Auf zehn zählen

 

Als Vontobel an den Waldrand kam, beging er die Unvorsichtigkeit, ein Kräuterbonbon-Papierchen fortzuwerfen. Beim Weitergehen kam er ein bisschen ins Träumen. Mit seinen Schuhspitzen rührte er das welke Laub auf. Es war Herbst. Da traten plötzlich zwei uniformierte Waldhüter auf ihn zu. 

 

Sie wünschen? fragte er. Warum er das getan habe, fragte ihn einer der beiden. Ob es ihm nicht möglich gewesen sei, das Papierchen in die Hosentasche zu stecken? Das lerne man doch schon im Kindergarten, dass man ein Papierchen nicht fortwerfen dürfe... Der Waldhüter zeigte ihm das Corpus delicti. Es war schmutzig. In die Hosentasche? wunderte sich Vontobel. Warum denn das? Was soll ich denn mit einem Papierchen in meiner Hosentasche?

 

Die beiden Waldhüter sahen sich an. Na hören Sie, sagte der andere, Papier gehört in die Papierabfuhr. Vontobel zuckte die Schultern. Kommen Sie mit, sagten die Waldhüter.

 

Die, die den Wald behüten, dachte er bei sich, tun immer so ordnungswütig. Dabei ist der Wald das Unordentliche schlechthin. Mürrisch und auch etwas ängstlich stapfte er den Waldhütern, die mit kleinen Messern den Weg freihauten, hinterher. Sie gingen gerade drauflos, halbwegs auf einem Pfad, wie Vontobel erkennen konnte. Die Waldhüter zerschnetzelten Pflanzen, schnitten und hackten in den Gebüschen. Sie machten dabei viel Lärm, indem sie “Hu!” und “Ha!” riefen, aber wahrscheinlich hatten sie eine Lärmlizenz.

 

Bald war der Weg etwas leichter zu gehen, es war nun wirklich ein Weg und nicht mehr nur ein provisorischer Pfad, den man im Halbdunkel mühsam, kriechend fast, mit allerhand Werkzeugen freihauen musste. Ohne dass es ihm gesagt worden wäre, wusste Vontobel, dass er entführt wurde. Klar, dass man mir das nicht auf die Nase bindet, dachte Vontobel, aber es wäre doch nichts als anständig, wenn die Herren Waldhüter wenigstens eine Erklärung abgeben würden. Als Entführter möchte ich doch wissen, woran ich bin. Denn es ist nicht einerlei, ob man aus Profitgier entführt wird oder weil man gegen Naturschutzauflagen verstossen hat.

 

Das einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass er gegen seinen Willen irgendwohin gebracht wurde, wohin, das wusste er freilich nicht, ein weiterer dunkler Punkt bei der ganzen Geschichte. Der Wald war sehr weitläufig, verwirrlich in seiner Ausdehnung. Seine diesbezüglichen Fragen behielt Vontobel für sich. Mit den Waldhütern wollte er sich nicht gemein machen, und er hatte auch keine Lust, sich mit ihnen anzulegen. Ihr Arschlöcher. Wie leicht sagt sich das, und wie unerfreulich können die Konsequenzen sein, wenn diese Beleidigung erst einmal heraus ist.

 

Vontobel gab sich gleichgültig. Aber die Umgebung begann ihn doch zu interessieren. Er führte seine Augen spazieren, auch nach oben sah er, in das Geraschel, Geflüster, Gewimmel der Blätter hinein. Der unfreiwillige Waldgang nahm ihn ganz in Anspruch. Die Luft war mild, und die Vegetation machte eine auffällige Verwandlung durch: sie wurde gleichsam zurückbuchstabiert, aus Gelb wurde Grün, aus Herbst Sommer. Die Blätter waren zartgrün durchscheinend, wie frisch entsprossen. Spinnennetze glitzerten in der Sonne. Seltsam, anstatt dass sich die Bäume enger zusammenschlossen, wurde der Wald lückenhafter, das Unterholz spärlicher. Man sah sogar den Himmel. Wolken. Man konnte sich hier wie ein Schulkind fühlen, das am letzten Schultag vor den Sommerferien den Heimweg antritt: endlich befreit, endlich frei.

 

Das passte Vontobel nun ganz und gar nicht, es enttäuschte ihn. Seine Abneigung gegen den Wald, an die er sich trotzig klammerte, weil sie ihm ein Bild gab, in dem er sich zurechtfand, lief in diesem freundlich durchsonnten, helloffenen Grün direkt ins Leere. Der Wald schien ihn zu verhöhnen. Das war nicht das, wohin er sich selber gern entführt hätte. Diese Aufgeräumtheit, diese angenehme Weitläufigkeit, Platzverhältnisse wie in einem Stadtpark. Nein, das war es nicht. Das war viel zu harmlos. Die Sträucher traten fast ganz zurück. Es war eine Umgebung, die jede nur mögliche Richtung zuliess. Kein einziges Gewächs erschwerte das Vorankommen. Die Waldhüter blieben stehen und drehten sich zu Vontobel um. Beide hielten ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt.

 

Einer der Waldhüter, vielleicht der Diensthöhere, der die Instruktionen geben durfte, sagte: das weitere Vorgehen ist jetzt so. Wir lassen Sie allein, und sobald wir uns davongemacht haben, müssen Sie bei geschlossen Augen auf zehn zählen. Schummeln gilt nicht. Wir sehen alles. Wir sind mit Feldstechern bewaffnet.

 

Der andere Waldhüter schnippte mit den Fingern. Also, rief er. Auf drei geht’s los. Eins, zwei, drei...

 

Als Vontobel seine Augen wieder aufmachte, waren die Waldhüter fort. Er war allein. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war. Trotzdem blieb es ihm erspart, hilflos herumzutappen. Es war ja taghell, jede nur mögliche Richtung stand ihm offen. Er ging weiter, pfeifend wie ein Schuljunge, und kam dabei immer tiefer in diesen sauberen und ordentlichen Wald hinein.

 

 

2010