Der Adler im Hühnerstall

 

Eine alte Fabel neu erzählt

 

Ein junger, noch flugunfähiger Adler ist aus seinem Nest gefallen. Er hat sich verletzt, wenn auch nicht lebensgefährlich, und sucht vergeblich den Rückweg nach oben. Überall ragen Felsen vor ihm auf. Ein Bauer, der im Gebirgswald Tannzapfen zum Anfeuern sammelt, findet den Adler, nimmt ihn mit nach Hause und pflegt ihn gesund. Als der Adler wieder gehen und herumhüpfen kann, steckt ihn der Bauer ins Hühnergehege und gibt ihm das gleiche Futter wie den Hühnern. Der Adler ist froh, wenigstens am Leben zu sein, und da es noch eine Weile dauert, bis er seine Flügel gebrauchen und in die Luft abheben kann, macht es ihm gar nicht so viel aus, mit den Hühner im Dreck zu scharren. Er weiss, dass er vorläufig noch auf den Boden gehört - und passt sich an. Anfänglich beargwöhnen ihn die Hühner, weil sein Gefieder nicht so schön weiss ist, wie es sich für ein ordentliches Huhn gehört. Doch die Oberhenne, eine lebenserfahrene Glucke, deren Weisheit von allen geschätzt wird, nimmt den Neuling in Schutz. Jedes Individuum sei einzigartig, predigt sie den misstrauischen Hühnern, jedes Huhn habe ein Recht auf Akzeptanz und Würde, auch ein Huhn mit Auffälligkeiten gehöre zur grossen harmonischen Hühner-Gemeinschaft. Niemand dürfe ausgeschlossen werden... Und so wird der Adler von den meisten Hühnern akzeptiert und angenommen. Ja, ein schönes Federkleid hat er nicht. Und diese hässlichen gelben Augen! Und diese unmögliche Zange im Gesicht! Und der unbeholfene Gang! Nun, was macht das schon? Es sind ja nur Äusserlichkeiten. Und die haben auch etwas für sich. Manche Hühner finden den Adler nicht nur in Ordnung, sondern darüber hinaus sogar recht interessant, sticht er doch aus ihnen allen heraus. Und einige umgackern ihn ständig und versuchen sich mit ihm anzufreunden, um sich bei der Oberhenne einzuschmeicheln. Auf das Wohlverhalten ihrer Hühner hat die nämlich rund um die Uhr ein wachsames Auge. Und nichts geht ihr über Toleranz und Akzeptanz, die allgemein deklarierte Huhnmanität. Und deshalb besteht sie darauf, dass der Adler trotz seiner Andersartigkeit ein Huhn sei und nichts als ein Huhn - und dass in diesem Gehege Platz genug sei für vielerlei Hühner. Für solche und solche, da müsse man tolerant sein. Letztlich sei der Adler vielleicht sogar das bessere Huhn. Um zu sich selbst zu stehen, wenn man vom Schicksal einen sichtbaren Makel aufgebürdet bekommen habe, brauche man schon sehr viel Mut und Selbstbewusstsein. Und darin habe der Adler, der natürlich ein Huhn sei, ihnen allen etwas voraus. Da solle man doch nur mal schauen, wie tapfer der sein Schicksal trage: ein vorbildliches Huhn und ein Ansporn für jedes einzelne Mit-Huhn, sich gegen Diskriminierung und Verächtlichmachung zu wehren. Es sei schändlich und verstosse gegen das allerheiligste Hühner-Prinzip, einem solch musterhaften Huhn die Achtung zu versagen. Jedes zweibeinige, aus der harten Eierschale geschlüpfte Lebewesen habe von Geburt auf das Anrecht, als vollwertiges Huhn behandelt zu werden. Kurzum, wer ihn, den Adler, der eigentlich ein Huhn sei, nicht respektiere, sei ein Rassist, ein Un-Huhn... So spricht die Oberhenne, und die meisten Hühner stimmen ihr freudig zu. Wer den Adler nicht respektiert, ist ein Un-Huhn, gackern sie und hoffen natürlich, dass sie von der Oberhenne für diese Einsicht gelobt werden. Voller Stolz gackern sie alles nach, was die Oberhenne von sich gibt. Womit sie sich unmissverständlich von jenen Un-Hühnern abgrenzen, die aus Ignoranz oder Bosheit in die Verderbnis der Inhuhnmanität abgleiten. Die Gefahr existiert tatsächlich. Nicht überall wird der Adler mit dem gleichen Respekt behandelt. Mit seinen Schwungfedern, die inzwischen so mächtig sind, dass sie beim Gehen über den Boden schleifen, und dem gefährlich nach unten gebogenen Schnabel wird er für die halbwüchsigen Hähne zum Lieblingsgegner, den sie bei jeder Gelegenheit zum Zweikampf herausfordern. Wegen seiner Schwerfälligkeit und weil sein Gefieder über dem stets etwas gebeugten Nacken eine buckelförmige Wölbung bildet, verspotten sie ihn als "Krüppel" und lachen ihn aus. Natürlich wollen sie ihn damit nur aus der Reserve locken und in einen Zweikampf verwickeln. Eigentlich fürchten sie sich ein bisschen vor ihm. Vor allem fürchten sie seine Ruhe, diese heimliche, in sich eingerollte Kraft, die noch nicht erwacht ist, die man aber spürt, wenn man diesen unförmigen, vom Gewicht seiner Flügel schwankenden Riesenvogel zwischen den kleinen beweglichen Hühnern umhertappen sieht. Übersehen kann ihn niemand, und die Hähne stellen ihm sogar regelrecht nach. Ihn herauszufordern, ist für sie so etwas wie eine gefahrlose Mutprobe. Dadurch, dass sie einen so grossen und starken Vogel attackieren, fühlen sie sich kampfeslustig und im Vollbesitz ihrer Kräfte. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich daran zu gewöhnen. Die Spötteleien trägt er mit Fassung, und bei den Kämpfen, denen er nicht immer ausweichen kann, beschränkt er sich auf ein paar leichte Flügelschläge. Das genügt, um die übereifrigen Gegner in den Staub zu werfen. Ansonsten gibt er sich kaum mit ihnen ab, die natürliche Hackordnung lässt ihn kalt, was mit der Zeit dann doch dazu führt, dass man ihn als Sonderling wahrnimmt. Denn die natürliche Hackordnung - sowohl bei den Hähnen als auch bei den Hennen - darf nie und unter keinen Umständen missachtet werden. Sie bestimmt, wo welches Tier hingehört und was es dort zu tun hat. Hier geht es um nichts Geringeres als den sozialen Zusammenhalt, das Allerheiligste und Allerwichtigste des Hühnergemeinwesens. "Mit dem stimmt etwas nicht," sagen die Hähne, und die Hühner nicken. Auch sie finden sein Verhalten zunehmend merkwürdig. Während sie strebsam herumpicken, im Dreck scharren und gackernd den sozialen Austausch pflegen, kann es schon mal vorkommen, dass der Adler auf den Hühnerstall klettert und stundenlang die Wolken betrachtet. "Ein Träumer," sagen viele. "Ein Egoist," brummt der alte Hahn. "Ein Drückeberger," feixen die jungen Hähne. Als der Unmut grösser wird, schaltet sich die Oberhenne ein. Schliesslich ist sie die oberste moralische Instanz im Hühnerstall. Doch diesmal hat sie für den Adler kein gutes Wort mehr übrig. Sie nennt ihn asozial, sie schimpft ihn egoistisch und wirft ihm vor, er würde sein Huhn-Sein verleugnen, weil er sich selber nicht ausstehen könne. Das sei Rassismus, Auto-Rassismus, blanker Selbsthass. Höchste Zeit, dass er sich öffentlich zu seinem Huhn-Sein bekenne... Aufgeregtes Gackern im ganzen Hühnerstall. Der Adler wird gezwungen, vor dem Tribunal aller Hennen und Hähne seinem zutiefst asozialen Verhalten abzuschwören und ein echter Hahn zu werden. "Zum Beweis dafür, dass du ein echter Hahn bist, musst du dreimal hintereinander Kikeriki rufen," verlangt die Oberhenne. Der Adler springt auf den Hühnerstall, spreizt seine Schwingen und gibt keinen Ton von sich. Schweigend späht er in die Luft. Seine üppigen Federn zittern in einer Brise, die soeben aufgekommen ist. Hysterisch kreischt die Oberhenne: "Er ist kein Hahn! Er ist keiner von uns! Er ist unser Feind!" Und schon stürzt die ganze aufgestachelte Hühnermeute auf ihn zu, um ihn zu rupfen und niederzuhacken. Er aber schwingt sich seelenruhig in den weiten, blauen Himmel und ward nie mehr gesehen.

 

2016