Nachtreise

 

Exposé zu einem akustischen Bilderbuch

 

 

Es gibt keine objektiv existierenden Strukturen, keine vorgegebene Landschaft, von der wir eine Karte anfertigen können - das Anfertigen der Karte selbst bringt die Merkmale der Landschaft hervor.

 

Fritjof Capra: „Lebensnetz“

 

 

Eine Kutschenfahrt im Gebirge. Es ist Abend, es wird dunkel. Übereilte Aufbrüche, verpasste Anschlüsse, schmutzige Gasthöfe, Hunde, die im Schlaf mit ihren Ketten rasseln, Autobahnbrücken im Nebel. Daneben und darüber Berge. Zwischenhalt in einem verlassenen Kurbad. Man reinigt sich. Später dann ein währschaftes Nachtessen in der engen, schmutzigen Behausung eines invaliden Fuhrhalters. Picknickteller aus Plastik, Fondue, gemütliches Kaminfeuer. Es kommt zu unerklärlichen Verzögerungen, die Nacht dehnt sich ins Endlose. Was geschieht auf dieser Reise? Eigentlich nicht viel: man kann nicht schlafen, man will weiterfahren, man hetzt von Ort zu Ort. Aber richtig vorwärts kommt man doch nicht. Die Reise zieht sich hin, sie holpert und stockt, im weitesten Umkreis nichts als Berge. Das Barometer fällt kellertief, aus dem Gebirge tönt ein Alphorn, Regen verschlammt die Strasse. Schnee ist angekündigt. Ein heimliches Treffen wird arrangiert, Verlobungsringe werden getauscht, der Rezitator Olof Vondenström sagt ein guttural klingendes Gedicht auf. Währenddessen erinnert man sich an die schönen Sommertage am Birsufer. Die Reisegesellschaft langweilt sich. Sie nimmt Zuflucht zu kleinen, aber nicht ungefährlichen Spielen. Jemand steht weinend in einem Gebüsch, eine schwindsüchtige Kaufmannstochter sinkt in Ohnmacht, ein verspäteter Landbote kommt zur Tür herein mit einem zerrissenen Hut in der Hand. Höchst geheimnisvoll und nur unter Schwierigkeiten zu entziffern ist der Brief, den er mitgebracht hat. Die Reisenden rauchen und unterhalten sich. Das mitreisende Tankstellenfräulein möchte zurück. Die Nacht dauert an, der Berglergeist erscheint. Er klappert mit zwei Holzlöffeln. Die Schneelinie sinkt, im Schnee verblutet eine Eule. Sie zuckt noch schwach mit einem Flügel. Um sich die Zeit zu vertreiben, macht man mit Händen und Fingern ein Schattenspiel. Das Lichtquelle ist rätselhaft. Nach dem Frühstück steht ein neuer Aufbruch bevor. Über dem Gebirge leuchtet der blaue Himmel. Die Kutsche mit der müden, nachdenklichen und stark dezimierten Reisegesellschaft rattert dem flachen Land entgegen.

 

2004