölkerung das eigentliche Problem darstellt. Wir haben kein Ausländerproblem. Wir haben ein Inländerproblem. Die Einheimischen sind diejenigen, die sich bis zu einem gewissen Grad querstellen. Sie sind ein Hemmschuh. Dieser besteht in den angestammten Bindungen und Vorlieben, den trägen Humanwerten, die sich nicht so ohne weiteres dynamisieren, manipulieren, auf wirtschaftstauglich trimmen lassen, dem kulturellen und sozialen Beharrungsvermögen gewisser Bevölkerungsgruppen, ihrer Sesshaftigkeit und Heimatverbundenheit, kurzum: in allem, was sich als Sand im Getriebe erweist, als wirtschaftshemmend. Das muss beseitigt werden. Kein Wunder setzt man auf Einwanderung. Jeder ist willkommen, ausser denen, die schon seit zwanzig, dreissig oder vierzig Jahren im Land sind. Die erweisen sich zunehmend als überflüssig. Als lästig. Wieso einen Schweizer einstellen, wenn man aus jedem beliebigen EU-Land eine riesige Menge Leute rekrutieren kann? Das Problem ist ja nicht nur der Platzmangel infolge von Überbevölkerung. Wenn es nur das wäre! Das Schlimmste an diesem Schneeballsystem ist die Tatsache, dass es gewollt ist, einschliesslich seiner negativen Konsequenzen. Gezielt wird darauf hingearbeitet, jede sozio-kulturelle Identität zu zerstören. Nicht um der Zerstörung willen, sondern um Platz zu schaffen für eine sozio-ökonomische Heimatlosigkeit und Bindungslosigkeit. Menschen werden profitabel gemacht durch Nomadisierung und Vermassung. Die Konsequenzen sind verheerend. Ich würde in diesem Zusammenhang sogar von einem neuen Totalitarismus reden, einem Total-Kapitalismus, der weniger mit Zwang als mit Manipulation und schleichender Entrechtung arbeitet - bei gleichzeitiger Etablierung einer allmächtigen Feudalklasse, die sowohl politisch als auch wirtschaftlich den Kurs vorgibt. Diese Diktatur ist derart perfektioniert, dass man sie - ganz wie bei George Orwell - als die verwirklichte allumfassende Freiheit des Individuums definieren und anpreisen kann. Hinter dem konsumistischen Freiheitsschwindel verbirgt sich jedoch eine brutale politische Realität. Je mehr Menschen kulturell und sozial entwurzelt sind, desto schwerer fällt es dem Einzelnen, sich dem Wirtschaftsdiktat zu entziehen, desto fremdbestimmter und entfremdeter verhält er sich. Desto vereinzelter wird er, desto eher lässt er sich manipulieren, gängeln und letztlich auch erpressen. Je mehr Menschen um Arbeit konkurrieren, desto weniger zählt der einzelne Arbeitnehmer, desto leichter kann man ihn drücken und ausnehmen. Desto leichter kann man ihn ausbooten: zum Beispiel altersbedingt. Man ist auf ihn nicht angewiesen, es gibt ja laufend Ersatz! Der Druck auf den Einzelnen erhöht sich, weil es schlicht zu viele Menschen gibt, die um die vorhandenen Ressourcen kämpfen. Für die Mächtigen ist das freilich ideal; mit relativ wenig Aufwand können sie die Menschen gefügig machen und gegeneinander ausspielen. Machiavelli, dritte Lektion. Und da die Personenfreizügigkeit dafür sorgt, dass die Arbeitnehmer aus allen möglichen Ländern zusammengewürfelt sind - lauter entwurzelte Individuen ohne Solidargemeinschaft im Rücken - müssen die Arbeitgeber auch nicht befürchten, die Ausgebeuteten könnten sich untereinander solidarisieren. Die Personenfreizügigkeit verhindert dies erfolgreich: reisst man Menschen aus ihrem angestammten Umfeld heraus, nimmt man ihnen das Selbstbewusstsein einer kulturellen und sozialen Identität. Als Vereinzelte sind sie wehrlos. Der alte Sklavenhalter-Trick. Darin liegt die ganze Wirtschaftsstrategie der EU: mit der Personenfreizügigkeit hat sie das perfektes Ausbeutungssystem installiert. Jeder Arbeitnehmer schaut nur noch für sich. Jeder ist froh, wenn es ihm nicht ganz so dreckig geht wie dem andern. Also heisst es: Mund halten und gehorchen. Somit haben die Arbeitgeber den grösstmöglichen Sklavenmarkt zu ihrer Verfügung. Sie können schalten und walten, wie sie wollen: dank Personenfreizügigkeit sogar grenzüberschreitend. Es ist kein Staat mehr da, der notfalls eingreifen könnte, und auch die Gewerkschaften sind so gut wie ausgeschaltet; der Billigarbeiter aus Portugal, der bei XY.de unter miesesten Bedingungen schuften muss, hat nirgends eine Lobby, weder in Deutschland noch in Portugal und schon gar nicht in den Gremien der EU, bei den letztinstanzlich Verantwortlichen, und so geht es weiter und weiter, die Ausbeutung pflanzt sich direkt und indirekt fort, etwa indem die entsprechende Schweizer Branche auf die von XY.de geschaffene Konkurrenzsituation irgendwie reagieren muss und infolgedessen Löhne kürzt, Stellen streicht, Leute über fünfzig auf die Strasse stellt, ganze Abteilungen ins "Ländle" oder am besten nach Ostdeutschland ("billige Polacken") auslagert und die Arbeitsabläufe ingesamt optimiert, was zum Beispiel heissen kann, dass man die Kaffeepausen streicht und die Leute bis zum Burnout unter Druck setzt. Und so dreht sich die Spirale für alle beteiligten Arbeitnehmer immer weiter abwärts. Zwangsläufig nimmt natürlich die Kaufkraft der betroffenen Arbeitnehmer ab, was dann wiederum den wirtschaftliche Anreiz erhöht, Produkte anzubieten, die unter noch mieseren Arbeitsbedingungen hergestellt und distribuiert werden. Und so rutscht die grosse Masse der Arbeitnehmer immer tiefer in Lohndumping und Ausnützerei hinein. Die Menschen werden verschlissen und verbraucht, und wenn sie kaputt sind oder ein bisschen zu alt oder nicht mehr gehorchen wollen, werden sie einfach mit einem Fingerschnippen ersetzt. Europaweit gibt es ja genügend arme Schlucker, die einen Job brauchen. Soll sich bloss keiner beschweren. Das, meine lieben Leute, ist die schöne neue Welt der EU und ihres sogenannt freien Personenverkehrs. Wer das Glück oder Unglück hat, in einer internationalen Firma zu arbeiten, kennt diese Mechanismen sehr genau: und zwar von innen heraus. Man braucht kein Hochschulstudium in Ökonomie, um zu begreifen, wohin uns die EU mit ihrer Wirtschaftslogik gebracht hat. Eigengesetzlichkeit des Marktes, Wettbewerb, Globalisierung. Das ist, mit Verlaub, alles Bullshit. Solche Schlagwörter erklären die Misere nicht. Sie bemänteln sie höchstens. Globalisierte Märkte haben wir schon vor zehn oder fünfzehn Jahren gehabt, und damals ist ein Schweizer mit einem niedrigen Einkommen noch recht komfortabel über die Runden gekommen. Heute allerdings hat er das Messer am Hals. Er mutiert zum Working Poor. Während die Reichen immer reicher werden. Ganz offensichtlich hat die forcierte Massenmigration den Effekt, dass das "Volksvermögen" auf eine grössere Anzahl Menschen umverteilt wird: natürlich mit einer Gewinnmarge, die oben abgeschöpft wird. Es findet eine rasante Umverteilung von unten nach oben statt. Je breiter der Armutssockel, desto höher wächst die Einkommenspyramide. Eigentlich logisch. Geld verschwindet nicht, es wechselt lediglich den Besitzer. Kommt jemandem die Kaufkraft abhanden, obwohl er immer die gleiche Leistung erbringt oder diese sogar noch steigert, während ein paar wenige immer grössere Profite einsacken, muss man sich schon gewisse Fragen stellen. Zum Beispiel die Frage nach der Ideologie, die diesen Markt in Gang hält. Die gegenwärtige Marktlogik gehorcht der gleichen Ideologie, die auch Operation Libero vertritt, die in sich widersprüchliche Ideologie einer zwangsverordneten Liberalisierung, einer regulierten Deregulierung, einer freiheitlichen Versklavung, einer eigenverantwortlichen Selbstausbeutung. Diese Ideologie mag den Studenten von Operation Libero das Vergnügen verschaffen, ein bisschen "Politikerlis" zu spielen, aber für viele Arbeitnehmer ist sie die brutale Realität. Hier geht es um die nackte Existenz, nicht um das Erzeugen von Luftblasen. Hier realisiert sich genau die Art von ausbeuterischer Zweiklassen-Gesellschaft, die Karl Marx vorausgesagt hat. Ein bisschen spät, aber jetzt haben wir sie doch noch bekommen. Wenn das die Wirtschaft ist, die Operation Libero zu ihrem Ideal erhoben hat, dann kann man über die Naivität dieser Politaktivisten eigentlich nur staunen. Was sich ansonsten hinter anonymen Bilanzen, Managemententscheidungen und EU-Beschlüssen versteckt, artikuliert sich hier in seiner ganzen Unbedarftheit. Die meisten Ideen und Anregungen von Operation Libero dienen lediglich dazu, gegen die globalisierungskritischen und rechtskonservativen Gegner des Neoliberalismus mobil zu machen. Die haben nämlich mittlerweilen begriffen, welche Lunte hier am Brennen ist. Nur zu dumm, dass sich Operation Libero auf eine ökonomische Doktrin beruft, die für die grosse Banken- und Finanzkrise der letzten Jahre verantwortlich ist, für die aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich, für die grassierende Lohnsklaverei, für die europaweite Migrationsmisere und eine wirtschaftliche Überdehnung, die unweigerlich zum Crash führt. Wozu studiert man eigentlich Ökonomie? Der Wirtschaftsfachmann von Operation Libero, Ivo Scherrer, 26-jährig, angehender Ökonom, ein Typ, der "mit wehenden Fahnen in die Zukunft zieht" (nachzulesen auf der Website von Operation Libero), hat sich wahrscheinlich in seinen vielen wehenden Fahnen ein bisschen verheddert. Die Zuwanderung, die er mit wehenden Fahnen verteidigt, treibt das ganze Land in eine absurde Hypertrophie: läuft der Zustrom ungehindert weiter, leben in 70 Jahren (vermutlich also noch in Ivo Scherrers Lebenszeit) ungefähr 32 Millionen Menschen in der Schweiz. Darin ein Wirtschaftswunder zu sehen, grenzt schon fast an Schwachsinn. Was wir in der Schweiz beobachten, nennt sich nicht Wirtschaftswunder, das nennt sich “Masslosigkeit” oder “Katastophe”. Es ist ein Fass ohne Boden. Für die Studenten von Operation Libero eine reine Formulierungsfrage. Anstatt von “Masslosigkeit” reden sie lieber von “Prosperität”. Das klingt irgendwie nach Füllhorn, das klingt gut. Der angehende Ökonom Ivo Scherrer hat zumindest die Grundregel der Ökonomie einigermassen begriffen: wenn es von etwas zu viel gibt, ist das schon mal deutlich besser, als wenn es von etwas zu wenig gibt. Anthropologisch ist dieser Grundsatz gar nicht mal so weit hergeholt. Die Menge ist uns lieber als der Mangel. Askese ist hässlich, Völlerei ein Genuss, das Beste, was es gibt. Der Mensch ist ein Mängelwesen, genetisch und evolutionär auf Überfluss programmiert, denn der Mangel - das wissen unsere Gene noch - ist der naturbedingte Normalzustand. Wir wollen immer mehr, als wir haben, und dummerweise auch dann noch, wenn wir schon mehr als genug haben, wenn das Bedürfnis nach Zugewinn und Besitzsteigerung über jedes zuträgliche Mass hinausgeht. Umso schlimmer, wenn der erwirtschaftete Überfluss nur einer dünnen Gesellschaftsschicht zugute kommt, während die Mehrheit leer ausgeht - und sogar noch ausgeplündert wird. Das ist es nämlich, was gegenwärtig in der Schweiz geschieht, in einem Land übrigens, das seinen Wohlstand nicht nur dem Liberalismus zu verdanken hat: sonst wären wir eine zweite USA geworden, eine Ellbogen-Gesellschaft mit riesigen Ungleichheiten und schmutzigen Hinterhöfen. Freilich kann uns das noch blühen, der grenzenlose soziale Raubbau ist ein Zukunftsprojekt, zu dem sich unsere Liberalen jetzt schon beglückwünschen. Und unsere Linken? Was tun sie dagegen? Wohl das, was sie am besten können: sie trommeln sich auf die Brust. Als ob die Rettung von links kommen könnte! Nein, kann sie nicht. Das neu erstarkte Selbstbewusstsein liberaler Kräfte hat nichts mit Parteienpolitik zu tun, sondern eher damit, dass sich die globalisierte Dynamik der New Economy (schrumpfendes Volkseinkommen, wachsendes Kapitaleinkommen) wie eine Glocke über die ganze Politik stülpt und alles und jedes vereinnahmt, sogar das linkspolitische Spektrum. Die Linken, längst keine Strassenkämpfer mehr, sondern arrivierte Wohlstandsbürger, bewegen sich in einem anachronistisch anmutenden, ideologisch abgeschotteten Paralleluniversum, das die sogenannten Unterschichten kaum noch repräsentiert. Deshalb stimmen so viele Secondos für die SVP, und deshalb schliessen sich die meisten Arbeiter und Working Poors rechtskonservativen oder sogar "faschistischen" Bewegungen an. Ja, Europa wird kippen - und zwar nach rechts - und von dort auf die linke Seite. Oder nach links - und von dort auf die rechte Seite. Wer diese Aussicht schrecklich findet und in prophylaktischer Abwehr hinter jedem Ofen einen neuen Hitler oder Mussolini hervortreten sieht, kann vielleicht aus einer genaueren Gegenwartsanalyse ein bisschen Trost schöpfen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wiederholt sich - nicht. Die heutigen europäischen Rechtsaussen-Exponenten - Wertkonservative, Patrioten, Abendlandverteidiger etc. - sind nicht die Faschisten von gestern. Geschweige denn echte Nationalsozialisten: hier gibt es eine riesige Verwirrung, die nicht nur Faschismus und Nationalsozialismus durcheinanderbringt, was an sich schon dumm genug wäre, sondern darüber hinaus auch noch das ideologische Fundament des ziemlich singulären deutschen Nationalsozialismus falsch interpretiert, indem dieses in einer Art linkspropagandistischer Verkürzung mit Fremdenhass und Patriotismus gleichgesetzt wird. (Nur zur Rekapitulation, falls jemand im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst hat: Hitler, der gebürtige Österreicher mit der Vita eines vagabundierenden Künstlers, war kein Patriot oder Nationalist, sondern ein Imperator. Er wollte ein Grossreich nach dem Vorbild des Commonwealth, er wollte keinen Nationalstaat. Und seine biologistische Rassenlehre war kein Fremdenhass, sondern eine wahnhafte, okkult angehauchte Pseudo-Wissenschaft, die ziemlich komplex und alles andere als primitiv war. Es reicht also nicht, ein Fremdenhasser oder glühender Patriot zu sein, um als Nazi gelten zu dürfen. Im Gegenteil, pöbelnde Fremdenhasser haben überhaupt kein konsistentes Weltbild, und die grössten innenpolitischen Gegner Hitlers waren ausgerechnet jene konservativen Patrioten, die man heute so gerne und leichtfertig als Nazis oder Quasi-Nazis hinstellt. Gegen das billige Gefuchtel mit der Nazi-Keule empfehle ich übrigens die Werke von Hanna Arendt. Ihre umfassende Analyse des politischen Totalitarismus könnte in die gegenwärtige Links-Rechts-Konfusion ein bisschen Licht bringen. Das ist auch bitternötig, denn die Debatte über den sogenannten Rechtspopulismus wird immer hysterischer und irrationaler. In der Schweiz zum Beispiel gehört es beinahe schon zum guten Ton, die SVP als Nazi-Partei zu diffamieren. Eine Partei, die einen kleinräumigen und meinetwegen engstirnigen nationalistischen Konservativismus vertritt, ist also eine Nazi-Partei. Aha, sehr aufschlussreich. Waren die Nazis Spiesser? Wohl kaum. Spiesser träumen nicht von Welteroberung. Anscheinend erfährt man hier vor allem etwas über den Absender. Die meisten Progressiven, die den konservativen Nationalismus verunglimpfen, tun dies wahrscheinlich vor allem deshalb, weil sie sich zu den Globalisten zählen. Und Globalisten wollen das ganz Grosse, eben genau das, wonach sie benannt sind: das Globale. Das Konzept des Nationalstaats - eines föderativen Multikulti-Gebildes, eines wohlgeordneten und überschaubaren Nebeneinanders - steht ihnen im Weg. Das wollen sie nicht. Was sie wollen, ist kein Nebeneinander, sondern ein Ineinander. Alles soll ineinander verquirlt sein, damit es im globalen Massstab normiert und ökonomisiert werden kann. Die "indigene Selbstbehauptung", die sie bei andern Völkern so gerne glorifizieren und in Schutz nehmen - etwa bei den Hopi-Indianern oder bei den Indios - bekämpfen sie im eigenen politischen und wirtschaftlichen Geltungsbereich mit aller Schärfe. Und so wird der Begriff "Rechtsextremismus" zu eine ideologischen Streumunition, die auf alles abgefeuert wird, was sich von rechts dem Globalismus widersetzt - und übrigens auch dem sozialdarwinistischen Prinzip des Neoliberalismus. Besonders beim letzten Punkt beschädigen die Globalisten ihre Glaubwürdigkeit massiv: während sie die Nationalkonservativen bei jeder Gelegenheit als "Faschisten", "Rassisten" oder "Nazis" beschimpfen, propagieren sie eine Wirtschaftsideologie, die zwar keine Gaskammern errichtet, aber Millionen Menschen sozial deklassiert und ins Elend treibt. Und selbst wenn die Angst vor den "neuen Rechten" einem ehrlichen moralischen Reflex entspringt, weil "Nazi" und "Nationalist" halt irgendwie ähnlich klingen, so erreicht man mit diesem hyperventilierenden Geisschen-warnt-vor-dem-bösen-Wolf-Alarmismus höchstens, dass man den echten Totalitarismus übersieht, der sich womöglich genau dort formiert, wo niemand hinschaut und etwas Böses vermutet. Wäre ich der Teufel und wollte ich etwas wirklich Teuflisches in die Welt setzen, so müsste ich schon recht dumm sein, wenn es meine Absicht wäre, den grotesk unzeitgemässen Nationalsozialismus aus der Mottenkiste hervorzuholen. So dumm ist der Teufel nicht. Von der Mottenkiste lässt er schön die Finger. Um die Menschen in eine neue Tyrannei hineinzutreiben, braucht es nichts Bombastisches, keine Hakenkreuze, keine Fackelumzüge, keine Rednertribünen. Es genügt, dass man das Bargeld abschafft. Oder eine strikte Nullzins-Politik einführt. Das Böse, glaube ich, ist immer auf der Höhe seiner Zeit. Das war damals so, und das ist auch heute noch so. Und wenn überhaupt irgendwo, dann liegt darin die einzige Parallele zwischen damals und heute). Wirkliche Nationalsozialisten (im historischen Wortsinn) gibt es heute kaum noch, Faschisten vielleicht eher, aber auch die sind nicht mehr, was sie einmal waren. Und genauso verhält es sich auch mit der Gegenseite. Wo gibt es denn noch echte Linke? Natürlich sehen das die Linken anders, ihre Realität ist eine ganz eigene, und genau hier liegt das Problem. Von der gesellschaftlichen Realität haben sie sich längst verabschiedet. Und auch von Karl Marx, den sie für einen Utopisten halten. Nein, Marx war kein Utopist. Marx war Realist. Der Scheitern des real existierenden Kommunismus spricht nicht gegen Marx. Zum einen waren die meisten real-sozialistischen Gesellschaften nur bedingt kommunistisch, das heisst: es gab da einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum mit "fliessenden Rändern", mit Ausstrahlungen weit in das antikommunistische Westeuropa hinein, wo als Äquivalent zum Ostkommunismus eine gut funktionierende Sozialdemokratie installiert wurde. Wir haben, mit andern Worten, dem Kommunismus weit mehr zu verdanken, als uns gemeinhin bewusst ist. Zum andern verkennt man das Wesen des Kommunismus, wenn man meint, er sei so etwas wie ein frei gewähltes Experiment gewesen. Seine Existenz war das Ergebnis einer marktwirtschaftlichen Logik, die ihn (leider) unbeschadet überdauert hat und heute totaler ist denn je. Also ist der Kommunismus, trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten, noch lange nicht vom Tisch. Apropos Tisch: zuerst kommt das Fressen, und dann kommt die Moral. Kommunismus ist in der Tat eine Notlösung (für den Fall, dass zu viele Menschen unter die Räder des "freien Wettbewerbs" kommen und partout nicht mehr teilhaben können am "allgemeinen" Wohlstand) und funktioniert nur sehr eingeschränkt. Er ist sozusagen die Bankrotterklärung des Kapitalismus, ein gewaltsamer Ausgleich und realisierbar nur deshalb, weil man damit Schlimmeres verhindern kann. (Anarchie, Faschismus, Clan-Gesellschaften, feudalistische Mehrklassen-Gesellschaften etc.) Als Erlösungsdoktrin hat der Marxismus ausgedient, das sei zugegeben. Von Natur aus ist der Mensch kein Kommunist, er ist ein triebgesteuerter Egoist. Doch genau das konfrontiert uns unweigerlich mit der Frage, ob es hier nicht ein starkes Gegengewicht braucht. Man kann, streng dialektisch gesehen, nicht gegen den Kommunismus argumentieren, indem man auf die menschliche Natur verweist, im Gegenteil, die menschliche Natur ist das beste Argument für den Kommunismus. Umgekehrt ist das Ego ein schlechtes Argument für die unumschränkte Marktwirtschaft, da diese den natürlichen Drang zur Selbstverwirklichung nur als Mittel zum Zweck behandelt und entsprechend manipuliert, wenn nicht sogar auf eine Weise pervertiert, die auf Gleichschaltung und Gehirnwäsche hinausläuft. Der Kult ums Ego und die damit verbundene Performanz im Doppelsinn des Wortes als wirtschaftliche Produktivität wie auch als authentisches Ich- und Hiersein wird im Spätkapitalismus hermetisch und totalitär abgesichert, etwa durch einen Leistungsbegriff, der viel mit pseudo-authentischen, die Arbeitsentfremdung übertünchenden Ego- und Selbstbekundungen zu tun hat. Die kumulative kapitalistischen Logik, wonach auf einen Gewinner immer zwei Verlierer kommen, wird dabei diskret verdrängt. Verdrängt wird auch die Umkehrung der ursprünglichen Absicht: man wollte einen freien Markt, damit die Menschen sich verwirklichen können. Doch inzwischen verwirklichen sich die Menschen nur noch für den Markt und nach Massgabe dessen, was ihnen der systemimmanente Optimierungszwang vorschreibt. Zwangsläufig gibt es dabei auch Menschen, die auf der Strecke bleiben. Sonst hätte das System ja keinen Sinn. Selbstverwirklichung auf Kosten anderer kann durchaus gelingen, Wettbewerb ist an sich noch nichts Schädliches. Da wir aber einen kumulativen Wettbewerb haben, der immer mehr Verlierer erzeugt, um überhaupt funktionieren zu können, kann das Ganze auf Dauer doch etwas ungemütlich werden. Irgendwann fliegt die Sache auf, weil jedes kumulative System ab einem bestimmten kritischen Punkt eine Destruktion in Gang setzt, die nach einem neuen Gleichgewicht strebt. Um diese verhängnisvolle Logik nicht ins allgemeine Bewusstsein gelangen zu lassen, wo sie auf Widerstand treffen könnte, bietet das System alle möglichen psychischen Manipulationstechniken auf, was aber den Druck auf den Einzelnen noch erhöht und die verhängnisvolle Spiraldrehung zwischen Arbeitsentfremdung, Leistungswahn und Selbsttäuschung beschleunigt. Im Spätkapitalismus genügt es bekanntlich nicht mehr, eine Leistung zu erbringen, man muss die Leistung auch performen, man muss sie als etwas Authentisches darstellen, als innerstes Bestreben und Krönung des Egos. Leistungsbereitschaft wird zur alleinigen Identität, Emotionalität - als Ausdruck des Authentischen - zum beherrschenden Wirtschaftsfaktor, zum Garanten für Konsum und Produktivität, der alle anderen Werte und Daseinsgründe verdrängt, wenn nicht sogar offensiv bekämpft. In Bezug auf die menschliche Freiheit ist die heutige Wirtschaft ein trojanisches Pferd. Letztlich geht es ihr nicht im geringsten um Selbstverwirklichung. Oder besser gesagt: wenn sie Selbstverwirklichung verheisst, handelt es sich lediglich um einen geschickt platzierten Köder. Ihr Trick besteht darin, das Ego nicht gegen sich selbst zu instrumentalisieren, es nicht einem allzu offensichtliche Zwang auszusetzen, gegen den es sich ja wehren könnte, sondern es in eine möglichst selbstkonvergente Form zu bringen, damit jede dialektische Distanzierung unmöglich wird. So kommt es, dass ein Mensch sich mit seinem Beruf nicht nur identifiziert, sondern das beruflich geforderte Selbstmanagament des Spätkapitalismus zum höchsten Lebensideal macht. Somit wird die kapitalistische Unterdrückung verinnerlicht, die Sklaverei bekommt den Anschein des Freiwilligen und sogar Idealisierten. Nichts Schlimmeres als Arbeitslosigkeit! Eigentlich lachhaft. Die Wertschätzung, die man im Berufsleben geniesst, ist ja keine menschliche, sondern eine kapitalistische. Das war vielleicht schon immer so, hat sich aber in den letzten zwei Jahrzehnten massiv zugespitzt. Da der Beruf nicht mehr die soziale und materielle Sicherheit gewährleistet, die man ihm fälschlicherweise immer noch zuschreibt, sondern zu etwas Spekulativem verkommen ist, mit dem die Grosskapitalverwalter nach Belieben verfahren, um sich zu bereichern, muss der Kapitalismus seine Rechtfertigung totalitär absichern. Kein Mensch kann heute noch durch Arbeit ein Vermögen erwirtschaften. Von der Arbeit profitieren nur noch diejenigen, für die das Kapital arbeitet. Und für die indirekt auch diejenigen arbeiten, die sich mit ihrer Schufterei irgendwie über Wasser halten müssen. Die Profiteure des Spätkapitalismus sind also diejenigen, die in doppelter Hinsicht arbeiten lassen. Dass man sich über diese elementare Tatsache hinwegtäuscht oder hinwegtäuschen lässt - eben darüber, dass der sogenannte Broterwerb nur noch vordergründig und mehr schlecht als recht der Selbsterhaltung des Arbeitnehmers oder seiner individuellen Vorsorge dient und eigentlich schon längst in etwas umgewandelt worden ist, das die Kapitalkumulierung zu Gunsten der Reichen und Superreichen gewährleistet - deutet auf eine tief verankerte psychische Korrumpierung hin, eine Art Stockholm-Syndrom. Und hier sind wir am wesentlichen Punkt. Der Spätkapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er die emotionale Partizipation seiner "Geiseln" als die wesentliche Bedingung seiner Existenz voraussetzt. Dem entspricht denn auch die psychische Manipulation, von der die ganze geistige Matrix unserer Gegenwart durchdrungen ist. Wenn ich echte Emotionalität in etwas hineintrage, kann ich es kaum noch hinterfragen. Wenn ich so in Anspruch genommen und involviert werde, dass für mich Form und Inhalt, Tun und Wollen, Absicht und Ergebnis nicht mehr unterscheidbar sind, kann ich mich dem Konformitätsdruck kaum noch entziehen. Wenn alles auf authentisch und emotional getrimmt ist, was mir aufgezwungen wird, wie soll ich da noch auf eine systemfremde Widerstandskraft zurückgreifen, um diesem Zwang zu entgehen? Nun wäre aber Distanznahme heute so wichtig wie noch nie. Denn der neue Kapitalismus ist ja kein Paradies, und durchschaubar bleibt er auch dann noch, wenn er seine Ausbeutungsstrategie mit lustig zwinkernden Emoticons tarnt. Wenn er von Engagement, Kreativität, Selbstverwirklichung, Persönlichkeitsentwicklung, Entscheidungsspielräumen, Spassfaktoren, Talentbindung, Stressmanagement, gesamtheitlicher Lebensplanung, Work-Life-Balance und emotionalem Coaching redet. Trotz all diesen Worthülsen, Manipulationen, Verschleierungen und Ablenkungsmanövern bleibt die Marxsche Arbeitsentfremdung bestehen, ja sie verstärkt sich noch in dem Masse, wie sie überspielt und verleugnet wird. Und es kommt noch dicker: wer aus dieser Verdrängungs- und Verleugnungsspirale aussteigt, tut dies selbstverständlich nicht ungestraft. So ein Aussteiger wird in alle möglichen Fangnetze gejagt, wird in ein Umerziehungsprogramm gesteckt, das heisst zum Therapiefall erklärt, oder er wird geächtet und schreibt, weil er sich restlos abgestempelt sieht, über die kapitalistischen Auswüchse ein zornig anklagendes Buch, an dem zumindest der Verleger kräftig verdient. Und so nützen auch diejenigen noch dem Kapitalismus, die ihn bespucken und seine Regeln missachten. Diesbezüglich hat der Kapitalismus dazugelernt. Seine Aneignung verschiedener Sub- und Alternativkulturen, sein Einsaugen und Abschöpfen des von Nerds, Hippies und Dadaisten hinterlassenen "subversiven Geistes" hat ihn stärker und schliesslich fast unbesiegbar gemacht. Hugo Ball hat wahrscheinlich auf die Werbeindustrie einen grösseren Einfluss ausgeübt als auf die Kunst, und mit Steve Jobs und Mark Zuckerberg haben sich zwei kapitalistische Leitfiguren etabliert, mit denen sich jeder Rebell und kreative Kopf identifizieren kann. Irgendwie begreiflich, dass die Linken ihre liebe Mühe damit haben, gegen ein System vorzugehen, das jeden widerständigen Impuls sofort vereinnahmt und zu einer probaten Geschäfts- und Beeinflussungsstrategie umfunktioniert. Doch andererseits sind wir ja nicht blöder geworden. Wie sehen, was der Kapitalismus anrichtet, und wir fragen uns verwundert, wo der Widerstand bleibt. Eine gute Frage! Das Bestreben, mit ein bisschen linksgrünem Goodwill die Fliehkräfte des freien Marktes auszugleichen, ist von geradezu rührender Naivität. In einer Eisenbahn, die auf den Abgrund zurast, in die Gegenrichtung zu hasten, bringt nichts. Es ist einfach nur hilflos. Man kann nicht ein bisschen links sein, genauso wenig wie eine Frau ein bisschen schwanger sein kann. Wer sich politisch links verortet, ohne es bei einer Pseudo-Haltung bewenden zu lassen, setzt konsequenterweise alles daran, den auf den Abgrund zurasenden Zug zu sabotieren, mit welchen Mitteln auch immer. Da wir täglich beobachten können, wie sich der Neoliberalismus in seinem dumm bejubelten Pyrrhussieg auf ganzer Linie demontiert und demaskiert - Verfall rechtsstaatlicher Strukturen, korrupte Polit-Eliten, Demokratie-Feindlichkeit, systematische Umverteilung von unten nach oben, Privatisierung von Gewinnen, Kollektivierung von Schulden, grenzenlose Ausbeutung, Beschneidung individueller Freiheitsrechte etc. etc. - bleibt uns wohl gar nichts anderes übrig, als die Bewertung des Kommunismus einer Revision zu unterziehen. Wenn der Liberalismus seinen Kurs beibehält, mündet er zwangsläufig in einen blutigen Umsturz - oder implodiert im Chaos. Das Auffangnetz könnte dann möglicherweise Faschismus heissen. Optimal wäre das nicht. Faschismus ist nur die zweitbeste Lösung. Ein revidierter Marxismus wäre sicher die bessere Lösung, wobei es in Anbetracht nationalistischer und wertkonservativer Alternativen, die jetzt schon Raum greifen, gewiss auch Kombinationsmöglichkeiten gibt. (Der Front National geht hier mit gutem Beispiel voran, indem er sich für sozialistische Ideen öffnet). Also nochmals, man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Marx war kein Utopist. Seine messerscharfe Analyse bestätigt sich auch im 21. Jahrhundert. Die eigentlichen Utopisten sind jene Linken, die sich statt auf Marx auf den Psycho-Onkel und das Fräulein Rottenmeier der Political Correctness berufen. In der irrigen Meinung, eine humane Gesellschaft sei das Produkt von Erziehung und scholastischen Gewissensappellen, nerven sie ihre Klientel mit immer neuen Restriktionen und Zwangsgebühren, einer überbordenden Verbeamtung und Gesinnungsüberwachung, kurzum: einer Politik, die durchwegs auf Manipulation und Entmündigung hinausläuft. Daneben flirten sie ganz unbeschwert mit dem Grosskapital, hofieren den multinationalen Lobbyisten, pressen den Mittelstand aus (der sich im Gegensatz zur Oberschicht nicht wehren kann und doch auch nicht arm genug ist, um den linken Opferschutz zu geniessen) und unterhöhlen den Sozialstaat mit einer laschen bis grobfahrlässigen Asyl- und Migrationspolitik. In Sachen Raubbau und Volksenteignung stehen diese Neu-Linken ihren "bösen" bürgerlichen Widersachern in nichts nach. Die Linken von heute sind in keiner Weise marxistisch, es sind durch und durch bürgerliche Linkskulturalisten, die sich damit begnügen, dem Kapitalismus hie und da die Beichte abzunehmen, auf dass er munter weiter sündigen möge. Was durchaus in ihrem eigenen Interesse liegt, profitieren sie doch als Topverdiener erheblich von dem System, das sie eigentlich bekämpfen müssten. Aber eben, es geht diesen handzahmen Linken nicht wirklich um Politik, geschweige denn um Revolution, irgendeine tiefgreifende Änderung. Das Einzige, was sie am Politischen interessiert, ist eine bestimmte Attitüde, eine "Haltung". Man schiesst ein bisschen gegen Rechts, betreibt fröhliches SVP-Bashing, drescht ein paar Phrasen aus dem Juso-Konversationsbüchlein und markiert damit den coolen Che Guevara. An den wirklich Unterprivilegierten geht das alles vorbei. Der einfache Büezer ist weit davon entfernt, sozialdemokratisch zu wählen. Das war einmal... Er wäre ja bescheuert! Von der Mitte bis ganz links ziehen alle Politiker und ihre Parteien am selben Strang, wenn auch mit unterschiedlichen Parolen, Taktiken und Schwerpunkten. Gegen diese unheilige Allianz tritt der Rechtskonservativismus als einzige Opposition an. Irgendeiner muss es ja tun, irgendeiner muss dagegenhalten. Linke Opposition? Eine Lachnummer! Nein, von links kommt die Rettung nicht, denn wer heutzutage noch links steht, muss es sich leisten können - und schickt seine Kinder auf eine Privatschule, damit ihnen die Multikulti-Erfahrung erspart bleibt. Im übrigen ist die ganze Asyl- und Sozialindustrie ein riesiges Geschäft, das auf Missständen und sozialer Ungerechtigkeit aufbaut - und somit das bestehende System zementiert. Deshalb sind die Linken heute reaktionärer als die Rechten. Für die Linken ist der Neoliberalismus eine Goldgrube, die sie ausbeuten können, ohne sich moralisch bekleckern zu müssen. Im Gegenteil, wer sich für "Systemopfer" einsetzt, profiliert sich als moralische Instanz und macht sich damit quasi unangreifbar. Eine Heuchelei ist das vor allem deswegen, weil man die Probleme, die man hier angeblich beheben will, regelrecht heranzüchtet durch soziale Segmentierung und Segregation in Form von Armutsmigration, Parallelgesellschaften und blödelhaftem Kulturrelativismus. (Je bunter, desto besser, lautet die linke Maxime. Jeder Maler weiss, dass das Blödsinn ist). Urteile ich zu hart? Immerhin haben uns diese Leute die AHV und das Frauenstimmrecht beschert.... Wäre es doch nur dabei geblieben! Was man vielleicht noch einigermaßen wohlwollend als naives Weltrettungs-Kasperlitheater klassifizieren könnte, erweist sich zunehmend als Verrat an ureigensten linken Idealen und Anliegen. Nicht wenige Politiker aus dem linken Lager (zum Beispiel in Deutschland in der Pro-TTIP-Fraktion der SPD, aber auch in der Pro-EU-Fraktion der SP) sind an vorderster Front dabei, wenn es darum geht, Verbraucher- und Arbeitnehmerrechte auf dem Altar der Globalisierung zu opfern. Im Gegensatz zu diesen heimlichen Profiteuren - und das muss man auch Operation Libero zugestehen - sind die bekennenden Liberalen wenigstens keine Heuchler. Sie geben sich ziemlich eindeutig als das zu erkennen, was sie sind: als Räuber und Gauner. Verlogen sind sie höchstens insofern, als sie das Märchen von der "guten alten liberalen Schweiz" hochhalten, eine Geschichtsfälschung, die dazu dienen soll, die negativen Konsequenzen des gegenwärtigen Liberalismus zu bemänteln. Tatsächlich hat sich die Schweiz nach der Niederlage des Sonderbunds zu einem radikal liberalen Land gemausert. Zu einem Land im Aufbruch, mit einem ungeheuren technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungsschub. Doch im Schatten dieser Entwicklung gab es eine unvorstellbare Massenarmut, der junge Nationalstaat war so zerrissen und zerrüttet wie ein heutiges Drittweltland: Kinderarbeit, Taglöhnerei, eine "Bettlerschwemme" nicht nur in den Städten, sondern vor allem auch auf dem Land, viele Schweizer versanken im Elend, vegetierten knapp am Hungertod vorbei, viele wanderten nach Amerika aus, und dies zu einem Zeitpunkt, als die Industrialisierung so richtig Schwung aufnahm. Das helvetische Schlaraffenland der Pionierzeit ist unter dem Strich ein Märchen, eine abgefeimte Bilanzfälschung. Die Fortschrittsgläubigen projizieren ihre Zukunftswünsche in eine beschönigte Vergangenheit. Ausgerechnet sie, die den Rechtskonservativen bei jeder Gelegenheit "Vergangenheitssucht" und "Nationalromantik" vorwerfen, kultivieren einen Ursprungsmythos, der sich sehr leicht entzaubern lässt. Was für die Rechtskonservativen die Alte Eidgenossenschaft, ist für die Liberalen die Schweiz von 1848. Eine Schweiz, die zweifellos fortschrittlich und liberal gewesen ist. Das "Urbild" der modernen Schweiz, das strahlende Gegenbild zum Konservatismus der SVP. Doch in Wirklichkeit ist dieses Gegenbild genauso zusammenphantasiert wie das Bild vom Rütlischwur und den tapferen Eidgenossen. Die liberale Staatsgründung von 1848 war ja alles Mögliche, aber sicher nicht der Auftakt zu einer allumfassenden Modernität, wenn man unter Modernität auch Wohlstand und Gerechtigkeit versteht. Diesbezüglich könnte man sogar von einem Rückschritt sprechen. In einem einzigen Punkt war der junge Staat sehr sozial: er förderte die Auswanderung. Der Massenexodus "überflüssiger" Schweizer wurde in einem ähnlichen Ausmass promotet und vorangetrieben, wie man die heutige Einwanderung promotet und vorantreibt. (Zwischen 1850 und 1914 suchten rund 400'000 Schweizer im Ausland ihr Glück). Darin liegt denn auch das grösste Verdienst der jungen liberalen Schweiz. Sie hat ihre Bevölkerung erfolgreich dezimiert. Dass sich die Schweiz zu einem Wohlstandsland entwickeln konnte, hatte ganz eindeutig mit der grossen Auswanderung zu tun, oder sagen wir: der grossen Abschiebung. Die Geschichte zeigt eben, dass Überbevölkerung selten zu mehr Wohlstand führt. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts schaffte sich den unnützen Pöbel vom Hals, indem sie ihn nach Amerika verschiffte, und der aufkeimende Sozialismus tat dann das Übrige. Er war es, der den blindwütigen Liberalismus eindämmte und den technischen Fortschritt, den die Liberalen angestossen hatten, überhaupt zu etwas Gedeihlichem machte. Dabei kam es entscheidend auf die politischen Rahmenbedingung an, die richtigen Gegengewichte. Liberalismus als Politik ist Gift. Liberalismus mag eine Art Backpulver sein, eine Substanz wie Kohlenstoffdioxid, das sich nur als Zusatzstoff eignet, weil es für den Menschen zur Gefahr wird, wenn es den Sauerstoff verdrängt. Dank dem Gegenmittel einer sozialpolitischen Gewissenskultur, eines moderaten Sozialismus, ist der Wohlstand doch noch in etwas breitere Kanäle geflossen. Verwandelte sich in eine Art Gemeinwohl. Unser grosses Glück. Und unser grosses Unglück besteht darin, dass diese gutschweizerische Symbiose aus Wirtschaft und sozialer Kultur vom Untergang bedroht ist. In dieser Symbiose liegt der Wohlstand begründet, der die Schweiz so stark gemacht hat. Die Schweiz ist nicht wohlhabend geworden, weil sie von Unternehmern und Geldspezialisten gepusht worden wäre. Nein, ausschlaggebend für die allgemeine wirtschaftliche Gesundung waren Leute, die über den Tellerrand des Rentabilitätsdenkens hinausschauen konnten. Die das Ganze im Blick hatten. Leute wie Gottlieb Duttweiler. Leute wie Willi Ritschard. Die als altmodisch belächelten Tugenden einer soliden Wertegemeinschaft haben dafür gesorgt, dass die Geschäftlimacherei nicht auf Kosten der Gesellschaft ging. Es war zum beiderseitigen Nutzen, dass sich die Wirtschaft in die Gesellschaft einband - und sie nicht einfach nur als Ressource und Verschleissmaterial betrachtete. Die Abhängigkeit war gegenseitig. Und der Respekt ebenfalls. Nicht auf Geldgier, sondern auf Fleiss, Ehrlichkeit, Traditionsverbundenheit, Bescheidenheit, sozialer Verantwortung, Solidität, Nachbarschaftlichkeit und Genossenschaftlichkeit haben die Schweizer ihren Erfolg aufgebaut. Und das alles steht heute auf dem Spiel, weil eine Horde Liberalisierungsfanatiker Erfolg mit skrupelloser Gewinnoptimierung verwechselt - und dabei überall verbrannte Erde zurücklässt. Die Liberalen irren sich, wenn sie das "Erfolgsmodell Schweiz" als liberales Projekt anpreisen. Es ist wie bei den Parasiten: sie können ihrem Wirt nützlich sein. Aber wenn sie zu aggressiv werden, können sie ihn töten. Und mit ihm auch sich selbst.

 

Eine Schweiz mit unlimitierter Zuwanderung soll das "Chancenland des 21. Jahrhunderts" sein. Die Träume von Operation Libero kann man natürlich aus platztechnischen Gründen zurückweisen. Doch lassen wir die "Dichtestress-Argumentation" mal beiseite. Wie gesagt: sie kann leicht ad absurdum geführt werden. Wenn man Zuwanderung als "kulturelle Bereicherung" definiert - eine Definition, die in dieser Vereinfachung natürlich zu hinterfragen wäre, eine wirtschaftliche Total-Nivellierung, die alles und jedes zu einem Einheitsbrei verarbeitet und jede indigene kulturelle Selbstbestimmung zerstört, als "kulturelle Vielfalt" zu bezeichnen, ist einigermassen naiv, wenn nicht sogar abgrundtief dumm - wenn man also diese zweifelhafte Definition aufrechterhalten will und nebst dem Platzproblem auch noch den wirtschaftspolitischen Hintergrund ausblendet, die Ausbeutung durch Billigarbeit und Entwurzelung, könnte man durchaus zur Überzeugung gelangen, dass an diesen Träumen etwas dran sei. Eine heterogene Gesellschaft hat zweifellos ihre Stärken. Und sie hat auch ihre Annehmlichkeiten. Chinesisches Fastfood ist sicher bekömmlicher als der tägliche Haferbrei, den unsere Vorfahren gelöffelt haben. Doch Operation Libero hat eigentlich etwas ganz anderes im Auge. Ziemlich offensichtlich soll hier Heterogenität als Aushängeschild für eine Utopie herhalten, die mit Heterogenität nicht mehr allzu viel zu tun hat. Operation Libero geht es nämlich nicht um ein Jekami-Spiel, nicht um Vielfalt, die auch Unterprivilegierung und Armut einschliessen würde, sondern um Exklusivität, einen Club der Erwählten. Ivo Scherrer nennt seine international durchmischte Traumschweiz “das liberalste Land der Welt” und malt sich - den Blick visionär ins Weite gerichtet - ein “Zukunfslabor für Denker, Tüftler und Forscher” aus. (Tagesanzeiger vom 14.10.2014) Freie Bahn für die Intelligenz! Eine Gelehrtenrepublik wie bei Arno Schmidt: the International Republic for Artists und Scientists. Ich persönlich stelle mir diese Republik als eine Art Elfenbeinturm vor. Unzählige Billigarbeiter haben ihn erbaut, lackiert, gepützelt und verglast. Und zuoberst auf der zart begrünten Aussichtsplattform versammeln sich regelmässig die weissgewandeten, hightech-versierten “Denker, Tüftler und Forscher”, um ihre Freiluft-Symposien abzuhalten, ihre Freiluft-Gedanken auszutauschen, ihre Freiluft-Erfindungen vorzuführen und ihre Freiluft-Theorien vorzutragen. Fraglich ist, ob diese selbstvergessenen Menschheitsbeglücker die von ihnen beglückte Menschheit überhaupt je zu Gesicht bekommen: die normalen Büezer und Taglöhner, die sich dumm und dämlich krümmenden und schuftenden Menschenmassen, die diesen Turm erbaut haben und täglich den Kaviar hinaufschicken, an dem man sich oben delektiert. Die düsteren Zukunftsvisionen von "Metropolis" oder Huxleys "Schöner neuer Welt" sind hier nicht allzu weit, womit ich keineswegs in die Kerbe einer polemischen Übertreibung haue, denn diese Dystopien sind, wenn auch nicht hier in der Schweiz, schon längst Realität. Wieso wandert Ivo Scherrer nicht nach Dubai oder Katar aus? Das von ihm erträumte Gesellschaftsmodell ist dort teilweise schon sehr eindrücklich umgesetzt worden, architektonisch, aber auch gesellschaftlich: eine dünne und dünkelhafte Elite feiert sich selbst, während Millionen fremdimportierter billiglohnabhängiger Arbeiter  - faktisch nichts anderes als Sklaven - in der öffentlichen Wahrnehmung so unsichtbar sind wie Batteriehühner. Doch ich möchte fair sein. Ich unterstelle Ivo Scherrer nicht, dass er seine Zukunftsvision so gemeint hat, wie ich sie hier auslege. Ich überzeichne, um deutlich zu machen, wo der Schwachpunkt liegt. Und ich erlaube mir zu fragen, ob die Vision einer von jeglicher Erdenschwere befreiten Elite nicht genau die Art von Eigendünkel offenbart, die eher das Problem als die Lösung ist. Was bringt ein Problemlösungsverein, wenn er selber das Problem ist?

 

Die Basis bestimmt den Überbau. Eine geistige oder kreative Elite kann nicht künstlich erzeugt werden. Niemand kann sie aus dem Boden stampfen oder mittels einer Retorte zum Leben erwecken. In sogenannten Think Tanks versucht man Geist zu erzeugen, was natürlich misslingt. Genausogut könnte man versuchen, mit Hilfe einer Casting Show eine zukünftige Superband zu erzeugen. Nein, funktioniert nicht. Die Beatles sind nicht in einer Casting Show gross geworden, sondern in einem Hamburger Stripteaselokal, das von grölenden Matrosen, Rockern, Kleinkriminellen und Zuhältern frequentiert wurde. Das historische Beispiel - man könnte auch Musikgrössen wie Nirvana oder Johnny Cash nennen - verdeutlicht sehr gut, was der Schweizer Philosoph Ludwig Hohl in den Vierzigerjahren als eine seiner wichtigsten Thesen herausgearbeitet hat: grosse Umwälzungen kommen nicht aus der Mitte, sondern "von den Rändern her". Wenn nun die Mitte, wie das heute gemeinhin der Fall ist, den Pioniergeist glorifiziert und ihn quasi in Besitz nimmt, um irgendeinen zum voraus definierten gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen, so ist eine gesunde Portion Skepsis angebracht. Hier wird meistens geschummelt. Das Phänomen kennt man in der Psychologie unter dem Begriff "Groupthink" schon lange. Der US-Psychologe Irvin Jan hat es Anfang der Siebzigerjahre eingehend untersucht. Anlass dazu bot ihm eine Reihe von Fehlentscheidungen und falschen Prognosen der Kennedy-Administration. Kennedy hatte bekanntlich einige der brillantesten Köpfe des Landes um sich versammelt. Dazu gehörten namhafte Wissenschaftler und Intellektuelle. Irvin fragte sich, was wohl die Ursache dafür war, dass diese geballte und von einem jungen, fortschrittlichen Präsidenten hofierte Intelligenz einen derartigen Mangel an Weitblick und Durchblick gezeigt hatte. Ein echtes Rätsel. Doch die Lösung lag eigentlich auf der Hand: wer sich in der Position eines anerkannten Wissenschaftlers oder Intellektuellen befindet, hat sich bei allem, was er denkt, schreibt und sagt, immer auch um die eigene Reputation zu kümmern. Die Sache, um die es jeweils geht, ist nicht das alleinige Kriterium in einer Thinkgroup. Entscheidend ist auch, wie man sich in seiner festgeschriebenen Rolle als Wissenschaftler oder Intellektueller in der Gruppe, mit der man sich austauscht, wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu positionieren vermag. Denn wer sich allzu weit vom Konsens entfernt, setzt seine Reputation aufs Spiel. Wer sich nicht darum schert, was andere über einen denken, und Mehrheitsmeinungen ignoriert, manövriert sich ins Abseits, macht sich unbeliebt, lächerlich, gesellschaftlich inakzeptabel. In einer etablierten und öffentlich agierenden Gruppe aber gibt es kein Abseits, und dies bedeutet nichts anderes, als dass sämtliche Denkprozesse in einer solchen Gruppe durch soziale Rücksichten determiniert sind. Sie sind nicht frei. Deshalb ist ihre Innovationsfähigkeit relativ beschränkt. Seien wir ehrlich: würden wir die Massstäbe heutiger Kultur-Planer und Think Tank-Spezialisten auf die Vergangenheit anwenden, so müssten wir 99% aller Kulturleistungen, die den zeitgenössischen ästhetischen Kanon ausmachen, für ungültig oder irrelevant erklären. Weil es die nämlich gar nicht geben dürfte! Weil es sie aber trotzdem gibt, liegt der Schluss sehr nahe, dass der kulturelle "Flow" weitgehend durch Kontingenz bestimmt wird. Dass Kultur weder verordnet noch geplant werden kann. Und Ähnliches gilt auch für die Wissenschaft. Die meisten grossen Entdeckungen verdanken sich dem Zufall oder der müssigen Grübelei irgendeines Aussenseiters wie Albert Einstein. Keine Casting Show kann das reale Leben ersetzen. Kein Think Tank die praktische Lebenserfahrung. Intellekt und Kreativität kommen von unten: aus dem Chaos. Sie entstehen aus der Reibung mit dem realen Leben, und deshalb fliegen da manchmal Funken, entzünden sich Konflikte. Intellekt hat man nicht, weil man viel liest oder eine Menge Wissen gespeichert hat, sondern weil man sich an der Realität abarbeitet. Und genau hier versagen unsere Studenten kläglich. Ihr Engagement in Ehren: aber liegt diesem dezidiert "weltoffenen" Aktivismus nicht ein Tunnelblick zugrunde? Als zukünftige Denkanreger sehe ich die Leute von Operation Libero nicht. Im Gegenteil, es sind typische Systemerhalter. Schon als Studenten, in einem Alter, in dem es gar nicht so unüblich ist, dass man gewisse Experimente wagt und wider den Stachel löckt, haben sie sich auf die sichere Seite gebracht: auf die Seite der Macht, des Geldes, der ökonomischen Zwänge. Niemals würden sie ein heisses Eisen anfassen. Keine Sekunde lang spüren sie irgendeiner Unstimmigkeit nach. Keine Sekunde lang fragen sie sich, was mit dieser Gesellschaft eigentlich los ist. Was brodelt und gärt hier schon die längste Zeit? Ist es nur der Unmut über die Erfolge der SVP? Wenn es nur das ist, was Operation Libero antreibt, dann wünsche ich der SVP weiterhin viel Erfolg. Denn die SVP reagiert nicht, sie agiert. Sie setzt die Duftmarke, an der sich alle anderen Hunde orientieren. Und das sage ich als Linker. Dass die SVP den Sozialstaat aushöhlt, ist mir selbstverständlich ein Dorn im Auge, aber es ist mir auch ein Dorn im Auge, mit welcher Bedenkenlosigkeit die Linke den Sozialstaat verschachert und sich bei den Globalisierungsturbos anbiedert. Zum Beispiel bei der EU. Unter dem Strich stellt die SVP einfach das kleinere Übel dar. Und eines muss man ihr lassen: in Bezug auf aussenpolitische Themen hat sie schon immer den richtigen Riecher bewiesen. Ich bin mir fast sicher, dass man dem bösen, bösen Blocher in einer grösseren historischen Perspektive Recht geben wird. Die Monstrosität einer zentralistischen, arrogant aufgeblähten, machtpolitisch idiotisch überdehnten Europäischen Gemeinschaft, die ihren bürokratischen Feudal-Sozialismus ausschliesslich dazu benutzt, um Banken und Grosskonzerne zu schützen und die kleinen Leute zu enteignen, was die Linken komischerweise überhaupt nicht zu stören scheint, hat Blocher schon vor über zwanzig Jahren vorausgesagt. Wenn das nicht weitsichtig ist, dann weiss ich auch nicht. Ich kann mich, weil ich ein Elefantengedächtnis habe, noch gut an die bundesrätliche Drohkulisse vor der EWR-Abstimmung erinnern. Falls die Schweiz das EWR-Abkommen nicht ratifizieren würde, so unkte damals Bundesrat Delamuraz vor versammelter Presse und schaute dabei so knuffig-griesgrämig in die Welt, dass man ihm am liebsten in die Wange gekniffen hätte, sei es um die Zukunft der Schweizer Jugend geschehen. Ende Feuer! Nun ja, das war 1992, und die Schweizer Jugend (ich kann es bezeugen!) hatte es in den Neunzigerjahren recht gut. Es war ein goldenes Jahrzehnt mit endlosen Partys, sicheren Jobs und einem angenehmen gesellschaftlichen Klima. Und das alles ohne EWR-Freihandel und den ganzen Wust an wirtschaftlichen Knebelungen, der damit verbunden gewesen wäre. Und noch immer wird mit allen Mitteln, wenn auch grösstenteils verdeckt, darauf hingearbeitet, die staatliche Souveränität zugunsten internationaler Multis und Regulierungsbehörden an den Nagel zu hängen. In diese Richtung zielt nun auch Operation Libero. Weil es hier grundsätzlich und jederzeit voll gegen die SVP geht, den unersetzlichen Lieblingsfeind aller weltoffenen Schweizer, ist es den Liberos und Liberas selbstverständlich nicht sehr genehm, wenn die Globalisierung mit all ihren supranationalen Fallstricken und Demokratiedefiziten in den Fokus gerät. Man könnte ja noch dem Feind in die Hände spielen! Ausserdem öffnet sich hier ein Diskurs, bei dem das bewährte Pro-Contra-SVP-Schema nicht mehr so gut funktioniert. Globalisierungskritiker gibt es sowohl links wie rechts, und deren Diskurse sind so unterschiedlich wie komplex. Daneben wirkt Operation Libero mit ihrem "Die-SVP-ist-Scheisse-aber-seid-unbesorgt-Leute -wir-haben-ein-weltoffenes-Smiley-für-euch"-Diskurs wie ein Kindergarten. Globalisierung? Abbau demokratischer Grundrechte? TTIP und CETA? Mit ihren Fragen greifen die Liberos und Liberas nicht gar so hoch. Ihre Fragen sind viel pragmatischer, viel vernünftiger. Zum Beispiel fragen sie sich: wo bin ich in zehn Jahren? Was verdiene ich dann? Wie angle ich mir einen Job mit bestmöglichen Connections, Gratifikationen und Aufstiegsmöglichkeiten? Wie profitiere ich von der EU und dem ganzen Globalisierungskarussell? Und so weiter und so fort. Wer so denkt, profiliert sich nicht durch eigenständes Denken oder grosse Visionen. Die Studenten von Operation Libero gehen schön brav im Gleichschritt einer ohnehin vorhandenen Progression. Sie gehorchen einem blinden Automatismus. Und das kritische Denken - ehemals eine studentische Kardinaltugend - können sie getrost dispensieren. In der totalen Progression fällt es ihnen leicht, ihre heimliche Regression zu verstecken: ihre Angst vor politischen und sozialen Veränderungen. Ihre Angst, hinter den Trends zurückzubleiben, nicht mithalten zu können. Ihre Angst, auf dem Schafott einer Revolution zu enden, wenn diejenigen aufbegehren, an deren Unterdrückung sie aktiv mitwirken. Ihre Angst, "den Anschluss zu verpassen". Ihre Angst, bei der “Auslese der Besten” nicht mit von der Partie zu sein. Den Letzten beissen die Hunde. Deshalb der Wunsch nach Gradlinigkeit, deshalb die unreflektierte Erfolgsorientierung. Deshalb das ganze Fortschrittsgeprotze. Mit wehenden Fahnen in die Globalisierung! Mit Volldampf nach Europa! Ran an die Fördergelder! Ran an die Forschungsprojekte! Mit wehenden Fahnen in eine helvetische Technokratie, in der ein "Rat der Weisen" die fehlbaren Mehrheitsentscheidungen korrigiert, begradigt, unschädlich macht und den übergeordneten Elite-Interessen unterwirft.... Dieses Denken orientiert sich, wo es überhaupt über individuelle Belange hinausgeht, an den Bedürfnissen, Konzepten und Kompetenzen eines Eliteklüngels, der im Eifer seiner Netzwerkarbeit das Ganze schon längst aus den Augen verloren hat - und natürlich auch die Grundwerte einer direkten Demokratie, in der die vielgeschmähte Volksnähe (die von Blocher ebenso repräsentiert wird wie von Mani Matter) einen hohen und traditionell gesicherten Stellenwert geniesst. Sehr zum Ärger der Eliten. Volksnähe, pfui Teufel! Das stinkt ja nach Schwefel! Wie lästig ist doch dieses fortwährende Nach-unten-Nivellieren, das die Konkurrenzfähigkeit schwächt, die Besten zurückbindet, die Populisten belohnt und den Schwächsten und Dümmsten eine Stimme gibt. Doch wer die direkte Demokratie als Hemmschuh für Eliten und als Plattform für Populisten denunziert, läuft Gefahr, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Dadurch, dass der Einzelne in weitreichende Entscheidungen eingebunden wird, überträgt man ihm ein Stück Verantwortung. Überträgt man ihm eine bestimmte Kompetenz. Gewiss ist das nicht unproblematisch: aber nicht etwa weil sich das Volk für etwas Verfassungswidriges oder Inhumanes entscheiden könnte, hier liegt eigentlich überhaupt kein Problem vor, denn zwingendes Menschenrecht ist auch in einer direkten Demokratie unumstösslich. Die elitäre Angst vor dem dummen, verführbaren und desinformierten Stimmvolk ist schon deshalb abwegig, weil die Dummen in der Regel diejenigen sind, die, aus welchen Gründen auch immer, den Abstimmungen fern bleiben: es ist also eher umgekehrt. Wer abstimmen geht, ist entsprechend interessiert und informiert. Das Prinzip der Partizipation wirkt jeder Bevormundung entgegen, ist also eigentlich das beste Mittel der politischen Aufklärung. Problematisch ist eher die Tatsache, dass sich die Stimmbürger einer direkten Demokratie nicht besonders gut regieren lassen. Sie sind störrisch, pfuschen den Meinungskartellen und Elitevereinen in die Absprachen, bringen die schlaumeierische Politik des Fait accompli durcheinander. Anstatt auf die Barrikade geht der doofe Wutbürger an die Stimmurne und lässt dort seine Wut heraus. Einen solchen Dummkopf nennt man "Protestwähler". Denken kann er nicht, aber protestieren schon. Und ach wie entsetzlich: solchen Leuten erlaubt man, sich direktdemokratisch einzumischen! Die Politiker und Wirtschaftsführer wissen nie so recht, ob sie nicht demnächst abgedeckelt werden. Sie tun einem wirklich leid. Ständig müssen sie auf der Hut sein, ihre Macht ist direkt angreifbar, viel direkter als in einer bloss repräsentativen Demokratie, in der sich die gewählten Volksvertreter hinter Sachzwängen, VIP-Gemauschel und Lobby-Interessen verschanzen können. Aber auch für die volksnähere direkte Demokratie gilt: Politiker sind systembefangen, sie taktieren, gehen Kompromisse ein, ziehen einander über den Tisch, tricksen, bluffen, koalieren, intrigieren, spinnen ihre Netze, gar nicht zu reden von individuellen Macken, den normalen menschlichen Schwächen. Die idealen Politiker gibt es nicht. Kein Volk hat die Politiker, "die es verdient". So gesehen ist es alles andere als unsinnig, sich über eine demokratisch gewählte Regierung zu beschweren. Die scheinbar so aufgeklärte Kritik am Unmut über "die da oben", mit der man sich gegen Politikverdrossenheit und Wutbürgertum wendet, blendet eine wesentliche Tatsache aus. Ein gewählter Politiker gehorcht nicht nur seinen Wählern, sondern auch einer präexistenten wirtschaftspolitischen Agenda, mit der er sich irgendwie arrangieren muss. Hier befindet er sich in einer Art Parallelwelt, die von den Erfahrungen und Erwartungen der Menschen, die ihn gewählt haben, sehr weit abweichen kann. Das Initiativrecht ist deshalb so wichtig, weil es die augenfälligste Schwäche der repräsentativen Demokratie ausgleicht. Es durchbricht den politischen Automatismus, stellt das allzu Selbstverständliche, das scheinbar nicht Verhandelbare in Frage, sorgt für Überraschungen, zuweilen sogar für Schockwellen. Üblicherweise ist Politik (und das ist auch gut so) eine Verwaltungs- und Verhandlungssache, so flach wie ein Schattentheater mit Pappfiguren, die uns zuwinken, weil wir sie gewählt haben, und die uns dann wieder vier Jahre lang Politik vorspielen, irgendetwas Routiniertes, irgendwo da oben. Und wir sitzen da und dösen weg, weil wir das Stück schon hundertmal gesehen haben. In der Schweiz läuft das auch nicht anders als in andern Ländern. Aber einen Unterschied gibt es doch. Wir haben hier etwas wirklich Exotisches. Das Volk spielt mit. Von Zeit zu Zeit darf es intervenieren, direkt ins Politgeschehen eingreifen. Sobald es wegdöst, kommt wieder irgendeine Initiative, und so wird es immer wieder wachgerüttelt und daran erinnert, dass es Mitspieler ist. So etwas ist nicht ungefährlich, denn es könnte ja Schule machen! Wo nationalstaatliche Souveränität genauso geringgeschätzt wird wie direktdemokratische Kompetenz, ist eine offene oder verdeckte Demokratiefeindlichkeit mit Händen zu greifen: siehe EU. Was haben die Menschen in den EU-Staaten zu melden? Nichts. Wenn sie ihren Anliegen Gehör verschaffen wollen, müssen sie auf die Strasse gehen und lauthals skandieren: "Uns gibt es auch noch!" Politisch sind sie kaltgestellt - oder zumindest sehr weit zurückgedrängt. Was natürlich dazu führt, dass die Verteidiger der direkten Demokratie noch kämpferischer und trotziger werden, als sie es ohnehin schon sind. Sie wissen, was auf dem Spiel steht, und sie kennen ihren Feind, sie kennen seine Herrenreiter-Attitüde, seine Angst vor dem einfachen Volk. Bis zum äussersten sind sie entschlossen, an ihren Grundrechten festzuhalten. Diese Radikalisierung wird ihnen leicht gemacht, denn seit dem Wegfall des nationalstaatlichen Primats und dem Siegeszug einer totalen Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche ist die Demokratie in einem Ausmass bedroht, wie wir das seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Operation Libero stemmt sich dieser Entwicklung nicht etwa entgegen, sondern bekämpft deren Kritiker mit fadenscheinigen Visionen einer besseren Schweiz und hilft beim Abbau basisdemokratischer Rechte tatkräftig mit. Zum Beispiel durch die Propagierung zentralistischer und supranationaler Entscheidungsinstanzen. Operation Libero verrät damit nicht nur die Demokratie, sondern auch Denkansätze, die man in einem akademischen Umfeld eigentlich als selbstverständlich voraussetzen müsste. Zum Beispiel Systemkritik. Die Grundsätze der Frankfurter Schule werden hier auf den Kopf gestellt. Man denkt nicht mehr kritisch über die Gesellschaft nach. Man dreht das freie Denken quasi um, indem man es strikt opportunistisch nach den Gegebenheiten ausrichtet. Man schlägt Massnahmen und Lösungswege vor, verharrt aber in einer liberalen Systemimmanenz, spricht also Grundsätzliches kaum an. Was unternimmt man gegen die Auswüchse des Liberalismus? Man fördert den Liberalismus. Was unternimmt man gegen soziale Ungleichheit? Man fördert die soziale Ungleichheit. Das meine ich keineswegs als Witz. Soziale Ungleichheit mit liberalen Mitteln eindämmen zu wollen, ist ungefähr so, als wollte man Feuer mit Benzin löschen. Das Problem fängt schon damit an, dass die meisten Liberalen die politischen Rahmenbedingungen, die das sozialdarwinistische Ungleichheitsprinzip des Neoliberalismus flankieren und abstützen, als "Chancengleichheit" anpreisen. Ein Trugschluss. Man setzt auf Eigeninitiative und Eigenverantwortung, verkennt aber die spezifischen Begünstigungen und Protektionen, ohne die ein Mensch, der sich eigenverantwortlich nach oben kämpfen will, ziemlich schnell auf der Nase landet - oder im Gefängnis. Der liberale Traum von der "Tellerwäscher-Karriere" ist ein Truggebilde. Ein Alibi. Realitätsferner denn je. Operation Libero will eine Schweiz, "in der Leistung zählt, nicht Herkunft". Was sagt man dazu? Sauber gescheitelte Studis in teuren Markenklamotten belehren uns darüber, dass die Leistung zählen soll und nicht die Herkunft. Vielen Dank für die Aufklärung! Der Anteil der Studierenden, bei denen nicht mindestens ein Elternteil über einen höheren Abschluss verfügt, beläuft sich gerade mal auf 9 Prozent. Nach wie vor entscheidet die finanzielle und soziale Situation des Elternhauses, was aus dem Sprössling wird. Im 21. Jahrhundert ist das kaum anders als früher, eher noch ausgeprägter. Warum nur kaufe ich diesen Jungliberalen die egalitäre Floskel von der "Chancengleichheit" nicht ab? Ganz einfach: weil die meisten Studenten - vor allem solche, die offenbar noch Zeit haben, sich politisch zu engagieren - die Existenznöte des unteren Mittelstandes nur vom Hörensagen kennen, wenn überhaupt. Hier wird mitnichten für Chancengleichheit gekämpft, sondern eher für das Gegenteil. Ein 26-jähriger Student aus gutem Hause hat von der Globalisierung wenig zu befürchten - und von der Personenfreizügigkeit erst recht nicht: von ihr kann er nur profitieren. Die EU gibt ihm alle Mittel und Möglichkeiten zur Hand, voranzukommen. Sein Marktwert ist gesichert, der Armutsfalle entgeht er locker, und das kann man ihm fairerweise auch nicht zum Vorwurf machen. Dass er gute Chancen hat, in der heutigen Arbeitswelt Fuss zu fassen, zum Topverdiener aufzusteigen und ein menschenwürdiges Leben zu führen, sei ihm gegönnt. Wenn man aber sieht, wie sich diese Studenten - gebildete Menschen mit Zugang zu Büchern, Zeitungen und Internet - um alles Unangenehme herum foutieren und mit ihren elitären Liberalisierungsfürzen die Not vieler Menschen missachten und verhöhnen, muss man die Tonart dann doch ein bisschen verschärfen. Ivo Scherrer und seine Kumpels spielen sich als zukünftige Problemlöser auf, wischen aber im Hier und Heute die drängendsten und unausweichlichsten Probleme bedenkenlos unter den Teppich. Wenn das unsere zukünftige Elite sein soll, sag ich jetzt schon gute Nacht.

 

Viele Politiker machen es vor, und Operation Libero macht es ihnen nach. Man beschwört die Zukunft, weil man für die Gegenwart nicht das geringste Sensorium besitzt. Man baut ein Utopia, während die Gegenwart vor die Hunde geht. Der elitäre Realitätsverlust ist derart offensichtlich, dass man sich eigentlich entspannt zurücklehnen kann: die Politiker entlarven sich selbst. Sobald sie den Mund auftun, artikuliert sich eine Arroganz, die auch etwas Hilfloses und fast Verschüpftes hat. Zum Beispiel bei der Frau Bundesrätin Sommaruga, eine hervorragende Pianistin, aber in der Politik klimpert sie nur noch den Flohwalzer, und zwar in Ges-Dur, auf den politisch korrekten schwarzen Tasten, und dazu macht sie ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. So blamabel das ist: es ist auch eine Chance. Es wächst eine neue Opposition heran, auch jenseits von Rechtskonservatismus und EU-Feindlichkeit. Ein Grossteil des Polit-Establishment regiert, als gäbe es kein Internet, regiert selbstherrlich am "dummen" Volk vorbei, politisiert vakuumverpackt in irgendeine phantasierte Zukunft hinein, die dann wieder irgendwann - vielleicht bei der nächsten Abstimmung - von der sträflich ignorierten Realität eingeholt wird. Und schon geht wieder ein riesiges Geheul los, und der böse Blocher ist an allem schuld. Oder die noch bösere Ecopop-Initiative, die umso böser ist, als man ihr mit der Blocher-Voodoo-Puppe nicht beikommt. Freilich ist die Angst vor Ecopop unbegründet. Auch deshalb, weil die Initiative mit Sicherheit keine Mehrheit finden wird. Sie hat einen empfindlichen PR-Mangel. Die krampfhaft gut gemeinte Idee einer von der Schweiz aus organisierten Geburtenregelung in der Dritten Welt ist nicht nur ethisch anrüchig, sie ist auch unnötig: Ebola, Aids, Wassermangel, Bürgerkriege und Hungersnöte regulieren die Überbevölkerung von alleine. Das jedenfalls wäre das Argument, das die Ecopop-Gegner vorbringen müssten, wenn sie ehrlich wären. Die Initiative ist aber vor allem deshalb chancenlos, weil die Gegenpropaganda zu massiv ist, zu finanzkräftig. Auf allen Kanälen und rund um die Uhr wird uns mit den besten Goebbelschen Suggestionstechniken eingetrichtert, Ecopop sei unser aller Verderben. Nach der Schlappe vom 9. Februar 2014 haben die Wirtschaftsbosse und Mittelinkspolitiker begriffen, dass sie aufrüsten müssen. Diesmal werden sie die als "Ökofaschisten" diffamierten Gegner noch niederringen können. In einer längerfristigen Perspektive sieht es allerdings anders aus. Ein Wirtschaftssystem, das Menschen systematisch ausgrenzt, entrechtet und auspowert, bekommt es irgendwann mit einer Abspaltung zu tun - oder einem "Backclash". Irgendwann wird sich dieses System derart unbeliebt machen, dass die Frage nach der Umkehr unausweichlich wird. Doch wie soll diese Umkehr aussehen? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Politiker ratlos, sie kleben überall ihre Pflästerchen an und merken nicht, dass sie dem Patienten die Beine amputieren müssten. Eine vernünftige Beschränkung der Bevölkerungszahl ist die einzige Massnahme, die über die wirkungslosen kosmetischen Retuschen der Linken hinausgeht und den blinden Wirtschaftsautomatismus ins Stolpern bringt. Ecopop trifft den Lindwurm an seiner empfindlichsten Stelle. Doch ein Allheilmittel ist Ecopop nicht. Wer die Sache realistisch sieht, erkennt darin eine Art Notschaltung, eine Massnahme, die Gegensteuer gibt. Würden wir Ecopop annehmen, hätten wir in etwa die gleiche Einwanderungsquote wie Deutschland, und Deutschland ist bekanntlich die stärkste Wirtschaftslokomotive Europas. Ecopop wäre mal ein guter Anfang, mehr nicht, eine marginale Gesundschrumpfung würde uns sicher gut tun. Und die Befürchtung, wir könnten deswegen in die Steinzeit zurückfallen, ist natürlich Blödsinn. Warum also die ganze Aufregung? Warum nur wird Ecopop derart verbiestert bekämpft? Weil unsere Politiker und Wirtschaftsbosse nicht bereit sind, Verantwortung für die Menschen zu übernehmen? Und alle Belange vernachlässigen, die sich nicht in Gewinnsummen niederschlagen? Oder liegt es an der provokanten Idee, dass ein Immer-mehr nicht unbedingt ein Immer-besser bedeutet? Oder liegt es daran, dass sich gewisse Kreise einen goldenen Daumennagel verdienen, wenn Abermillionen EU-Bürger erbittert miteinander konkurrieren müssen? Und mindestens die Hälfte davon sozial absteigt? Die Umverteilung von unten nach oben ist in vollem Gange. Ecopop beseitigt diesen Misstand nicht, macht ihn aber zum Thema und greift ihn zumindest diskursiv an seiner empfindlichsten Stelle an. Indem die Initiative den Konnex zwischen künstlich forcierter Einwanderung und wirtschaftlicher Ausbeutung aufs Tapet bringt, verstösst sie gegen ein Tabu. Ecopop wird vor allem deswegen so fanatisch bekämpft, weil sich hier etwas formuliert, das die bestehende Wirtschaftsideologie (Profit durch Massenmigration) radikal in Frage stellt. Ecopop ist nicht lieb, Ecopop ist böse. Durch und durch wirtschaftsfeindlich, insofern nämlich die Wirtschaft durch eine niedrige (das heisst sozialverträgliche) Zuwanderungsquote gezwungen sein könnte, innovativ zu werden. Auch sozial innovativ. Das tut richtig weh. Und da haben die Gegner sogar recht. Und vorläufig haben sie noch leichtes Spiel: die Gegensteuer, die sie um jeden Preis verhindern wollen, kommt zu früh. Das eben nennt man "visionär": Ecopop ist visionär, der Zeit voraus, nicht sehr bequem, nicht sehr zeitgemäss, leicht zu diffamieren, ein Hassobjekt, hart am Hier und Jetzt operierend, einschneidend, aber gerade deshalb zukunftsweisend. Das Gleiche kann man von Operation Libero nicht behaupten. An Operation Libero ist überhaupt nichts visionär. Da wird eigentlich nur warme Luft herausgelassen, da wird die Zukunft als Worthülse verkauft, als Wohlfühl-Verlautbarung. Da gibt es weder Risikobereitschaft noch grosse Visionen noch irgendein Rebellentum, sondern nur die übliche Stomlinienförmigkeit, kombiniert mit einer Shitstorm-Taktik, die den sozialen Druck erhöht, wo weitblickende Argumente fehlen. Immerhin sind diese Leute noch jung, es sind Studentinnen und Studenten, und so unbedarft die manchmal auch daherlabern, es wäre unklug, ihnen jede Lernfähigkeit abzusprechen. Sie können noch dazulernen, zum Beispiel durch einen Putzfrauenjob. Müssten sie für zehn Euro die Stunde auf dem Unicampus ihre eigene Scheisse von den Toilettenrändern kratzen, würde ihnen vielleicht ein Licht aufgehen.

 

Oktober, 2014