Goethe jodelt

 

Das unten skizzierte Handlungsgerüst ist als Vorlage für ein Hörspiel oder einen Trickfilm gedacht. Textliche, dramaturgische und konzeptuelle Anpassungen an die eine oder andere Option sind in diesem Entwurf noch nicht berücksichtigt. 

 

1. Anreise, Sturz durch das Wurmloch

 

Xavier Blunschi, ein Aushilfslehrer aus Buckten, der sein mageres Gehalt mit gelegentlichen Touristenführungen ausbessert, begleitet Goethe auf dessen vierter Schweizer Reise. Goethe reist inkognito als “Bäckermeister Fridolin Göpf aus Binzen bei Basel”, aber Blunschi weiss natürlich Bescheid. Nachdem er auf Vermittlung der Allgemeinen Lesegesellschaft mit Goethe zusammengekommen ist, hat Blunschi sein Engagement mit dem Schwur besiegeln müssen, das Inkognito des reisenden Dichterfürsten unter allen Umständen zu wahren. Allerdings findet es Blunschi unverständlich, dass Goethe den typischen Goethe-Hut auf hat. Mit diesem Hut kennt ihn die ganze gebildete Welt, und das Pseudonym ist auch nicht besonders wasserdicht. Um seine Tarnung zu vervollständigen, hat Goethe eine Geige dabei, die “Kreuzfidel”, wie er sie nennt. Als er das letzte Mal auf ihr gespielt hat, ist er ein Knabe gewesen. Jetzt will er das Geigenspiel wieder aktivieren, um sich als Hobby-Musikus auszugeben. (Blunschi hat sicherheitshalber Ohrenpfropfen mitgenommen).

 

Auf der Kutschenfahrt in Richtung Innerschweiz erblickt Goethe ein hübsches Bauernmeitschi. Er streckt den Kopf aus der Kutsche, um das Meitschi zu grüssen, und tippt dabei dreimal an seinen Hut. Doch ausgerechnet in diesem Moment fährt die Kutsche in ein Schlagloch. Goethe verschluckt sich an einem Caramelbonon. Er hustet krampfhaft, Blunschi klopft ihm auf den Rücken, und Goethe spuckt das Bonbon mit reichlich Hustenauswurf auf die Strasse hinaus. Ein plötzlicher Windstoss reisst ihm auch noch den Hut vom Kopf.

 

Goethe lässt anhalten und steigt aus, um den Hut zu suchen. Das Bauernmeitschi ist verschwunden. Aus der Gegenrichtung fährt plötzlich eine Kutsche vorüber. Im Kutschenfenster erblickt er jemanden, der ihm selbst zum Verwechseln ähnlich sieht. Ein Doppelgänger? Eine Täuschung? Ein Gespenst? Goethe ist konsterniert, er verzichtet darauf, den Hut zu suchen, springt in die Kutsche zurück und möchte so schnell wie möglich weiterfahren.

 

Die Kutsche fährt weiter. Plötzlich wird sie von einem grünlichen Elmsfeuer ergriffen, sie lodert und flackert, sprüht Funken. Goethe sieht seinen Hut durch die Luft wirbeln, die Kutsche schlingert gefährlich hin und her, und auf einmal kippt sie vornüber und saust durch ein Wurmloch in eine andere Dimension.

 

Es ist tiefdunkle Nacht. Der Wind hat sich gelegt, das Elmsfeuer ist erloschen. Ringsum erheben sich Berge, die von Scheinwerfern angestrahlt werden, in den Schluchten braust Wasser.

 

2. Rettung der Freizeit-Alpinisten

 

Die Kutsche hält vor einem Berghotel. Goethe und Blunschi steigen aus. Beide haben nicht die geringste Ahnung, was mit ihnen geschehen ist. Blunschi gibt zu, dass er die Orientierung verloren hat, auch der Kutscher ist ratlos. Die Auskünfte, die sie im Hotel erhalten, sind verworren. Es herrscht ein heilloses Durcheinander, viel Betrieb. In der Eingangshalle hat sich eine Rettungsmannschaft versammelt. In der Nähe des Hotels soll eine ganze Seilschaft verunglückt sein. Goethe und Blunschi fassen Allwetterjacken und Sturzhelme. Ohne wirklich zu verstehen, worum es geht, schliesslich sie sich dem Rettungstrupp an. Bewaffnet mit Seilen und Leitern steigt man den Berg hinauf. Der Unglücksberg ist ein Dreitausender, der Stirni Höng. Die Seilschaft, die halberfroren in einer Felsnische hängt, wird gerettet.

 

Die geretteten Freizeit-Alpinisten (es sind Angehörige des berüchtigten Studentenfreikorps “Alpenbund” und ehemalige Zöglinge des “Philantrophikums”, einer helvetischen Musterschülerschule) finden es unfair, dass man sie gerettet hat; eigentlich seien sie gar nicht in einer Notlage gewesen, behaupten sie, und sowieso sei der Stirni Höng ein Mini-Berg, für sie eigentlich viel zu harmlos. Sie bräuchten etwas Grösseres. In der Felswand entsteht ein Disput, eine alpinistische Grundsatzdiskussion. Dabei tut sich vor allem der von Schmissen verunstaltete Anführer des Studentenfreikorps hervor, ein gewisser Meinrad Hürzeler aus Aarwangen.

 

Goethe nimmt an der Debatte keinen Anteil. Er nutzt die Gelegenheit, um die mineralogische Zusammensetzung der Felswand zu studieren. Dies fällt ihm umso leichter, als die ganze Felswand von Scheinwerfern angestrahlt wird. Beim Blick durch den Feldstecher bemerkt er in grosser Höhe ein sonderbares Ding: es ist sein Hut! Der Wind hat ihn auf einen Felskamm geworfen, und nicht weit davon entfernt sieht Goethe einen einzelnen Bergsteiger, der sich in Richtung Hut voranarbeitet.

 

Als die Studenten endlich klein beigeben, will man ins Hotel zurück. Goethe erhebt Einspruch. Er gibt zu bedenken, dass in der Felswand oben noch jemand herumsteige. Man könne diesen Alpinisten doch unmöglich seinem Schicksal überlassen! Das sei unedel! (Eigentlich möchte Goethe nur an seinen Hut herankommen). Als man jedoch die Felswand mit Feldstechern absucht, ist niemand zu sehen, der Bergsteiger ist verschwunden - mitsamt Goethes Hut.

 

Goethe ist frustriert. Jetzt hat dieser Kerl doch tatsächlich den Hut mitlaufen lassen! Goethe rechnet Blunschi vor, wieviel der Goethe-Hut bei einer Auktion einbringen würde.

 

Im Hotel kommt eine nervöse Frau auf Goethe zu. Alles an ihr ist kariert: Kleid, Koffer, Schirm etc. Sie verwickelt Goethe in ein Gespräch. Als sie von Goethes Sichtung erfahren habe, sei sie sofort hellhörig geworden, erklärt sie aufgeregt. Dem verschwundenen Bergsteiger sei sie schon seit Monaten auf der Spur. Er sei ihr Mann. Er klettere die ganze Zeit in den Bergen herum und sammle den Bergmüll ein. Ständig reise sie ihm nach, ohne ihn jemals anzutreffen. Immer sei er woanders als sie. Er mache das absichtlich. Sie habe nämlich die Scheidungsurkunde dabei, und er wolle partout nicht unterschreiben. Aber irgendwann werde sie ihn finden und zur Unterschrift zwingen. Diese Ehe müsse unbedingt beendet werden! Goethe verspricht ihr seinen Beistand: schliesslich geht es auch um seinen Hut. Ganz nebenbei erzählt Frau Waber auch noch, dass ihr Mann nicht nur Müllsammler, sondern auch Trödelhändler sein. Seine Fundstücke pflege er gewinnbringend an der Mötschtaler Mitternachtschilbi zu verkaufen. Goethe wittert Morgenluft. Er möchte so schnell wie möglich an die Mötschtaler Mitternachtschilbi, um seinen Hut wiederzubekommen.

 

Im Hotel hat sich eine weitere Reisegesellschaft eingefunden. Es ist der “Bettschonerverein”. Die Leute in diesem Verein haben ein grundsätzliches Interesse daran, niemals ins Bett zu gehen. Die ewige Nacht in dem nur von Scheinwerfern, Lampen und Kerzen beleuchteten Paralleluniversum machen sie ganz bewusst zum Tag. In einer kollektiven Aufwallung von Bergbegeisterung schliesslich sie sich den Studenten an. Gemeinsam mit den ewigen Nachtschwärmern wollen die abenteuerlustigen Studenten einen besonders hohen Berg ausfindig machen, um ihn mit Pomp und Trara zu bezwingen. Als Goethe von diesem Vorhaben erfährt, ist er entsetzt. Er outet sich als Flachland-Philanthrop, er möchte verhindern, dass die Studenten wieder in eine lebensgefährliche Lage geraten. Ausserdem hat er keine Lust auf Bergbesteigungen, sondern möchte so schnell wie möglich an die Mötschtaler Mitternachtschilbi fahren. Mittlerweilen ist er davon überzeugt, dass der Verlust seines Hutes irgendetwas mit dem Sturz in dieses Paralleluniversum zu tun hat. Vielleicht, so denkt Goethe, bringt mich mein Hut ja wieder in die normale Welt zurück. Da es ihm jedoch nicht gelingt, die Studenten von der Gefährlichkeit des Bergsteigens zu überzeugen, erfindet er einen Phantasieberg, den sogenannten Vierdreifünfteltausender, und verspricht der ganzen Reisegesellschaft, dass er sie dorthin führen werde. Alle steigen nun in die Kutsche und fahren weiter durch die Nacht. Goethe gibt dem Kutscher, der sich mit einem ortskundigen Älpler zusammengetan hat, heimliche Anweisungen. Das Ziel: die Mötschtaler Mitternachtschilbi. Frau Waber fährt mit. (Sie und Blunschi sind in Goethes Vorhaben eingeweiht).

 

3. Kurbad Dännlisalp

 

Im leerstehenden Kurbad Dännlisalp gönnt sich die Reisegesellschaft eine kurze Erholungspause. Man legt sich im Mondlicht auf die Aussichtsterrasse und trinkt Mineralwasser. Goethe zupft und streicht ein wenig auf seiner Kreuzfidel herum, doch bald muss er feststellen, dass er nicht der einzige Musikus in diesem Kurbad ist. Wie von weither erklingt Klaviermusik. Goethe und Blunschi gehen den Klängen nach. Dabei kommen sie in die tieferen Bereiche des Hotels, in die Spezialbäder, Huminsäureanreicherungsanlagen, Chlorküchen und Grottenolmenvivarien. Obwohl das Kurbad offiziell nicht mehr in Betrieb ist, gurgelt überall Wasser. Im hoteleigenen Jungbrunnen tummeln sich Kleinkinder, die, wie Goethe und Blunschi herausfinden, gar keine Kinder sind, sondern erwachsene Kurgäste, die beim Baden im Jungbrunnen zuviele Lebensjahre verloren haben. Sie haben sich zu Kindern zurückentwickelt, natürlich nicht geistig, sondern ausschliessilch körperlich. Nach der Stillegung des Hotels sind sie alle hiergeblieben, das Leben von Erwachsenen ist ihnen nicht mehr möglich. Einer von ihnen, ein kleiner Knirps, der von sich behauptet, er sei ein frühpensionierter Schaltanlagenmonteur, freundet sich mit Goethe und Blunschi an, sein Name ist Alfons Nietlisbach. Seit er im Kurbad seine Verjüngungsbäder nimmt, betätigt er sich nebenher auch als Hausbibliothekar und Sagenforscher. Insbesondere erforscht er das Verhalten des Schlafriesen, der in der hiesigen Gegend immer mal wieder mit seinem kolossalen Schnarchen auf sich aufmerksam macht. Alfons Nietlisbach vermutet, dass der Schlafriese unter einer Rhonchopathie, einer hauptsächlich im Flachschlaf auftretenden Atemstörung leidet, und er hat auch schon ein Mittel dagegen gefunden. Sobald der Riese einschläft, wird Schnarchalarm gegeben. Daraufhin rücken die Kurbadkinder aus und versetzen den Riesen mit einem eintönigen Singsang in einen hypnotischen Tiefschlaf, wodurch zwar das Schnarchen nicht gänzlich verschwindet, aber die nachteiligen Folgen für die Gesundheit des Riesen eingedämmt werden können. Goethe - selber ein Schlafriese, sein Schlafpensum beträgt 10 Stunden pro Nacht - ist begeistert von dieser Methode, während Blunschi nur den Kopf schüttelt.

 

Da hören sie wieder das Klavier. Wer zum Teufel spielt denn hier so schön Klavier? wollen sie wissen. Alfons Nietlisbach weiss es auch nicht. Gemeinsam geht man nachschauen. Im schöngeistigen Salon des Sousols sitzt Meinrad Hürzeler, der Anführer des Studentenfreikorps, am Klavier und spielt wie ein musikalischer Grossmeister. Seine Darbietung ist virtuos. Als er seine Zuhörer bemerkt, beendet er das Spiel abrupt, klappt den Klavierdeckel zu und schreit: “Merde pour la musique!”

 

Die Touristen versammeln sich im grosszügig verglasten Panoramasaal. Draussen auf der Dännlisalp ist es stockdunkel. Den Hängegletscher über der Alp kann man in dieser Schwärze zwar nicht sehen, aber immerhin hört man, wie das Eis poltert. Die Leute pusten sich in die Hände, die Heizungen sind defekt. Die Studenten maulen herum, werden unruhig: sie wollen auf den Vierdreifünfteltausender! Der Berg ruft! Die Kutsche fährt vor, alle sind reisefertig - ausser Goethe. Blunschi macht sich auf die Suche nach ihm. Er findet ihn in der Hotelbibliothek. Der Dichterfürst und Bildungsminister ist wieder einmal schwer beschäftigt. Alle schlechten oder mittelmässigen Bücher schafft er nach draussen und nagelt sie im Hotelgarten an die Bäume. Als ihn Alfons Nietlisbach, der Hotelbibliothekar, zur Rede stellt, antwortet Goethe: “Diese Massnahme mag ihnen ungehörig erscheinen, aber ich tue nur das Nötige, ich verbreite hier ein wenig Kultur. Sie erlauben doch...” Alfons Nietlisbach verkneift sich jeden weiteren Einspruch. Nicht nur aus Gutmütigkeit, sondern auch deshalb, weil er Goethes Inkognito durchschaut hat. Er bewundert Goethe. “Ich liebe alle ihre Theaterstücke, vor allem den Wilhelm Tell!” Goethe nimmt das Kompliment mit Gelassenheit auf. Er möchte sich verabschieden. Doch Alfons Nietlisbach hält ihn fest. Er führt Goethe in die Geheimkammer der Bibliothek: hier werden die gesammelten Werke von Paracelsus aufbewahrt. Alfons Nietlisbach verrät Goethe ein Geheimnis: Paracelsus sei infolge eines verpatzten Zaubers durch ein Wurmloch in dieses Universum hineingefallen. Er, Paracelsus, kenne den Rückweg, er verfüge über den entsprechenden Übertrittszauber, den sogenannten Linus Lumbus, doch gefalle es ihm hier so gut, dass er gar nicht mehr zurückwolle. Hingegen sei es ziemlich wahrscheinlich, dass Goethe - der grosse Sonnenanbeter - in der ewigen Dunkelheit dieses Universums verkümmern müsse. Falls er denn jemals wieder nach Weimar und ans Tageslicht wolle, sei er bestimmt nicht schlecht beraten, sich an Paracelsus zu wenden... Goethe beherzigt den Ratschlag und fragt Alfons Nietlisbach, wo denn Paracelsus zu finden sei. Das wisse niemand so genau, erklärt Nietlisbach, Paracelsus sei ein Gestaltenwandler und Verkleidungskünstler, ausserdem ständig auf der Suche nach Kräutern, Pilzen und heilkräftigen Kristallen. Manchmal gehe er mit seinen wunderlichen Arzneien hausieren, und manchmal reite er auf einem Gämsbock über die Almweiden, um die Sennen zu erschrecken. Man könne ihm fast nur zufällig begegnen - oder gar nicht. Als Trostpflaster überreicht Nietlisbach Goethe ein Mittel aus der Paracelsischen Hausapotheke, eine Salbe aus Steinbockhoden. Streicht man sich dieses Präparat ins Gesicht, gewinnt man erotische Attraktivität. Die Gesichtszüge werden elastisch und weich. “Falls Sie Frau von Stein doch noch herumkriegen wollen,” meint Nietlisbach grinsend.

 

“Meines Bedünkens spannt man vor die Liebeskutsche am besten einen Steinbock,” meint Goethe gegenüber Blunschi. Blunschi notiert diesen Satz umgehend in sein Reisejournal, er plant nämlich eine Sammlung mit Goethe-Aphorismen.

 

4. Nachtsolarium und Mitternachtschilbi

 

Die Reisegesellschaft steigt in die Kutsche und fährt weiter. In der Ferne ein gleissendes Licht. Goethe fragt Frau Waber, ob das die Sonne sei. Und wenn ja, welche. Frau Waber lacht. Das sei bloss das Nachtsolarium, erklärt sie, dorthin gehe man hierzulande, wie man in Finnland in die Sauna gehe. Aus Vergnügen, andererseits aber auch aus Notwendigkeit. Das Nachtsolarium spende ein Ersatzlicht für die regenerative Auffrischung der Körperzellen. Die Studenten gebärden sich übermütig. “Megageil, jetzt holen wir uns die Negerbräune, und nachher besteigen wir den Vierdreifünfteltausender!” Goethe redet ihnen gut zu, predigt Geduld. Indessen holt Frau Waber die Scheidungsurkunde hervor. Gleich neben dem Nachtsolarium findet die Mitternachtschilbi statt. Dort hofft Frau Waber ihren Mann zu finden. Allerdings möchte sie Goethe vorschicken und sich hinter ihm verstecken, damit Herr Waber nicht zu früh bemerkt, dass seine Frau im Anzug ist. Er soll ihr kein weiteres Mal entwischen. Es ist also ein Überraschungscoup geplant.

 

Man geht gemeinsam ins Nachtsolarium. Im Anschluss daran verabreicht man sich eine gute Portion Valium, damit man im Trubel der Mitternachtschilbi nicht den Boden unter den Füssen verliert. Allerlei Vergnügungen werden hier geboten: Scheibenschiessen, Kuhfladenbingo, Schaukämpfe des Turnveteranenvereins, Schiesskunststücke der Freihand-Schützengesellschaft sowie die verschiedensten Bahnen - vom Kotzkarussell und dem Drillhäuschen bis zur Bergbordellbahn. Während sich die Studenten nach Kräften amüsieren (vor allem in der Bergbordellbahn, aus der ein lautes Stöhnen heraustönt) begibt sich Goethe mit Frau Waber auf die Suche nach dem flüchtigen Ehemann. Sie finden ihn hinter seinem Verkaufsstand. Er verkauft hier den ganzen Bergmüll, den er auf seinen Klettertouren einzusammeln pflegt. Der Überraschungscoup gelingt. Frau Waber hält ihrem Mann die Scheidungsurkunde unter die Nase, er verweigert jedoch die Unterschrift, will nichts von Scheidung wissen. Daraufhin droht ihm Frau Waber mit einer lebenslänglichen Verfolgung. Er werde sie nie wieder los! Goethe versucht zu beschwichtigen. Dann aber besinnt er sich auf seine eigenen Obliegenheiten. Ganz beiläufig fragt er Herrn Waber nach dem Hut, dem Goethe-Hut. Herr Waber kratzt sich am Kopf. Ja, so einen Hut habe er gehabt, tatsächlich. Allerdings sei der schon verkauft... Eine jüngere Frau sei das gewesen, sie habe gesagt, sie wolle sich an einem Maskenball als Goethe verkleiden, lustig, nicht wahr? - Aber Goethe findet das ganz und gar nicht lustig.

 

Goethe bittet Herrn Waber, ihn bei der Suche nach dieser Frau zu unterstützen. Herr Waber wisse zumindest, wie sie aussehe, er kenne das Signalement. Herr Waber wendet ein, dass er sich Goethe nur unter der Bedingung anschliesse, dass Frau Waber, diese dumme Schachtel, endlich Ruhe gebe. Er wünsche fürderhin nicht mehr belästigt zu werden. Goethe legt nun bei Frau Waber ein gutes Wort für ihn ein. Auf diese grobschlächtige Weise könne sie ihren Noch-Ehemann niemals zur Scheidung bewegen, redet ihr Goethe ins Gewissen. Sie müsse mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Mit weiblichem Feingefühl. Frau Waber zeigt sich einsichtig, sie will ihrem Mann nicht weiter zusetzen, obwohl sie an ihrem Scheidungswunsch festhält. Nachdem die Reisegesellschaft wieder in die Kutsche eingestiegen ist, sitzen Herr und Frau Waber friedlich und schweigsam nebeneinander. Goethe wertet dies als Erfolg. Die neue Zielbestimmung überlässt Goethe dem Kutscher, der sie seinerseits seinen Pferden überlässt. Goethe hofft auf einen günstigen Zufall. “Reisen wir blind, mein lieber Blunschi, so leitet uns bestimmt ein treffliches Geschick,” sagt Goethe, als sich Blunschi nach Goethes Reiseabsicht erkundigt. Sofort notiert Blunschi den Satz in sein Journal.

 

5. Eiskunstlauf und Alpenrundfahrt

 

Die Kutsche kommt ans Ufer eines vereisten Flusses. Hier sind noch die Überreste einer Brücke zu sehen, die bei einem Instruktionskurs des Pontonier-Sportverbands völlig demoliert worden ist. Im Vertrauen auf die Kälte entschliesst man sich, aufs Eis hinauszufahren - und prompt bricht die Kutsche ein. Erstaunlicherweise geht sie nicht unter, sie schwimmt wie ein Schiff, und die strampelnden Pferde betätigen sich als Eisbrecher. Anstatt ans andere Ufer hinüberzusetzen, ziehen sie die Kutsche flussaufwärts. Neben der Kutsche erscheinen plötzlich zwei Eiskunstläufer. Es ist ein junges Pärchen. Mit eleganten Sprüngen tanzen die beiden umeinander herum, schwingen und drehen sich über die Eisfläche hinweg. Goethe ist ganz hingerissen. Er kramt sein Schreibpapier hervor und notiert ein albernes Allerwelts-Gedicht im Stil von “Dunkel war’s, der Mond schien helle...” Goethe liest das Geschriebene durch, schüttelt den Kopf, zerknüllt das Papier zu einer Kugel und lässt diese aufs Eis hinausrollen, wo sie den innig ineinander verklammerten Eiskunstläufern unter die Kuven gerät. Die beiden stürzen und holen sich etliche Prellungen. Goethe steigt sofort aus, hilft ihnen auf die Beine und entschuldigt sich vielmals. Die junge Frau stellt sich als Lia Löbeli vor. Sie trägt einen auffallend roten Hut. (Mit Goethes Hut scheint dieser Hut nichts gemeinsam zu haben, und dennoch schöpft Blunschi einen vagen Verdacht, dem er jedoch nicht weiter nachgeht). Der Eiskunstläufer an Lias Seite ist der bekannte Gesichtsgymnastiker Schönenwerd. Er greift nach der Papierkugel, faltet sie auf und liest Goethes Verszeilen laut vor.

 

Dunkel war’s, der Mond schien helle... etc.

 

Die Peinlichkeit ist mit Händen zu greifen. Die ganze Reisegesellschaft bricht in schallendes Gelächter aus. “Haben SIE das geschrieben?” wendet sich Schönenwerd an Goethe. Goethe wird knallrot. Ein Glück, dass er sich hinter seinem Inkognito verstecken kann! Öh, hmmm, stammelt Goethe, das sei bloss so ein Versuch, die Schreiberei liege ihm nicht besonders, er sei Bäcker von Beruf. “Dann wird es höchste Zeit, dass Sie wieder ihre Brötchen backen” entgegnet Schönenwerd zynisch. Lia Löbeli widerspricht ihm. “Hör doch auf! Kannst du vielleicht bessere Gedichte schreiben? Was bist du doch für ein unromantischer Klotz!” Schönenwerd lässt den Zettel fallen und gibt Lia einen Schubs, sodass sie hinfällt. Goethe sieht sich genötigt, den Anstandsregeln mit handfesten Argumenten Nachdruck zu verleihen. Er versetzt dem Grobian eine Ohrfeige. Dieser pariert mit einem Kinnhaken, dessen Wucht von Goethes Halsbinde etwas gedämpft wird. Sofort antwortet Goethe mit einer harten Rechten und doppelt gleich darauf mit einer Linken nach, was Schönenwerd gewaltig aus dem Konzept bringt. Dennoch lässt seine Reaktion nicht lange auf sich warten. Geduckt zielt er von unten herauf in Goethes Magengrube. Dieser strauchelt zurück. Bevor es jedoch zu einem neuen Schlagabtausch kommt, wird Goethe von seinen Reisegefährten überwältigt und in die Kutsche gezerrt. Der Gesichtsgymnastiker Schönenwerd verlangt nun offiziell Satisfaction: er fordert Goethe zu einem Gesichtsgymnastik-Duell heraus.

 

Gleich darauf stösst die Kutsche gegen das Ufer, und die Pferde kämpfen sich an Land. In Sichtweite befindet sich die Talstation Rütti. Von hier aus startet jede halbe Stunde ein grünes Bähnli zu einer Alpenrundfahrt. Goethe und Schönenwerd einigen sich darauf, das Duell auf die gutschweizerische Art, also beim Bähnlifahren auszutragen. Die Kutsche samt Rossgespann wird in den Güterwagen verladen, und die Passagiere verteilen sich auf die kleinen mit Holzsitzen ausgestatteten Waggons. Goethe streicht sich die Paracelsische Steinbockhoden-Salbe ins Gesicht, und der Gesichtsgymnastiker Schönenwerd macht Aufwärmübungen, wie sie vor Gesichtsgymnastik-Wettkämpfen üblich sind: er wackelt mit den Ohren und bläht die Nasenflügel. Jeder der Duellanten wählt sich einen Sekundanten aus. Goethe entscheidet sich für Blunschi, Schönenwerd sekundiert sich selbst. Unterdessen schliessen die Studenten Wetten ab. Mit viel Geschrei und Gelächter rekapitulieren sie die Duellierregeln. Jeder der beiden Duellanten darf eine Viertelstunde wortlos mit Lia Löbeli flirten - natürlich unter Einsatz der ganzen Gesichtsmuskulatur. Derjenige, der es schneller schafft, Lia Löbeli zum Seufzen zu bringen, gewinnt das erotische Duell und darf den Verlierer aus dem fahrenden Zug werfen. Ein Unentschieden würde bedeuten, dass man beide Duellanten aus dem Zug wirft. Goethe fühlt sich natürlich etwas handicapiert, weil er beim Flirten keine Wörter benutzen darf, aber zum Glück hat er ja die Steinbockhoden-Salbe. Er hofft inständig, dass sie etwas nützt.

 

Fehlanzeige! Der Gesichtsgymnastiker Schönenwerd hat eindeutig die besseren Karten. Bei ihm seufzt Lia Löbeli schon nach fünf Minuten, während Goethes Gesichtszuckungen nur ein kleines Kichern hervorrufen, das jedoch laut Duellierreglement nicht als erotische Reaktion gilt. Der Sieger steht also fest. Goethe muss aus dem fahrenden Zug springen. Springt er nicht freiwillig, so hilft man ihm nach. Doch die Studenten fangen an zu murren. Nicht nur, weil die meisten von ihnen auf Goethes Sieg gewettet haben, sondern auch deshalb, weil ihnen auf einmal bewusst wird, dass sie auf Goethe angewiesen sind. Ohne seine kundige Führung würden sie niemals zum Vierdreifünfteltausender finden! (Denken sie). Also beschliessen sie einstimmig, das Duellierreglement nachträglich zu ändern. Nicht Goethe, sondern der Gesichtsgymnastiker Schönenwerd soll aus dem fahrenden Zug springen. Und so geschieht es. Vor der salutierenden Studentenschaft geht Schönenwerd über die Planke - und ward nie wieder gesehen.

 

6. Der Schlafriese und das syldavische Exilantenheim

 

Natürlich hätte Goethe eine mildere Behandlung des Übeltäters gewünscht. Aber da sich die Sache für den Wohltäter aus Weimar zum Guten gewendet hat, hält er sich mit Kritik zurück. Die Studenten feiern ihn als Helden, und Lia Löbeli scheint gar nicht so unglücklich darüber zu sein, dass sie ihren selbstverliebten Eiskunstlaufpartner losgeworden ist. Sie bedankt sich sogar bei Goethe. “Einen hübschen Hut haben Sie da,” sagt Goethe. Lia Löbeli lacht. So schön nun auch wieder nicht, erklärt sie kokett. Sie habe die Innenseite nach aussen gestülpt, um ihn als Dame überhaupt tragen zu können... Da tritt Herr Waber hinzu. Er tippt Goethe auf die Schulter. “Ich möchte Sie drauf aufmerksam machen, dass...” Doch weiter kommt er nicht. Durch den Zug geht ein heftiger Ruck.

 

Die Bergbahn hält an. Man hört ein mächtiges Schnarchen, und schlagartig getraut sich niemand mehr laut zu sprechen. “Pssst, der Schlafriese!” raunen diejenigen, die Bescheid wissen. Der Lokführer erklärt, man dürfe hier auf keinen Fall weiterfahren. Die Bodenvibrationen des fahrenden Zugs könnten den Schlafriesen ungünstig beeinflussen - am Ende gar aufwecken! Man müsse Geduld haben. Es gelte zu warten, bis der Riese tief genug schlafe, die Entwarnung komme dann schon. Goethe und Blunschi steigen aus, um den Schlafriesen zu besichtigen. Ganz in der Nähe muss irgendwo sein Schlafplatz sein, aber wo? In der Nacht und ohne Beleuchtung sehen sie wenig. Das einzige, was sie sehen können, sind die Kurbadkinder, die wegen das Schnarchens bereits ausgerückt sind und mit kleinen Kerzlein in ihren Händen den eintönigen Hypnosegesang anstimmen. Tatsächlich tut der Gesang seine Wirkung, das Schnarchen wird leiser. Nach einer Weile bemerken Goethe und Blunschi, dass sie den Riesen gar nicht mehr zu suchen brauchen, sie stehen auf ihm drauf, ja, sie stehen sogar auf seiner höchsten Stelle, auf seiner Nase. Goethe und Blunschi spazieren auf dem Schlafriesen herum wie zwei Filzläuse. Sie spazieren über die Stirn und stapfen in Richtung Kinn über einen wulstigen Wangenknochen. Goethe, der diesen Spaziergang dazu benutzt, um über seine anatomischen Spezialforschungen zu dozieren, erzählt, wie frustrierend es sei, dass seine bahnbrechende Entdeckung des Zwischenkieferknochens in keinem einzigen medizinischen Fachbuch erwähnt werde. Direkt neben den Nasenlöchern bekommen sie einen kräftigen Luftzug zu spüren. “Brrr,” sagt Goethe. “Mich deucht, es bläst ein kühles Windchen...” Schliesslich klettert Alfons Nietlisbach, der den Kurbadkinderchor dirigiert hat, auf einer Strickleiter zu ihnen herauf. Er gibt Entwarnung. Der Riese schlafe jetzt tief genug, meint Nietlisbach, der Zug könne weiterfahren.

 

Kaum ist man eingestiegen, versucht Herr Waber Goethe begreiflich zu machen, dass Lia Löbeli die Frau ist, die den Goethe-Hut gekauft hat. Doch wieder kommt etwas dazwischen. Der Zug hat noch kaum richtig Fahrt aufgenommen, da hält er schon wieder an. Diesmal ist es Frau Waber, die die Bremsung veranlasst hat. Auf dem Seeligengupf (2500 M.ü.M.), wo der Zug neuerlich zum Stehen gekommen ist, gibt es eine Aussichtsplattform mit Kiosk. Frau Waber möchte sich unbedingt ein paar Ansichtskarten besorgen. Herr Waber protestiert. Er ist entschieden dagegen, dass man hier herumtrödelt mit “weibischen Einkäufen”. Frau Waber schlägt ihm die Scheidungsurkunde um die Ohren, worauf Herr Waber die Urkunde mit Hohngelächter zerreisst. “Erst der Tod wird uns scheiden!” triumphiert er. - “Das kannst du haben!” keift seine Frau. “Gleich bringe ich dich um, du Sauhung!” Goethe sieht sich wieder einmal in der Rolle des Vermittlers und Friedensstifters. Er schlägt ein gemeinsames Mitternachtsessen vor. Herr und Frau Waber fügen sich schmollend. Alle steigen aus, die Kutsche wird aus dem Zug geladen, und Frau Waber stürzt sich auf die Ansichtskarten. Doch mittlerweilen sind ihr die Ansichtskarten gar nicht mehr so wichtig, es geht ihr nur noch darum, ihrem Mann eins auszuwischen. Goethe dagegen findet den Kiosk sehr interessant. Was es da nicht alles gibt! Wie zu erwarten, sind die meisten Ansichtskarten schwarz - als ob die Photographien nicht belichtet worden wären. Goethe räsonniert über das Licht - und das Wunder der Farben.

 

Ein Stückweit oberhalb des Kiosks befindet sich das Bergrestaurant Blumenstein. Es ist von oben bis unten eingerüstet, Handwerker und Bauleute hämmern, malen und tapezieren. Trotz dieser Renovierungsarbeiten lockt das Restaurant mit einer gediegenen warmen Küche und einer periodischen Extravorstellung der Seeligengupfer Ländlerfründe. Die Reisegesellschaft hält Einzug. Man sichert sich einen gemütlichen Tisch, bestellt eine Runde Getränke und prostet sich zu. Und nicht lange danach verspüren alle einen gewissen Drang, alle stehen gleichzeitig auf, um das WC zu suchen. An einer winzigen Tür im hintersten Winkel der Gaststube sind die beiden Buchstaben eingeritzt. Die ganze Reisegesellschaft - bestehend aus mindestens zwanzig Leuten - drängt sich durch das vermeintliche WC-Türchen - und muss feststellen, dass hier keineswegs das erhoffte stille Örtchen zu finden ist. Stattdessen Steinstufen, die in eine Felskaverne hineinführen. Durch die ausufernden Renovierungsarbeiten sind hier ganz eigenartige Raumverhältnisse entstanden. Gewiss ist nur, dass man in diesem Korridor irgendwie abwärts und ins Berginnere gelangt.

 

Die Treppe endet vor einem grösseren Portal, das den Eingang zu einer riesigen unterirdischen Kathedrale bildet. Einige Studenten wollen unverzüglich ihrem Blasendrang nachgeben. Sie nesteln schon an ihren Hosenschlitzen. In unzweideutiger Absicht eilen sie auf das Taufbecken zu. Da ertönt eine mächtige Stimme: “Untersteht euch! Entweiht nicht die innerweltliche Gebenedeitheit des syldavischen Exilantenheims!” Syldavisch-orthodoxe Priester in wallenden Gewändern und mit langen schneeweissen Bärten rauschen durch den Kirchenchor, fuchteln mit Hirtenstäben und klackern mit Holzpantinen auf dem Steinboden. In den Kirchenbänken erheben sich Leute, die dort still gebetet haben, Frauen, Männer, Kinder. “Habt Erbarmen mit dem frommen Volk!” rufen die Priester.

 

Es stellt sich heraus, dass die unterirdische Kathedrale, ursprünglich der christkatholische Stützpunkt des helvetischen Réduits, zu einem Exilantenheim umfunktioniert worden ist. Etliche Flüchtlinge aus dem bedrängten syldavischen Grossreich haben sich hier niedergelassen. Seit Jahren schon beten sie zu ihrem Gott, er möge sie in ihre glorreiche Heimat zurückführen. Goethe kommt mit den Priestern ins Gespräch, das syldavische Exilantentum interessiert ihn. Blunschi gegenüber deutet er an, dass er ein Ideendrama über den syldavischen Freiheitskampf zu schreiben gedenke. Indessen habe er da so gewisse Zweifel. Vielleicht sei es besser, wenn er dieses Thema seinem Kollegen Schiller überlasse.

 

Da wendet sich Meinrad Hürzeler, der Anführer des Studentenfreikorps, an die syldavisch-orthodoxen Priester. Er erbittet ihren Segen. Zum Erstaunen aller spricht er fliessend syldavisch. “Sind Sie etwa Syldave?” fragen ihn die Priester verdutzt. “Jawohl,” sagt er, nun wieder auf Deutsch, sodass ihn alle verstehen können. “Ich habe meine heroische Herkunft lange verleugnet. Aber jetzt bekenne ich mich zu ihr. Mein Tauf- und Künstlername ist Mirslozowitch, ich bin der bekannte syldavische Grosspianist Mirslozowitsch aus Klow...” Die andern Studenten - aber auch die Syldaven - umringen ihn staunend, er macht das Victory-Zeichen und fängt an, Autogrammkarten zu verteilen. Währenddessen erteilen ihm die Priester ihren Segen. Sie schwenken ihre Weihrauchgefässe, und dabei entwickelt sich soviel Rauch, dass die Rauchmelder anschlagen: es wird Feueralarm ausgelöst. Im Nu ist die Feuerwehr zur Stelle, selbstverständlich nicht irgendeine Feuerwehr, sondern die guttrainierte Brandbekämpfungstruppe der Seeligengupfer Bergwache unter Oberkommandant Ferdinand Löbeli.

 

Der Oberkommandant ist über den Fehlalarm etwas verärgert. Gleichwohl freut er sich über das Wiedersehen mit seiner Tochter Lia. Lia Löbeli ist tatsächlich seine leibliche Tochter. Vor etlichen Jahren hat er sie vermutlich zwischen zwei Brandschutzübungen gezeugt. Zwar kann er sich nicht mehr daran erinnern, aber das Ergebnis liegt ja vor. Nun will er von ihr wissen, ob sie für den diesjährigen Feuerwehrmaskenball ein gutes Kostüm gefunden habe. “Oh ja, das habe ich, Papa,” lacht Lia. “Du wirst staunen!” - Der Oberkommandant nutzt die Gelegenheit und lädt die ganze Reisegesellschaft und selbstverständlich auch die Exil-Syldaven zu sich in den Bergwachtbunker ein, wo der Feuerwehrmaskenball stattfinden soll. Die Anwesenden sind begeistert, vor allem die Priester. Diese haben nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie mit ihren opulenten Gewändern im Mittelpunkt des Maskenballs stehen werden.

 

7. Der Feuerwehrmaskenball im Bergwachtbunker

 

Dem syldavischen Grosspianisten Mirslozowitsch kommt die Ehre zu, den diesjährigen Feuerwehrmaskenball mit einer musikalischen Darbietung zu eröffnen. Er haut wie besessen in die Klaviertasten, und Goethe begleitet ihn auf seiner Kreuzfidel - oder versucht es zumindest. Nach einigen flott heruntergespielten Takten verheddert sich Goethe in einer komplizierten Grifffolge, und Mirslozowitsch hält inne. Er verzieht das Gesicht. Und auf einmal lacht er laut heraus. “Ich durchschaue Sie!” feixt er. “Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben! Sie sind kein Bäcker, kein Geiger... Sie sind...” Doch bevor Mirslozowitsch seinen Verdacht aussprechen und Goethes Identität offenlegen kann, erscheint Lia Löbeli. Sie hat sich als Goethe verkleidet; die Ähnlichkeit ist unmöglich zu leugnen. Sie hat sich eine markante Nase angeklebt, und auf dem Kopf trägt sie den echten Goethe-Hut. Eigentlich ist es derselbe Hut, den sie vorhin schon angehabt hat. Dadurch, dass sie die rotsamtene Innenseite nach aussen gestülpt hat, hat sie ihn unkenntlich gemacht. Nicht einmal Goethe hat gemerkt, dass es sich um seinen Hut handelt, den berühmten Goethe-Hut! Jetzt aber trägt sie den Hut richtigherum, und alle applaudieren. Alle? Nein, Goethe nicht. Er ist völlig konsterniert. Schon wieder ein Doppelgänger! Das Trauma seiner Verdoppelung holt ihn ein. Hals über Kopf flieht er aus dem Bergwachtbunker, und wenig später sieht man ihn über die zerklüfteten Eisfelder des taghell beleuchteten Gluri-Gletschers rennen.

 

“Was hat er denn? Was ist denn mit ihm los?” fragen sich die Leute. Durch die Bunkerscharten sehen sie, wie Goethe im Flutlicht der Bergbeleuchtung über die Gletscherspalten springt. “Ein erregbarer Bursche,” meint der syldavisch-orthodoxe Oberpriester. “Vielleicht ist er syldavischer Abstammung. Auch seine edle Nase - ich weiss nicht, irgendwie hab ich das Gefühl, er ist Syldaver.” - “Mir scheint eher, er ähnelt ein bisschen dem Herrn Goethe aus Weimar, dem Autor der Emilia Galotti” wirft der Oberkommandant ein. Und zu seiner Tochter: “Jetzt haben wir schon zwei Goethes hier. Wie der Zufall doch so spielt!” - Mirslozowitsch bringt es endlich auf den Punkt: “Einer von den beiden Goethes ist echt! Ich schwöre, ich schwöre!”

 

Der Maskenball beginnt. Die Feuerwehrleute sind als Feuerteufel, Korallenstöcke und Futterartikelverkäufer verkleidet. Fixfertig kostümiert sind auch die syldavisch-orthodoxen Priester. Die andern hingegen - die nichtgeistlichen Exil-Syldaver, die Studenten und die Mitglieder des Bettschonervereins - müssen sich noch irgendwie verkleiden. Viele binden sich ein Tuch vors Gesicht, und wer kein Tuch hat, besorgt sich aus dem Feuerwehrdepot eine Gasmaske und geht damit schnorchelnd ans Buffett - nur um dort festzustellen, dass man mit einer Gasmaske vor dem Gesicht unmöglich Wein trinken oder Salzstängeli knabbern kann.

 

Herr und Frau Waber haben im Feuerwehrdepot Taucheranzüge gefunden, die sie unabhängig voneinander anziehen. Durch diese Ganzkörper-Maskierung kommen sie einander unabsichtlich näher. Am Büffet entspinnt sich zwischen ihnen ein lockeres Gespräch, denn beide wissen nicht, wen sie da gerade vor sich haben. Nicht nur das Äussere ist unkenntlich, sondern auch die Stimme. Herr Waber beklagt sich über seine blöde Frau, und Frau Waber beklagt sich über ihren blöden Mann. Schliesslich fühlen sie sich sehr miteinander verbunden, und sie stellen sogar fest, dass sie beide insgeheim schon immer davon geträumt haben, ein Delikatessengeschäft für Hundefleisch zu eröffnen. Wieso also nicht gemeinsame Sache machen? Hunde gibt es ja mehr als genug.

 

Währenddessen ist Goethe mit dem Fuss in einen Eisriss geraten und kann sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Anstatt nach Hilfe zu rufen, fängt er an zu jodeln. Goethe hat das Jodeln auf seiner ersten Schweizerreise gelernt, und er weiss, dass der Jodel - ein Signalruf, den fast alle Bergvölker kennen - über viel weitere Distanzen zu hören ist als jede andere menschliche Lautäusserung. Blunschi hört den Jodel und eilt Goethe zu Hilfe. Als sie gemeinsam am festgeklemmten Fuss ziehen, gibt das Eis knackend und krachend unter ihnen nach, und sie sausen in die kalte Tiefe hinab.

 

8. Die Medizinalküche des Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus

 

Goethe und Blunschi purzeln in eine grünlichblaue Eishöhle. Überall Reagenzgläser, Destillierkolben und Töpfe, eine klassische Alchemistenküche. Mittendrin ein Koloss mit Brille und einer fetten, glupschäugigen Kröte auf der Schulter. Er stellt sich als Theophrastus Bombastus von Hohenheim vor, Medicus und Säftemischer von Gottes Gnaden, wohl besser bekannt unter dem Namen Paracelsus. Nun, die Herrschaften bräuchten ihm nichts zu erklären, meint er und wedelt mit seinen riesigen Pranken den Rauch fort, der aus einem Reagenzglas steigt. Die Manipulation mit dem Hut, das unbeabsichtigte Ausspucken, das Elmsfeuer und der fatale Holterdipolter-Sturz in das nächtliche Paralleluniversum: das alles kenner er nur zu gut. Auch er, Paracelsus, sei aus der Alltagsrealität hinauskatapultiert worden. Die ewige Nacht sei ihm jedoch gar nicht so fremd gewesen. Irgendwie sei er halt doch ein Nachtmensch, das Tageslicht vermisse er nicht. Es freue ihn, dass er der hiesigen Bevölkerung seine medizinische Betreuung zuwenden dürfe. Niemand denunziere ihn als Scharlatan. Im Vergleich zu seinem früheren Leben sei das eine wesentliche Verbesserung. Seine wichtigste Tätigkeit sei jedoch das Schlafen. Ja, Schlafen sei für ihn eine Tätigkeit, eine Arbeit, eine alchemistische Prozedur. Von Zeit zu Zeit verwandle er sich in einen Schlafriesen, einen Schlafreaktor oder stillen Brüter, durch den die nächtliche Welt mit Astralenergie versorgt werde. Für den Fortbestand der von der Sonne weitgehend abgeschnittenen Nacht sei es unerlässlich, dass jemand die Energiezufuhr gewährleiste. Er, Paracelsus, sei ein guter und zuverlässiger Schlafriese. Und bis auf weiteres sei er wohl der einzige Nachtbewohner, der für diesen Job ausreichend qualifiziert sei...

 

“Ach ja, die Sache mit dem Hut,” meint Paracelsus, als er Goethes fragenden Blick bemerkt. ”Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Goethe, dass es gefährlich ist, wenn man seinen Hut dreimal antippt und dabei auch noch ausspuckt. Dadurch öffnet man die Pforte zur Nachtwelt, zum Traumland der Nyx, wo die Schäfchenwolken schwarz sind... Offensichtlich haben Sie den berüchtigten Hut-Zauber ausgelöst, ohne sich bewusst zu sein, was Sie da angerichtet haben. Aber halb so schlimm, ich kann Sie beruhigen. Es gibt nämlich eine Rückführungsoption.” Mit diesen Worten überreicht Paracelsus Goethe und Blunschi den Linus Lumbus, eine kleine Bergpflanze mit zauberkräftiger Wirkung. Wer mit ihr dreimal seinen Hut berührt und kräftig ausspuckt, entriegelt damit die Pforte zur “mittägigen Oberwelt”. Auf diese Weise wird der Hut-Zauber rückgängig gemacht. In dieses Geheimwissen werden Goethe und Blunschi von Paracelsus eingeweiht.

 

Nun sind sie heilfroh, endlich die Heimreise antreten zu dürfen. Sie verabschieden sich von Paracelsus, versichern ihm ihre Dankbarkeit und klettern zurück an die Oberfläche des Gletschers.

 

9. Die Rückreise mit dem Linus Lumbus

 

Inzwischen hat Lia Löbeli eine Rettungsaktion organisiert. Die ganze Festgesellschaft ist mit Seilen, Stangen und Leitern ausrückt, um Goethe und Blunschi zu retten. Die Erleichterung ist gross, als man sie unversehrt aus einer Gletscherspalte herauskriechen sieht.

 

Die Studenten nehmen Goethe sofort in die Zange. Sie bedrängen ihn. “Bringen Sie uns gefälligst zum Vierdreifünfteltausender! Schluss mit diesem Schnickschnack, diesem Mummenschanz! Wir wissen, wer Sie sind! Bäckermeister Fridolin Göpf! Vonwegen! Gööööthe! Sie sind Goethe, der Alleskönner, und deshalb sind Sie auch in der Lage, uns auf diesen Berg zu führen!” Goethe wehrt verlegen ab. “Ich kann längst nicht alles,” meint er bescheiden. “Zum Beispiel kann ich nicht Brot backen.”

 

Da ergreift Mirslozowitsch das Wort. “Lieber Herr Geheimrat von und zu Goethe, ich weiss doch, dass Sie uns angeflunkert haben. Es gibt keinen Vierdreifünfteltausender. Und überhaupt sind die Alpen so klein und harmlos, als hätte man sie mit Kuchenförmchen gemacht. Ich schlage deshalb vor, dass das ganze Studentenfreikorps aus diesem erbärmlich braven Alpenländchen auswandert. Ja, geschätzte Kommilitonen! Kommt mit nach Syldavien! In meinem Heimatland wird man euch grossherzig Exil gewähren. Dort seid ihr willkommen. Dort gibt es jede Menge Abenteuer, jeden Tag Schiessereien, Raufereien und Alkohol... Ein Studentenleben in Saus und Braus!” Die Studenten lassen von Goethe ab. Sie sind begeistert. Auf einmal wollen sie nur noch eines: nach Syldavien auswandern. Und die Exil-Syldaven säumen keine Sekunde, sie schliessen sich dem Exodus an.

 

Auch Herr und Frau Waber rüsten sich für die Abreise. Sie haben sich versöhnt und planen nun wieder eine gemeinsame Zukunft. Sie wollen einen Kredit aufnehmen, um ein Delikatessengeschäft für Hundefleisch zu eröffnen. Goethe, bekanntlich kein Hundefreund, zumindest was lebende Hunde angeht, gratuliert ihnen dazu. “Wahrlich, das ist des Pudels Kern,” sagt er.

 

Und zu Blunschi: “Die Ehe ist doch ein wunderliches Ding. Christiane, meine geliebte Ehefrau, kann weder lesen noch schreiben. Aber gerade deshalb sind wir uns so zugetan.” (Blunschi notiert diesen Ausspruch umgehend in sein Journal).

 

Als nächstes verabschiedet sich Goethe von Lia Löbeli. Sie gibt ihm, nicht ohne Bedauern, seinen Hut zurück. “Sie sind wohl der bessere Goethe als ich,” meint sie.

 

Goethe, Blunschi und der Kutscher besteigen die Kutsche. Goethe nimmt den Linus Lumbus zur Hand, tippt mit ihm dreimal gegen die Hutkrempe und spuckt auf den Boden. Der Hut-Zauber funktioniert. Kaum hat sich die Kutsche in Bewegung gesetzt, wird sie von grünlichem Elmsfeuer umsprüht, sie hebt ab und saust wie ein Blitz durch das sich krümmende Wurmloch.

 

Plötzlich ist es taghell. Die Sonne steht am Himmel, Vögel zwitschern. Die Kutsche rattert auf einer schönen Landstrasse dahin. Goethe blickt aus dem Kutschenfenster. Am Strassenrand bemerkt er im Vorüberfahren eine andere Kutsche, und neben der Kutsche steht er selbst: Johann Wolfgang Goethe. Dieser andere Goethe starrt ihm konsterniert nach. Goethe weiss, was das zu bedeuten hat. Diesmal erschreckt ihn sein Doppelgänger nicht. Goethe wendet sich an Blunschi. “So, da wären wir wieder. Wie mir scheint, haben wir unsere Schweizerreise ohne jeglichen Zeitverlust hinter uns gebracht. Wir haben sogar etwas Zeit dazugewonnen! Wir haben uns selber überholt... Ist mir auch recht. Tun wir einfach so, als wären wir gar nie fort gewesen.” Goethe kramt in seinen Sachen. Er findet die Paracelsische Steinbockhoden-Salbe. Jetzt erst fällt ihm auf, dass die Salbe irgendwie böckelt. Sie riecht scheusslich. Um sie loszuwerden, wirft er die Dose aus dem Kutschenfenster. Draussen auf dem Feld steht natürlich immer noch das Bauernmeitschi, dem Goethe am Anfang seiner Reise schöne Augen gemacht hat. Die Dose knallt ihr gegen den Kopf. “Du heilige Scheisse!” entfährt es Goethe. Doch Blunschi beruhigt ihn. “Manchmal braucht es in der Liebe auch ein bisschen Glück, Herr Geheimrat.”

 

2012