Die Flurschutzgehilfen 

 

In regelmässigen Stichproben und Erhebungen kontrolliert die Flurschutzkommission Tier- und Pflanzenbestände, reguliert landwirtschaftliche Eingriffe, kümmert sich um die Wegwartung, gemeinnützige bauliche Neuanlangen und Korrektionen, kontrolliert Jauchegruben und Wassersammler, sorgt dafür, dass kein Abwasser auf das Weggebiet abgeleitet wird, ahndet die nachlässige und ungenügende Instandhaltung der Gräben und Wasserleitungen durch Anrainer, die Verunreinigung von Quellen und Brunnenstuben, das unerlaubte Ährenlesen, das unbefugte Betreten von Naturbiotopen, das Lagern, Fahren und Abstellen von Fahrzeugen auf bebauten oder zum Anbau vorbereiteten Äckern und auf Wiesen zur Zeit des Graswuchses, das Abschneiden oder Abreissen von Fruchtpflanzen, das Abschneiden oder Ausreissen von Gras an Wegen oder Feldrainen, das Aufsammeln von abgefallenen reifen oder unreifen Früchten auf landwirtschaftlich genutzten Grundstücken, das Beschädigen von Bäumen und Sträuchern durch Abreissen oder Abschneiden von Stämmen, Ästen, Zweigen, Blättern oder Blüten, das Ausgraben von Wurzeln, das Anhacken und Aushacken von Holzstrünken und Knollen, das Annageln an Anheften von Plakaten und Affichen jeglicher Art, das Besteigen von Felsen mit Steigeisen, Haken und Seilen, das Entrinden, Roden und Rupfen, das Beseitigen oder Beschädigen von Einfriedungen, landwirtschaftlichen Fahrzeugen, Geräten und Werkzeugen, von Bienenhäusern und Bienenstöcken, der mutwillige Eingriff in Vorkehrungen zum Hochziehen oder Trocknen von Pflanzen, das mutwillige Öffnen und Schliessen von Sperrvorrichtungen, das Einackern von Flurwegen, das Ablagern von Steinen, Unkraut, Unrat, die Entnahme von Saft, Sand, Schotter und Steinen, das Eierlesen, die Nistkastenschändung, das Umwerfen oder Auseinanderstreuen von Erd- oder Düngerhaufen, Frucht- oder Streuhaufen, das Eindringen in Heu-, Stroh- und Fruchtschober, das Feuermachen bei Waldbrandgefahr, das Feuermachen mit Nassholz, das Feuermachen mit Abfällen jeglicher Art, das Weidenlassen von Haustieren, das Aussetzen von Haustieren, das Ablagern von Gerümpel, Scherben, Schutt und Abfällen jeglicher Art, von Fahrzeugwracks oder Wrackteilen auf Äckern, Wiesen, Weiden und Feldwegen, das Nachrechen auf Wiesen, das Nachpflücken von Trauben und Obst, das Besteigen morscher Bäume, das Belästigen von Wildtieren, das Fallenstellen, Wilderei ganz allgemein, das Abfeuern von Feuerwerkskörpern und nichtzugelassenen Schusswaffen, das Herumschreien am Sonntag, das Nacktgehen im Gras, das Nacktwandern bei jeglichem Wetter, das Nichtanleinen von Hunden sowie das Sammeln von Hundelattich und Bärlauch und geschützten Pilzen.

 

Die Flurschutzkommission bestallt überdies den Strassenwart und mindestens zwei Flurschutzgehilfen, die dem Präsidenten und einzigen Vorstandsmitglied der Flurschutzkommission bei seinen umfangreichen Aufgaben zur Seite stehen. Düri Oberholzer, Polizeireferent und eidgenössisch diplomierter Landschaftsagronom, versieht dieses Präsidialamt seit gut drei Jahren. Seine Arbeit muss hier ausdrücklich belobigt werden.

 

Oberholzer ist ein Arschloch, sagte Enzian.

 

Die Beiz lag sehr günstig, etwas abseits und doch auch nicht zu weit vom Dorf entfernt, eine Ausflüglerbeiz mit vielen Ovo-Plakaten und dem nachgewiesenermassen echten Autogramm eines Schlagerstars, den Frau Kamber, die Betreiberin des Restaurationsbetriebs, abgöttisch verehrte. Die Autogrammkarte hing in einem Wechselrahmen über dem Ausschank und war schon ziemlich vergilbt: die tiefere Aussage dahinter war wohl die, dass eine alte Liebe wohl etwas gilben kann, aber niemals rosten. Peter schlürfte seinen Espresso beidhändig, obwohl das zierliche Tässchen für beidhändiges Trinken viel zu klein war, es sah lächerlich aus. Peter merkte es nicht. Er war in Gedanken. Enzian las irgendeine Gratiszeitung. Sie lag vor ihm auf dem Tisch. Das Kleingedruckte übte einen solchen Zwang auf ihn aus, dass er die Nase fast auf dem Papier hatte. Seine Lippen bewegten sich, und sein Kopf schwankte hin und her. Peter sah aus dem Fenster in die graue Umgebung hinaus. Es war neun Uhr. Gehen wir ein Stück, sagte er.

 

Auf dem Feldweg befestigte Peter sein Haar mit Spucke. Es war ihm wichtig, wie ein anständiger Mensch auszusehen, es war ja nicht irgendein Tag, es war der erste richtige Arbeitstag seit langem. Nur das Wetter machte nicht mit. Die Waldränder hoben sich kaum vom Himmel ab, der nicht blau war, sondern grau, wollig grau, um genau zu sein, nur da und dort, an einzelnen, immer wieder wechselnden Stellen, brach etwas Sonne durch und setzte irgendwo in die eintönige Landschaft ein kleines Luftschloss aus Gold. Ein Schönwetterzeichen? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, mahnte Enzian, der nie um eine gute Phrase verlegen war. Das Wetter dieses Tages, ergänzte Enzian seine Phrase, ich weiss nicht, was das für ein Wetter ist. Vielleicht nur ein Provisorium... Tatsächlich sah alles aus wie liegengelassen und unfertig, ein bisschen schäbig und flach, ein bisschen russig und matt, nur hie und da ein Sonnenstrahl, der die Grautönigkeit durchbrach, ohne sie vertreiben zu können. Die Waldhöhen blieben vermummt, die Täler verschattet. Noch befanden sie sich mitten im Wiesland, als sie einen Bauern sahen, der eine Kartoffelsetzmaschine hinter sich herschleppte. Das Gerät war schwer und unhandlich, und der Mann, der sich mit den übertriebenen Gebärden eines Kraftmenschen abmühte, hatte etwas Übellauniges an sich, etwas, dem man sich nicht über den Weg traute. Die Flurschutzgehilfen gingen ruckartig schneller. Der Mann dort war Kneuchli, ein schwatzhafter Querulant. Zum Glück war er zu weit von ihnen entfernt, als dass sich die Gelegenheit für ein Schwätzchen ergeben hätte. Federleicht und ohne jedes Bedenken oder Bedauern marschierten sie mit vorgetäuschten Scheuklappen an diesem Kraftmenschen vorüber. So, das war’s. Im nahen Wald schrien die Vögel wie druckfrische Zeitungen, und da war auch schon der klumpige Holzgeruch, auf den Peter und Enzian ganz versessen waren, überhaupt das Holz, das fanden sie schön, gut, dass es hier so viel davon gab, Klötze und Trümmer, unförmiges, zerspaltenes, zerhacktes, nicht ganz richtig zugehauenes Holz mit zerfransten und zersplitterten Kanten, die Schnitt- und Schlagflächen hell und saftig, die Rinde faulig und schwarz oder trocken zerbröckelnd. Und von allen Seiten ein Tirilieren, ein Rufen, Schnattern und Schluchzen aus den Baumkronen herab, gellend wie ein Kinderhockeyspiel. So tönt kein Tannenwald. Das war ein nadelloser Wald, offen und flauschig, ein Wald mit luftiger Laubstreu und moosumgürteten Buchen, kralligen Ästchen und einem weichen, wässerigen Grün, das um die Zweige floss, ein Wasserflaschengrün, ein Zeltgrün, ein Schattengrün. Mit dem Wiesengrün am Waldrand vertrug es sich gut, das eine Grün war dem andern grün. Bald schon steckten sie bis über die Schuhlaschen in der bräunlichen Streuschicht. Darin die Baumstrünke, grämliche Fratzen aus halbtotem Holz, und in den Hosen verhakte sich widriges Gesträuch.

 

Für diesen Morgen hatte sich Peter etwas Spezielles vorgenommen. Eine Spezialarbeit. Auf einem Rastplatz bohrte er mit einem kleinen Handbohrer zwei etwa fingerdicke Löcher in ein Holzruegeli. Sie sollten als Schlupflöcher für verschiedene Insekten dienen. Insektenbohrlöcherbohrung nannte er das. Er war stolz auf dieses Wort, er hatte es erfunden, um sich vor sich selber auszuzeichnen. Er war also jemand, der sich auf etwas so Schwieriges wie Insektenbohrlöcherbohrung verstand, alle Achtung! Als er die Löcher fertig gebohrt hatte, war er sehr zufrieden mit sich. Enzian stand daneben als Unbeteiligter, die Hände hinter dem Rücken: er bemühte sich um ein respektables Gesicht.

 

Peter hatte alles Nötige dabei, und sogar ein bisschen mehr, der Rucksack war mindestens halbvoll. Zur Sicherheit ging er nochmals die Checkliste durch.

 

Handbohrer, Regenschutz, Wolldecke, Schlafsack, Isomatte, Sackmesser, Feldstecher, Besteck-Beutel, Kocher, Vogelerkennungsbüchlein, Vogelbrutkarte, Reservewäsche, Toilettenartikel, Notlichtlampe mit Ersatzbatterien, Stoppuhr, Handy mit Solar-Akku, Höhenmesser, Kompass, Karte im Massstab 1:25’000, Landkartenmesser, Leuchtstab, Mini-Verbandset, Mückenspray, Regenjacke, Signalpfeife, Signalspiegel, Sonnenbrille, Sonnencreme, Sturmfeuerzeug, Taschenbarometer, Taschentücher, Feuchtigkeitstücher, Thermometer, Raketenstift, Hilfsseil, Schnur, Rucksack-Regenhülle, Teleskopstock, Lippenschutz, Minifotoapparat, Notizibüchlein mit Stift, Nähzeug, Notfall-Energieriegel, Traubenzucker, Vitamintabletten, Alu-Trinkflasche, Ersatz-Wandersocken, Einmalhandschuhe, Medikamente, schöngeistige Standard-Lektüre (Hermann Hesse), haltbarer, ungekocht geniessbarer Notproviant für 2 Tage, unter anderem 1 Schachtel Vollkornriegel und 4 vakuumverpackte Sandwiches, Ausweis, Flurschutz-Lizenz

 

Etwas fehlt noch, sagte Peter, die Flüssignahrung.

 

Die Türglocke schepperte. Jemand drückt sich an ihnen vorbei mit einer Einkaufstüte, hob kaum den Blick, schien es eilig zu haben, aus dem Usego-Lädeli ins Freie zu kommen. Die Platznot war ein Problem, zumindest für die Kunden. Die Regale waren brechend voll, und der verwinkelte Durchgang war als Hindernislauf angelegt: immer wieder ragte da etwas in den Weg, verengte den Durchgang. Der Raum war nicht viel grösser als eine Doppelgarage. Aus einem Kofferradio im Hintergrund dudelte Ländlermusik. Dazu surrte eine Lüftungsanlage. Es roch nach Putzmittel und abgestandenem Bier. Kunden kommen und gehen, flüsterte Peter, und immer sind es die gleichen Gesichter, die Heinz vor sich hat, wenn er die Ware in die Hand nimmt, Beträge eintippt, Kassenzettel abreisst. Heinz tut mir leid. Ich möchte einmal etwas von ihm verlangen, das seine Routine durchbricht. Ihn aus der Reserve lockt. Denn du musst wissen, seine Gleichgültigkeit war mir schon immer ein Dorn im Auge. Der Mensch muss doch lieben, was er tut, er darf seinen Beruf nicht zur Routine erstarren lassen. Er darf nicht tröge werden und sich abschleifen lassen, nur weil er Tag für Tag die gleichen Tätigkeiten ausführt... Peter und Enzian zwängten sich an den vollgestopften Regalen vorüber, an Bergen von Dosen, Pet-Flaschen, Packungen und Kästchen. Hinter der barocken Registrierkasse räumte Heinz Zigarettenschachteln ein. Sein von Aknenarben zerfurchtes Gesicht sah aus wie eine Kraterlandschaft. Was darf es sein? nuschelte er. Er blickte sie aus wässerigen Augen an, scheinbar ohne Erwartung. Sali Heinz, sagte Peter und warf Enzian einen listigen Blick zu, ich hätte gerne eine Schachtel Gilbertes Doppelfilter. Heinz runzelte die Stirn. Doppelfilter? murmelte er und kratzte sich mit seinen wulstigen Fingern eine Hautschuppe vom Kinn. Mit einem Kopfschütteln inspizierte er das Zigarettengestell, das er soeben aufgefüllt hatte. Gibt es nicht, sagte er. Hab ich nicht. - Erwischt, sagte Peter. Wollte nur mal sehen, wie du reagierst, wenn ein Spezialwunsch kommt.

 

Sie waren nun wieder draussen, blinzelten in die Sonne. Die Luft hatte sich innert Minuten aufgewärmt. Durch Wolkenlücken flutete Helligkeit. Die Tüte mit den Bierdosen hatte Peter in seinem Rucksack verstaut. Grünglänzende Wiesen so weit sie sahen, aber auch Häuser hier und da und Strässchen mit frisch planierten Belägen. Felder, Häuser und Strässchen hingen zusammen, als wäre das alles von einem einzigen Triangulationspunkt aus geplant und zusammengefügt worden. Ich denke, es wäre doch eigentlich gar nicht so schlecht, sagte Peter, wenn man um den ganzen Kanton herum eine mindestens zehn Meter hohe Mauer hochziehen würde. Eine chinesische Mauer mit Schiessscharten und Wachtürmen. Und irgendwo in dieser Mauer müsste ein winziges Türchen eingelassen sein, das aus Sicherheitsgründen nur von innen zu öffnen wäre. Und draussen über dem Türchen müsste eine Tafel hängen, auf der zu lesen wäre: “Herzlich willkommen”.

 

Sie waren stehengeblieben, um ein verwittertes, nur noch als Farbhauch erkennbares Wegzeichen zu studieren. Das Zeichen, falls es denn überhaupt ein Zeichen war und nicht bloss ein Zufallsfleck, sah nicht sehr verlässlich aus, eher wie ein Fingerzeig in Richtung Selbstbesinnung und Grundsatzdiskussion. Wohin wollen wir überhaupt? fragte Peter. Enzian zuckte die Achseln. Er hatte Peter den Rucksack abgenommen und suchte darin schon die längste Zeit nach den Bierdosen. Ständig zog er etwas heraus, das keine Bierdose war. Peter streckte sich zum Asphalt hinunter, machte eine Dehnübung, die er aber schnell wieder abbrach, als er merkte, wie anstrengend das war. Ich kann nur sagen, meinte Peter, wir werden gebraucht. Es liegt ja wohl auf der Hand, dass jetzt mehr von uns verlangt wird, als nur im Kreis herumzutrotten und Vögel zu beobachten. Von wegen Sommerloch. Wir stehen im Dienst. Das ist gut. Wenn ich morgens aufwache und als erstes feststelle, dass ich etwas zu tun habe, so bin ich eigentlich schon recht zufrieden. Noch viel zufriedener bin ich allerdings, wenn ich frühmorgens aus dem Schlaf geläutet werde und feststellen muss, dass es Oberholzer ist, der mich aus dem Schlaf geläutet hat. Eine kalte Dusche ist lauwarm dagegen. Aber das tut gut, wenn man gefordert und gefördert wird, wenn man Pflichten zu erfüllen und Aufgaben wahrzunehmen hat.

 

Enzian nickte heftig. Er hatte die Lasche von seiner Bierdose gezogen. Es schäumte heraus.

 

Was liegt vor? fragte Peter. Die Frage war handfest. Sie war nötig. Peter kratzte sich am Kinn, sein Blick war auf einen Punkt in der Ferne fixiert. Was auf uns zukommt, sagte er, ist kein Scheibenschiessen... Er blieb stehen und faltete die Landkarte auseinander, die er nicht wie all das andere Zeug im Rucksack verstaut hatte, sondern vorne im Jackenausschnitt. Er wollte sie jederzeit verfügbar haben. Wichtige Punkte waren mit Leuchtstift markiert. Er selbst hatte die Markierungen angebracht, und es war ihm nun absolut nicht mehr klar, wofür sie eigentlich standen. Er streckte die Karte Enzian entgegen. Ich bin leider etwas weitsichtig, sagte er, und obendrein auch noch vergesslich, meine Brille liegt zuhause auf dem Nachttisch. Vielleicht kannst du mir behilflich sein... Enzian bezwang seinen Widerwillen. Er hasste es, mit Landkarten zu operieren. Kartenlesen erinnerte ihn an schulische Orienterungsläufe in Dauerregen und Schlamm. Diese Pflichtübungen, das wusste er noch genau, hatte er lieber rennend als kartenlesend absolviert. Er war einfach nur gerannt, allen davongerannt, um als Erster ins Ziel einzulaufen. So war es ihm gelungen, gleichzeitig der Schnellste zu sein und der am schlechtesten Klassierte, ein Kunststück für sich. Er sog pfeifend die Luft ein. Schwierig, sagte er. Zwanzig Kilometer und nochmals zwanzig Kilometer, und die Höhendifferenz ist auch nicht zu verachten. Ich glaube, wir sind ein Fall von eklatanter Unterbesetzung.

 

Deine Augen möchte ich haben, sagte Peter. Es wäre gewiss nicht zu unserm Nachteil, wenn du die Rolle des Beobachters übernehmen würdest. Mir als dem Dienstälteren obliegt es, deine Aufmerksamkeit zu lenken, die technischen Anweisungen zu geben, ohne die du wahrscheinlich herumstolpern würdest wie ein Matrose auf Landurlaub. Ich führe dich. Dafür bin qualifiziert. So teilen wir die Arbeit optimal unter uns auf. Das ist nichts als logisch. Jeder tut das seine. Du bist derjene, der die Augen hat, und ich bin derjenige, der das Hirn hat. Du beobachtest, und ich gebe dir anhand der Karte, die du für mich lesen musst, die nötigen Instruktionen, damit du Beobachtungen machen kannst, die ich dann für den Chef auswerte, einverstanden? Enzian nickte. Ja, sicher. So wird es funktionieren. Aber kannst du mir nochmals sagen, was ich eigentlich machen soll? Peter wiederholte es, und er wiederholte es nochmals, und während sie auf dem staubigen Feldweg weitermarschierten, faltete er die Karte so ungeschickt zusammen, dass sie etliche Rümpfe bekam. Ist das eigentlich immer so? fragte Enzian. Sind die Schlauen kurzsichtiger als die Dummen? - Ich bin weitsichtig, lachte Peter, also mich betrifft das nicht.

 

Für den Nestbau bevorzugen die meisten Vögel die Stämmigkeit und Höhe von besonders alten Bäumen, von Bäumen also, die ein Mensch unmöglich ohne Leiter erklimmen kann, referierte Peter, als sie an den Rand einer westwärts fortlaufenden Streuobstwiese gelangten. Hier blieben sie stehen, und Enzian, der einfach nur witzig sein wollte, rief über die menschenleere Wiese hinweg: Gugus! Das Gras war sehr unordenlich, schon lange nicht mehr gemäht, vom Dorf her hallten Hammerschläge herüber, unablässig heulten Motoren auf, vielleicht Rasenmäher, vielleicht Häckselmaschinen, ein breiter zäher Strom aus winzigen, sich endlos wiederholenden Geräuschen wälzte sich durch diesen Tag, der ein ganz normaler Werktag war.

 

Noch hatte dieser Tag keine Kraft. Die Sonne hatte zur Begrüssung etwas geblinkt und geblinzelt: jetzt war sie wieder verschwunden. Alles hatte sich verschattet. Unter den verhockten Wolken duckte sich alles ein wenig zusammen. Mit seinen reifrockartig gebauschten Tannen wirkte der Wald vor ihnen noch düsterer als sonst. Und der Wiesenstreifen zwischen ihnen und diesem Wald sah auch nicht gerade sehr einladend aus. Da und dort ein Obstbaum, der sich kaum noch halten konnte. In der Mitte ein ungepflegter Pflanzplatz ohne Zaun. Wäre ein Zaun denn nötig gewesen? Wohl kaum. Wo waren die vielen Wanderer, die hier sonst immer durchkamen? Peter und Enzian sahen niemanden, es kam niemand des Wegs. Die Zeit verging, und die Sonne stieg hinter den Wolken langsam höher.

 

Sie beugten sich zu ihren Schuhen herab, stopften die Hosenbeine in die Socken. Dann streckten sie sich, schüttelten die Arme, wie um sich zu vergewissern, dass die räumliche Welt derartige Bewegungen zuliess.

 

Bald danach, es war ein logischer Schritt, wenn auch kein zwingender, verliessen sie den Asphalt, um eine Abkürzung zu nehmen. Ein Mergelweg führte bergan über eine Wiese, das Gras war gebleicht und dick, etwas schwammig, überhaupt war diese Wiese eine einzige Hudelei, ein stachliges Gewächs hatte sich überallhin ausgebreitet, und Haufen von Dreck und Dung und vereinzelt auch Maulwurfshügel ragten zwischen plastikverpackten Strohballen hervor. Es ging stetig aufwärts, den Aufwärtswinkel bekamen sie gehörig zu spüren, der staubige Mergel knirschte unter den immer etwas zurückrutschenden Schuhsohlen wie eine bresthafte Lunge. Es war staubig, obwohl es vorige Nacht noch geregnet hatte. Und endlich zeigte sich wieder die Sonne, - und sie blieb, als hätte sie sich mit Umsicht und Hartnäckigkeit einen Platz freigeräumt.

 

Sie sahen nach oben. Da war ein Nistkasten aus hellem Massivholz, solide Schreinerarbeit. In der Mitte das klassische Einflugloch: kreisrund. Der Nistkasten hatte etwa die Grösse einer Kuckucksuhr und war mit Metallfäden am borkigen Baumstamm festgemacht. Sie stellten sich auf die Fussspitzen, klopften an. Niemand zu Hause. Darüber hinaus taten sie nichts. Sie hätten die Brutstation wohl kontrollieren müssen, aber sie hing zu weit oben. Beim nächsten Kasten war es einfacher. Auch dieser Kasten war, wie sich zeigte, unbewohnt. Enzian stieg auf einen Holzblock, den sie voriges Jahr am Baumstamm deponiert hatten, und klappte vorsichtig den Deckel auf. Er rieb sich die Hände, streifte sich die Einmalhandschuhe über und langte hinein. Du wirst es nicht glauben, sagte er, ein Nest... Er zog etwas heraus, ein Gewirr aus Hälmchen, Würzelchen, Haarbüscheln, Reisern, Moos und Flechten; das alles hing da irgendwie an Schnüren, die er sich beim Herausnehmen um den Ellbogen wickelte. Ein Gebrösel winzigster Holz- und Erdteilchen bedeckte sein Hemd. Nachdem sie die Bestandteile des Nestes untersucht hatten, stopfte Enzian alles wieder in den Kasten zurück. Eine Weile blieben sie noch stehen, wie festgewurzelt blickten sie nach oben. Irgendwie hatten sie das Gefühl, aus dem Einflugloch könnte sich vielleicht doch noch ein Vogel hervorwagen. Oder ein winziges Vögelchen. Der Kasten sah sehr wohnlich aus. Wenn ich ein Vogel wäre, meinte Enzian, würde ich hier an diesem Baum eine Familie gründen.

 

Und ich eine Beratungsstelle für Bekloppte, sagte Peter.

 

Hinter dem Berg, den sie eine halbe Stunde später hinaufkeuchten, wuchs eine mehrstöckige Wolke hervor; sie wuchs und wuchs, quoll über sich hinaus, als würde ständig neue Substanz in sie einfliessen. Sie war schneeweiss, auch an der Unterseite. Es war keine Gewitterwolke. Feuchtigkeit hatte sich zusammengeballt, um in das leichte Spiel der Winde zu geraten, zerrupft und fortgeblasen zu werden. Peter und Enzian kamen ins Schwitzen. Grashüpfer kreuzten ihren Weg, knallten gegen die Kleider, krallten sich fest und mussten mit beiden Händen weggewedelt werden. Im Wind, der die hirnlos zappelnden Tierchen vor sich hertrieb, knisterte ein Sonnenblumenfeld. Es war aschig, fast schwarz, als ob es abgefackelt worden wäre. Die verdorrten Blumenköpfe an den zu langen Stielen nickten und baumelten wie Windsäcke, während eine aus Abfällen improvisierte Vogelscheuche ihre fädigen Zellophanarme durcheinanderschlang und wieder entwirrte. Als nächstes kam eine Weide mit Elektrozaun. Das Gatter, überraschend originell, aus gipsverschmiertem Aluminium, stand zum Glück nicht unter Strom, es liess sich problemlos anstupsen. Das Gras war niedergetrampelt, zerlegen, zerrupft und zerfressen. Im kaum vorhandenen Schatten eines an Wasserarmut eingegangenen Bäumchens dösten ein paar Kühe. Sie liessen es sich gutgehen. Unverschämt breit lagen sie da, schnaufend, ihre Gedanken und Empfindungen schienen sich ausschliesslich um das Käuen und Widerkäuen zu drehen. In Indien ist es verboten, Kühe auch nur schräg anzuschauen, flüsterte Peter. Die Tiere dürfen auf gar keinen Fall gestört werden. Sie sind sehr empfindlich. Ihre Ruhe ist nur äusserlich, eine Fabrikruhe mit laufenden Motoren, alles Inwendige ist in Betrieb. Da wird das wichtigste flüssige Konsumgut produziert, der Saft der Säfte. Und so ruhig sie auch daliegen, das Kraftwerk in ihren Leibern ruht nicht.... Immer schön leise, richtig? flüsterte Enzian, als die Kühe schon längst nicht mehr zu sehen waren. Die Milch wird sonst sauer, meinte Enzian. Das wäre schlecht. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sind es Flocken im Kaffee.

 

Eine halbe Stunde später sagte Enzian wie aus heiterem Himmel: Milch macht müde Männer munter. Das war ihm eben noch eingefallen.

 

Die Weide in diesem Geländesattel war steil und stark verbuscht. Peter und Enzian machten sich an den Aufstieg. Ihre Schritte gingen über Bodenwellen, wichen Gesträuch aus, das drauf und dran war, den kaum noch sichtbaren Weg zu verschlingen. Fleischige Blätter hingen wie Topflappen herab, Pflanzenstengel knacksten, und Käfer krabbelten eilig in ihre Verstecke. Peter gab Enzian ein Zeichen. Sie duckten sich, dann gingen sie langsam weiter. Mit rudernden Armen bahnten sie sich einen Weg durchs Blättergewirr, das jetzt sehr dicht war, doch nicht undurchdringlich. Halt! zischte Peter, und Enzian warf sich flach auf den Boden, den Kopf verdreht, die Hände tastend zur Seite gestreckt. Nistkasten Nummer vier, flüsterte Peter. Er duckte sich tiefer, langte vorsichtig nach dem Rucksack. Nummer vier? flüsterte Enzian. Bist du sicher? Peter öffnete den Rucksackdeckel, zog den Feldstecher heraus. Er spähte durch die Gläser nach vorn: zersplittertes Grün von oben bis unten, das Zielobjekt zu nah, um es deutlich erfassen zu können, im Vordergrund ein paar Blattkleckse, die sich nicht ausblenden liessen. Peter fluchte leise vor sich hin. Was ist? flüsterte Enzian. Nichts! zischte Peter. Er legte den Feldstecher weg und kniff die Augen zusammen. An dem länglichen, mit Zylinderdach versehenen Nistkasten regte sich etwas. Ein Geflatter in der Art eines Daumenkinos. Du bist doch derjenige, der die guten Augen hat, flüsterte Peter, sag mir bitte, was dort vor sich geht. Enzian ächzte. Er versuchte sein Kinn von der Erde zu lösen. Ich sehe etwas, sagte er, aber ich weiss nicht, was es ist. Es könnte ein Vogel sein. Ja, es ist ein Vogel. Wenn mich nicht alles täuscht, fliegt er jetzt dann gleich davon. Er hat uns entdeckt.

 

Auf der Schächlimatt gab es noch eine oberirdische Telefonleitung. Eine Rarität mit Holzmasten und porzellanenen Isolatoren. Auf einem der Porzellanköpfe sass ein Rabe. Er beäugte die beiden Wanderer scharf. Als sie ganz nah an ihn herangekommen waren, machte er “Krah-krah” und sträubte seinen Federharnisch, flog aber nicht davon. Das war seltsam. Ein befremdliches Verhalten. Sie blieben stehen. In der Waldschneise im Westen standen drei oder vier Hochspannungsmasten, winzige Entladungen durchsprühten die Luft, die so feucht war, dass sie die elektrische Spannung hörbar machte. Im Osten schillerte eine Grasfläche unter der Sonne. Der Rabe schrie. Peter klatschte in die Hände. Der Rabe ruckelte mit dem Kopf und blieb, wo er war. Er hätte davonflattern müssen, tat es aber nicht. Er fühlte sich dort oben anscheinend sehr sicher. Sie warfen Steine und Erdknollen nach ihm, schrien nun ihrerseits. Der Rabe drehte sich weg, öffnete und schloss den Schnabel ohne Krächzen, ohne den geringsten Laut. Das war wie Hohn. Wenn ich jetzt ein Gewehr hätte, sagte Peter.

 

Der Waldrand war reich gegliedert und buschig. Ein paar Holzbänke standen da, mit Feuerstellen und Mülltonnen, es war ein schönes Plätzchen mit Aussicht. Peter und Enzian waren drauf und dran, sich hier niederzulassen, um ein Sandwich zu essen. Es war Mittag, die Sonne stand im Zenit. Da bemerkten sie ein paar Leute, die unter den Bäumen etwas weiter vorn eine Picknickdecke ausgebreitet hatten und gerade den Inhalt einer Kühltasche auspackten. In einem Steinkreis waren Hölzer aufgeschichtet. Jemand stopfte die Zwischenräume mit Papierknäueln, zündelte mit einem Feuerzeug und warf sich flach auf den Boden, um in das Holz zu pusten. Der Wind stand ungünstig. Der ganze Rauch zog zur Picknickdecke, wo die Leute zu röcheln begannen. Was haben wir denn da? lachte Peter. Sie gingen langsamer, um nicht aufzufallen, erreichten dadurch aber genau das Gegenteil. Die Leute hörten auf zu röcheln und schauten zu ihnen hin. Was hast du vor? fragte Enzian argwöhnisch. Diese Leute sind verdächtig, sagte Peter, sie müssen kontrolliert werden. Schau mal, wie sie zu uns herübergaffen. Sie fürchten sich. Sie haben ein schlechtes Gewissen. Sie wissen ganz genau, dass wir ihnen das nicht durchgehen lassen, was sie da tun.

 

Auf einmal schien sich der Bann zu lösen. Jemand, ein Zwerg oder Kind, rief zu ihnen herüber, winkte drollig mit einer Patschhand, kickte einen Ball über die Feuerstelle hinweg und purzelte durchs Gras wie ein besoffenes Kaninchen. Neben dem Holzstoss, aus dem die ersten Flammen züngelten, schnitzelte jemand an einem Stecken herum. Auf der andern Seite der Feuerstelle, zwischen zwei wulstig aus dem Boden herausragenden Baumwurzeln, stand ein elektrischer Rollstuhl mit einer zusammengeknüllten Wolldecke. Erst auf den zweiten Blick konnte man erkennen, dass in der Wolldecke jemand war, ein stark verkrümmter Mann, der katatonisch mit dem Kopf wackelte. Ein anderer Mann, der Postur nach ein Gewichtheber oder Sumoringer, machte Luftkarate, hüpfte, nach allen Richtungen Schläge austeilend, laut lallend auf einem Bein, und eine Frau stiess ein jämmerliches Geheul aus, als der Zwerg oder das Kind ihr den bereits zugespitzten Stecken aus der Hand riss.

 

Die sind vom Behindertenheim, die sind nicht ganz richtig, meinte Enzian. Gaga und gugu ist alles, was die sagen können. Lass uns abhauen, bevor sie Elferraus mit uns spielen wollen.

 

Wart du hier, sagte Peter. Er ging zu den Picknickern, fragte sie kurz aus und kam dann wieder zurück. Er kratzte sich am Nacken. Wie ich insgeheim eigentlich schon vermutet habe, sagte er. Die machen einen Tagesausflug, Bratwurstbräteln und so.

 

Eine Vertiefung tat sich vor ihnen auf. Fast unmerklich hatte sich das Gelände gesenkt. Es führte auf das Dorf zu, das sie bis zum frühen Abend erreichen wollten. Weiter unten rauschte ein Wildbach. Sie folgten dem Rauschen, das immer stärker wurde, härter, gedrängter. Mit unglaublicher Kraft rannte das Wasser gegen die Wände eines Kessels. Es stiess an, wälzte sich herum. Nadelfeine Tröpfchen sprühten herauf. Die Felsplatten und aufeinandergehäuften Riesensteine, an denen das Wasser vorüberschoss, strahlten Kälte ab. Peter und Enzian duckten sich, schaudernd fühlten sie den Höhlenhauch dieser aufgerissenen Felsmasse. Der Berg war hier geöffnet. Er zeigte sein Inneres. Sie durchquerten ein Kühlhaus mit geschliffenen Böden, mit Rinnen und Kuhlen, mit weiss umschäumten Moosinseln, mit kleinen Stauwässern und Kiesbetten. Über das vielstimmige Getöse führte ein Holzsteg, dem sich - auf der anderen Seite des Tobels - waldaufwärts ein Holzstieg anschloss.

 

Sie standen auf einer bewaldeten Anhöhe. Hinter ihnen toste noch immer das Wasser.

 

Sie hörten ein Auto. Durch die Tannen, ein Stück weiter unten, links von der Schlucht, die sie soeben durchquert hatten, schimmerte das Hellgrau einer Strassenkrümmung. Sie rutschten den Hang hinab, und bald standen sie mit wackligen Beinen auf dem Asphalt. Die Strasse wirkte zyklopisch, gewaltsam wälzte sie sich den Berg hinauf, breit und nur wenig ansteigend, aber mit vielen Kurven. Indem sie sich kilometerweit durch den Wald frass, überwand sie eine beträchtliche Höhendifferenz. Diese Strasse, erklärte Peter, beschreibt auf dem unregelmässig geneigten Berghang eine Schlaufen- und Bogenlinie, die in keinem vernünftigen Verhältnis zur Luftlinie steht, die Anfang und Ende dieser Steigung miteinander verbindet. Die Strasse mäandert. Sie multipliziert sich auf eine Weise, die man nur aus der Luft wahrnehmen kann, aus einem Heliktopter oder Flugzeug heraus, am besten natürlich aus einem Luftballonkorb heraus, nur die Sicht von oben kann die Länge enthüllen, den Steiss. Es ist ein Steiss, dem man nicht so ohne weiteres auf die Schliche kommt: er zieht sich in die Länge, steigert sich unmerklich, sodass man zu Beginn des Aufstiegs dem Irrtum erliegt, die Steigung sei ein Klacks. Relativ anstrengungslos zu bewältigen. Und wer freut sich über so etwas nicht? Man kann sich über die Strasse freuen, weil sie nicht besonders steil aussieht. Weil sie, na ja, weil sie Fussgängern eine gefällige Erleichterung verschafft. Auf Kraftfahrzeugstrassen haben Fussgänger ja eigentlich gar nichts zu suchen. Kritiklos übernimmt man den scheinbar gerade gestreckten Asphalt: eine nette, saubere, glatte, satte Unterlage. Eine wohltätige Gehhilfe. Besser könnte es nicht sein. Aber während man stundenlang damit beschäftigt ist, Kurven abzuschreiten, die sich selber einkreisen, geht einem vielleicht irgendwann ein Licht auf. Ohalätz, das ist ja ein Steiss, sagt man sich, da wird man ja müde.

 

Peter überprüfte seine Aussage anhand der Karte. Es stimmte, was er gesagt hatte, er fand es aus der Vogelperspektive bestätigt: die Strasse war ein Steiss. Der Höhendifferenz, das war auf der Karte deutlich zu sehen, schlug die Strasse scheinbar ein Schnippchen. Aber eben nur scheinbar. Was den Aufstieg so beschwerlich machte, war die Länge, mit der die Strasse die Steigung überwand. Es war also genau das, was den Aufsteig eigentlich hätte erleichtern müssen. Es war die Übersetzung der Höhenkurven in Längenmeter. So ist es, sagte Peter, man kann niemals den Fünfer und das Weggli haben. Während Enzian die eilig zusammengefaltete Karte, ein Rumpfelhaufen, in Peters Rucksack verstaute, drehte Peter die Rucksackriemen zurecht. Nun, da die Angelegenheit geklärt war, verloren sie keine Zeit mehr. Bald waren sie wieder gehfertig. Quer waldabwärts marschierten sie auf einem Trampelpfädchen in Richtung Dorf.

 

Es war ein grünes Lastauto. Scheppernd und puffend keuchte es, dem Aussenrand einer Kurve entlang, bergaufwärts auf die beiden Wanderer zu. Es war sehr schnell bei ihnen, trotz seiner Schwerfälligkeit, seines irgendwie rückständigen Aussehens und Gerüttels. Was da auf sie zuholperte, war eher ein Kasten als ein Lastauto, ein grün lackiertes Möbel mit krachendem Doppelrohr-Auspuff. Da sie mit ihrem breitbeinigen Marschieren fast die ganze Strasse einnahmen, wurde ein Ausweichen unumgänglich. Sie schubsten sich gegenseitig zum Rand, ineinander verknäuelt fielen sie ins Gras: das Lastauto zerfetzte im selben Moment die Luft. Schon war es vorüber und verschwand scheppernd und puffend in der nächsten Kurve. Mörder! schrie Peter.

 

Sie rappelten sich hoch, krummbeinig und zittrig, wie vom Blitz getroffen. Alles in allem waren sie jedoch heil davongekommen. Das war übrigens Schwob, der Brikettfabrikant, sagte Enzian, während er sich die Hosen abputzte. Du kennst ihn auch. Er ist im Gesangsverein, ein typischer Kulturmensch.

 

Das Dorf, in das sie nun hinunterstiegen, hiess Mur: zwei Häusergruppen in einer Schattenmulde. Wieso zwei? Vor wenigen Jahren hatten Städter den Nordhang als ruhige und steuergünstige Wohnlage entdeckt. Einfamilienhäuser waren entstanden, Glas- und Betonquader, die man ebensogut auf dem Mond hätte bauen können. Dieses Quartier bildete ein Dorf für sich. Es war stattlicher und offener als das alte Dorf. Die Zuzüger hatten eine Luft ohne Stallgeruch, also ohne jede Rustikalität, dafür roch es bei ihnen nach Ziergarten-Salbei. In der Mitte zwischen Alt- und Neubauquartier erhob sich eine hässliche Zementfabrik, die einst das wirtschaftliche Zentrum des Dorfes gewesen war. Jetzt war der Betrieb stillgelegt, das Einzige, was da noch lief, war die mit dem schweizerischen Zeitzeichensender verbundene Funkuhr in der Betriebskantine. Auf dem ungesicherten Fabrikareal, umwuchert von Brombeerstauden und Brennesseln, standen etliche Baracken. Eine davon hatten Peter und Enzian in ein Büro umgewandelt. Das war vor drei Jahren gewesen, als sie vor einem Gewitter in diesen Holzverschlag geflüchtet waren: ein schönes Örtchen, wie sie fanden. Hier konnten sie ihre Notizen machen, ihre Tabellen ausfüllen, mit Oberholzer telefonieren, sich ausruhen, Kaffee kochen, und je nachdem sogar einen Jass klopfen. Peter sass auf einer leeren Bierkiste, die Füsse in einem Waschtrog. Daneben, auf einem Schemel, bullerte der gasbetriebene Kaffeekocher. Peter war damit beschäftigt, seine Notizen nachzuführen, seine Schrift krabbelte wie eine Fliege übers Papier. Enzian ging weg. Nach fünf Minuten kam er zurück. Er setzte sich in eine Ecke, verschränkte die Arme. Dann ging er wieder weg. Und nach fünf Minuten kam er abermals zurück. Er setzte sich hin, sah die Wand an. Aber du hast doch Kaffee, sagte Peter. Und du hast Rahm und Zucker. Und du hast überhaupt alles, was du brauchst. - Das siehst du aber völlig falsch, schmollte Enzian. Ich brauche nämlich etwas Abwechslung. Lass uns doch irgendwohin gehen. Zum Beispiel in die Dorfdisco. - Du bist aber schon ein Stürmisiech, knurrte Peter.

 

In der Dorfdisco tranken sie ein Bier. Sie waren zum ersten Mal hier. Schon beim Eintreten hatten sie gemerkt, dass das wohl eher ein Rotlichtschuppen war. Mit Betonung auf Schuppen. Es gab ein Mädchen, das halbnackt an einer Stange tanzte, und vor dem Tresen döste ein Hund. Nach dem Bier bestellten sie einen Schnaps. Der Mann, der ihnen die Gläser hinschob, sagte kein Wort. Unbehaglich rutschten sie auf ihren Barhockern herum. Die Bässe dröhnten, das Mädchen tanzte wie beduselt, und der Hund, der vermutlich taub war, gähnte. Auf der Tanzfläche war niemand zu sehen, der im Flackerlicht pulsierende Raum war leer.

 

Und? fragte Peter. Welche gefällt dir?

 

Nach dem Dorfdisco-Besuch wollte Enzian noch eine Runde spazierengehen. Um sich abzkühlen, wie er sagte. In seinem Kopf glühte noch das Disco-Fieber, oder zumindest der Schnaps. Peter schwenkte ab, ging zurück in die Baracke, um sich aufs Ohr zu legen.

 

Schwarz hoben sich die Neubauvillen gegen den glitzernden Nachthimmel ab. Da und dort ein helles Fensterviereck, eine beleuchtete Garage, Lichtkugeln um einen Zierteich herum, die halbierte Aureole einer Strassenlampe. Die ganze Landschaft war auf die Umgebung dieser Lichter zusammengeschrumpft, die paar Häuser und Gärten, in denen es Strom, Türöffnungsautomatik, Gegensprechanlagen, Solarzellen und Wasserinstallationen gab. Enzian bummelte die saubere Quartierstrasse hinauf. Er bliebt öfters stehen, blickte in die Gärten hinein, schnalzte dabei mit der Zunge: Fontänen plätscherten, Äolsglöcklein schlugen an, Nymphen aus Betonguss und Bronze räkelten sich nackt in diskreter Gartenbleuchtung. Die Brüste schimmerten. Die Lippen schmachteten. Es war eine Pracht. Alles wirkte sehr ausgesucht, jeder Garten ein Schaufenster, sogar nachts. Inmitten ihres schlau gehäufelten Wohlstands hatten sich die Bewohner dieser Villen ihre eigenen kleinen Paradiese geschaffen. 

 

Am nächsten Morgen wurde Peter durch einen Telefonanruf geweckt. In seinem Outdoor-Schlafsack lag er auf dem Boden der Baracke, als das Handy direkt in sein Ohr piepste.

 

Im Altbauquartier von Mur machte sich Peter auf die Suche nach dem Polizeiposten. Der diensthabende Polizeibeamte hatte ihm den Weg genau beschrieben. Jedes Haus in diesem Dorfteil, auch das stattlichste, glich einer Wurstmacherbude. Die meisten Eingangstüren waren hinter Blumenkästen, Holzlatten, Zementsäcken und anderem Gerümpel versteckt. Als Peter endlich den richtigen Eingang gefunden hatte - er hatte die betreffende Seitengasse mehrmals übersehen - schlüpfte er durch die halboffene, wie eigens für ihn nicht abgeschlossene Tür und kam in einen düsteren Flur. Hier ging die Suche nach dem Lichtschalter los. Peter tastete eine speckige Tapete ab. Es blieb dunkel. Die Holztreppe knarrte. Sein Blick irrte durch irgendwelche Verwaltungsräume. Hier gab es etwas Licht, Tageslicht. Die Türen standen offen, ein Faxgerät summte, aber es war niemand da. Deckenbalken, Möbel, Türeinfassungen, alles staubgrau und schäbig, und nirgends der leiseste Anflug von Grün, nirgends eine Zimmerpflanze oder wenigstens eine frischgrüne Tapete, nichts durchbrach den allgemeinen Grauton. Der Posten lag im obersten Stock. Als Peter in das holzverkleidete Zimmer trat, fiel sein Blick als erstes auf Enzian, der leicht vornüber gesunken auf einem Stuhl sass: die Haare ganz durcheinander, die Augen stumpf. Hier also hielt man den Übeltäter in Verwahrung. Ein Polizeibeamter mit Hornbrille und dunklem Schnauz reparierte an seinem Schreibtisch ein Diktiergerät. Er nickte Peter kurz zu. Dann senkte er den Blick wieder auf die herausoperierten Bestandteile des Geräts, das er wahrscheinlich in stundenlanger Arbeit zerbeinelt hatte. In polizeilichem Basston sagte er: wenn Sie mir bestätigen können, dass Ihr Kollege für die Flurschutzkommission arbeitet, lasse ich ihn laufen. Aber ohne Frühstück. Das ist in der Verhaftung nicht miteinbegriffen... Was hat er denn getan? wollte Peter wissen. Ach, meinte der Beamte. Für Spanner hat man in Mur nicht besonders viel übrig, wissen Sie.

 

Früh und stark hatte sich der Himmel im Osten bewölkt. Eine schartige Fluh baute sich vor ihnen auf. Direkt am Nagelfluhrand, über den fast senkrecht aufgerichteten Gesteinsschichten, sahen sie drei oder vier Krähen, die schreiend um einen Baum herumwirbelten. Es sah dramatisch aus mit diesen Wolken im Hintergrund, die bedrohlich schwarz ineinander flossen. Enzian reichte Peter den Feldstecher. Peter schwenkte den Feldstecher über die Fluh, rückte den Blick ein Stückweit nach oben. Die Wolken quollen auf wie Tintentropfen in einem Wasserglas. Die Raben verschwanden. Peter setzte den Feldstecher ab. Ein seltsames Morgenlicht, eine Mischung aus Dämmerung und gewitterigem Dunkel, verschleierte Felsen und Wald. Und da war auch noch ein Rumpeln, allerdings nicht von einem Gewitter. Es war das Rumpeln der Mahlmühle in der nahegelegenen Isenschlucht, und sie hörten auch das Schiessen und Kommandieren, das von einer versteckten Wehranlage im Wald herkam. Obwohl sich der Himmel inzwischen völlig zugezogen hatte, sprach sich Peter dafür aus, den Marsch fortzusetzen. Enzian nickte. Rasch zog er den Reissverschluss an seinem Regenschutz hoch. Das werden wir gerade noch schaffen, meinte er zuversichtlich. Und so gingen sie weiter, während der Himmel sie vorläufig noch verschonte. Am gegenüberliegenden Berghang wehten Regenschleier herab.

 

Der gut unterhaltene Weg führte sie direkt auf eine Beizenterrasse, wo die Bedienung schon mit gezücktem Notizblöcklein bereitstand. Zeitlich lagen sie richtig, der Tag war noch lang, sie hätten gut und gern ein paar Stunden hier verweilen können, wenn das Wetter etwas besser gewesen wäre. Sie gaben sich eine halbe Stunde. Peter stoppte die Zeit. Eine halbe Stunde Genuss, sagte er, dann ist Schluss. Unterhalb der natursteingemauerten Terrasse fiel der Berghang mit seltsamen Bruchstufen ins Tal hinab. Es gab da Kühe. Offensichtlich waren sie schwindelfrei. Auf schmalen Bändern rupften sie das sommerdürre Gras. Es waren unwirkliche Kühe, von Wolkenfetzen umgeistert. Enzian schnappte sich einen Bierdeckel und formte daraus ein Gebilde, das in seiner Phantasie vielleicht ein Pferd war. Oder eine Kuh.

 

Warum muss uns der Chef bei der Arbeit eigentlich immer dreinreden? maulte Enzian. Es wäre doch alles viel einfacher, wenn er uns freie Hand lassen würde. Wir sind doch keine Deppen, oder? Für Oberholzer, meinte Peter, hängt eben eben sehr viel von uns ab. Ich meine, er hat eine Karriere, die auf dem Spiel steht, und was sonst noch alles bei ihm auf dem Spiel steht, kann ich hier nur andeuten, schliesslich möchte ich nicht indiskret werden. Er zahlt Alimenten für seine drei Söhne. Er hat eine Tochter, die im Ausland studiert. Er hat Zucker und beträchtliche Arztkosten. Und sein Bruder ist leberkrank. Bei uns sieht es etwas anders aus. Wir haben kaum genug Geld, um überhaupt Geldsorgen haben zu können. Unsere Gesundheit ist unverwüstlich, weil wir uns nicht verhätscheln. Wir sind unbelastet und frei. Zwei richtige Nullen. Wir handeln aus Idealismus. Wir sind Tierfreunde. Die Tiere liegen uns am Herzen. Besonders die Vögel.

 

Und die Flachlandgorillas, setzte Enzian hinzu.

 

Inzwischen waren die Getränke gekommen. Peter schlürfte Kaffee, und Enzian löffelte aufgeschäumte Milch. Sie schwiegen. Irgendwo plätscherte ein Bergbach. Da piepste die Stoppuhr.

 

Sie machten sich an den Abstieg. Dazu benutzten sie den nett gepfadeten Sommerweg. Schmal und fein schlängelte er sich den grauverhangenen Bergrücken hinab. Es tröpfelte anfängerhaft, aber daraus konnte durchaus noch etwas werden. Um nicht verregnet zu werden, beschlossen sie, den Abstieg abzukürzen. Die Seilbahnstation kam ihnen wie gerufen. Zusammen mit einer Frau, die mit Trekking-Ausrüstung unterwegs war, quetschten sie sich in die kugelförmige Seilbahnkabine, die eigentlich nur für zwei Personen gedacht war. Also wie geht das jetzt? fragte Enzian. Wir sind doch zu dritt! Peter drückte auf den Abfahrtsknopf. Nach einem heftigen Ruck schwebte die Kabine den Berg hinab. Jedesmal, wenn das Kabinenlaufwerk über den Arm einer Gitterstütze holperte, wurden Peter und Enzian in die Mitte gedrückt, und die Frau wurde zwischen ihnen eingeklemmt wie eine Sardine. Alles rüttelte, und die Fensterscheiben vibrierten, und jedesmal rief Enzian mit der ihm eigenen Blödsinnigkeit: Hoppla! Was Peter ziemlich nervte.

 

Abgesehen von dem einen Schlechtwettertag, der den Ausflug auf den Juraberg zu einem Abenteuer gemacht hatte, erwies sich das Sommerhoch als erstaunlich konstant. Sichtbares und Greifbares verschwamm, Linien verkrümmten sich, tief überm Asphalt köchelte die Luft. Leichtsinnig verausgabten sie sich, verbrauchten zuviel Kraft, auch Sehkraft. Zu oft blickten sie ins Grelle. Als sie in ein kleines Wäldchen eintraten, sahen sie zuerst überhaupt nichts mehr. Alles erlosch, wie ausgeknipst. Solange sie noch nichts sahen, rieben sie sich den Staub aus den Augen. Wegen des Schwitzens und der grossen Luftfeuchtigkeit hatten sie ihre Hemden mit Toilettenpapier ausgestopft. Das Papier, dreilagig und von bester Qualität, absorbierte den Schweiss, verringerte aber die Hitze keineswegs, ebensogut hätten sie in Eskimojacken umherspazieren können. Sie setzten sich auf einen schuppenfleckigen Baumstamm. Sie berieten, ob es besser wäre, umzukehren und sich selbst und dem Chef reinen Wein einzuschenken. Als Flurschutzgehilfen sind wir momentan recht nutzlos, seufzte Peter. Ja, seufzte Enzian, und vor lauter Natur verpassen wir die Natursendungen im Fernsehen. Warum gehen wir nicht fernsehen? Heute nachmittag läuft eine Sendung über Flachlandgorillas...

 

Sie dachten nach. Zweifellos fielen Gorillas unter die Kategorie jener Tiere, die sie schon immer interessiert hatten, und diese Sendung interessierte sie besonders, weil sie von einem ausgewiesenen Gorilla-Kenner moderiert wurde. Doch so verlockend die Möglichkeit auch war, sie entschieden sich dagegen. Weitergehen. Etwas anderes gab es nicht.

 

Als sie wieder auf dem Weg waren, fiel Peter in ein Selbstgespräch. Er versuchte zu ergründen, warum es gut war, auf dem Weg zu bleiben. Warum sie sich das nicht vorzuwerfen brauchten. Hat man die Erdkugel zur Hälfte umrundet, sprach er halblaut vor sich hin, und möchte man wieder an den Ausgangspunkt zurückkommen, so läuft es doch irgendwie aufs selbe hinaus, ob man umkehrt oder weitergeht. Die Distanzen sind in beide Richtungen die gleichen. Wenn man aber weitergeht und die Umrundung vollendet, kann man bei der Rückkehr wenigstens sagen, man sei wirklich und wahrhaftig einmal rundum gegangen. Ja, es ist die Konsequenz, die es ausmacht, die Konsequenz, mit der man etwas ausführt... Entgegen allen Einwänden und Anzweiflungen auf Kurs zu bleiben, hielt er für das Richtige. Und insgeheim träumte er davon, diesen Kurs auf eine einzige, ungebrochene Linie zu bringen, nur noch geradeaus zu gehen, um die ganze Welt herum.

 

Eine Wolke aus Mücken und Schnaken, die Luft war bevölkert, vibrierte vor Leben, wie auch das spärliche Unterholz, das von Ameisen kolonisiert wurde. Wieder waren sie in ein Wäldchen geraten. Die Böden waren warm und trocken, leicht stinkig, es roch nach Wühlmausdreck und Erdbeerkuchen, und das nicht allzu dichte Blätterwerk erzeugte ein angenehmes Halbdunkel. Als sie sich daran gewöhnt hatten, sahen sie, dass es hier drinnen nicht nur Schwarz und Weiss gab, die Schatten hatten sich aufgehellt und mit einigen, wenn auch schwachen Farben gefüllt. Gottlob haben wir wenigstens etwas zu berichten, sagte Peter und zückte sein Handy.

 

Oberholzer? schrie er. Sind Sie’s? Sind Sie dran? Ja? Ja, ich bin’s. Wie? Nein, wir sind wohlauf. Was? Was sind wir? Demoralisiert? Nein, bei uns geht’s rund. Ja, haben wir. Wir haben bereits ein paar Verdächtige in die Zange genommen. Wir ergreifen die Initiative gegen alles, was uns verdächtig vorkommt, das wissen Sie ja. Natürlich, natürlich, nicht über Ihren Kopf hinweg, Sie sind der Chef, Sie sind der Kopf meines Kopfes, wir halten Sie auf dem laufenden, klar Chef, tschüss.

 

Peter drückte auf den Aus-Knopf. Das Handy gab einen abgemurksten Ton von sich. Er steckte es in das samtgefütterte Neoprenetui, das ihm Oberholzer zum dreiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ich sehe durchaus nicht ein, was der jetzt schon wieder zu meckern hat, schimpfte Peter. Er ist halt unser Chef, meinte Enzian, er hat es bestimmt nicht leicht mit uns.

 

Chefsein ist generell etwas vom Schwierigsten, stellte Peter fest. Man muss auch das Grosse daran sehen. Der Chef löffelt aus, was seine Angestellten verbocken. Der Chef ist immer das Arschloch. Man kann es drehen und wenden, wie man will: er ist immer das Arschloch.

 

Oberholzer wäre auch ein Arschloch, wenn er nicht Chef wäre, meinte Enzian.

 

Flügelschlagend und merwürdig geknickt hopelte ein Rabe hastig über den Weg. Es hätte drollig ausgesehen, wäre da nicht diese verkrümmte Kralle gewesen. Der Rabe war verletzt, irgendetwas Gewalttätiges musste ihm widerfahren sein. Nach ein paar hilflosen Hüpfern schwang er sich über einen Steinhaufen hinweg, und die Schwungbahn knickste, streifte den Boden. Zappelnd fiel der Rabe ins Gras. Dann hopelte er weiter. Sein Gefieder machte ihn schwerfällig, die dicht gepackten Federn hemmten jede Bewegung. 

 

Der hat ganz schön was abgekriegt, meinte Enzian. Bringen wir ihn zum Tierarzt? Weil er das für einen brauchbaren Vorschlag hielt, suchte er in Peters Gesicht nach einer zustimmenden Reaktion. Doch die blieb aus. Peter schien sich ganz auf den Raben zu konzentrieren. Er wandte kein Auge von ihm. Langsam, ganz langsam streifte er den Rucksack ab. Dann liess er ihn los. Der Rucksack schepperte zu Boden. Enzian erschrak: mit diesem Scheppern hatte er nicht gerechnet. Peter bückte sich und nahm aus dem Rucksack ein dunkelgrünes, längliches Futteral. Nachdem er den Reissverschluss aufgezogen hatte, schüttelte er einige Metall- und Holzteile heraus. Die steckte er zusammen, und zwar so rasch und routiniert, als wäre das etwas ganz Selbstverständliches. Enzian fragte sich, was das sein mochte. Eine Angelrute? Ein Richtmikrophon? Peter erhob sich. Mit einer zackigen Bewegung brachte er die beiden Hauptteile dieses Dings zum Einrasten und hatte plötzlich ein Gewehr im Anschlag. Ein Flobertgewehr aus der Büchsenmacherei Golay, Modell Wanderschütze. Das Gewehr war zitternd nach vorn gerichtet. Peter hatte den Finger am Abzug, war aber noch nicht schussbereit, er zielte noch, wandte den Kopf, die Schultern und das Gewehr nach dem Raben, der hin und her wankte, die Flügel gespreizt, als werfe er die Arme hoch, um sich zu ergeben. Dann krachte der Schuss, und der Rabe platzte auseinander wie eine Tomate.

 

Ich trage jetzt übrigens Kontaktlinsen, sagte Peter.

 

Als sie, etwa fünfzehn Stunden später, schlafblind und gähnend aus dem ventilierbaren Schutzraum hinausstolperten, war die Dämmerung schon vorüber. In der Zivilschutzanlage hatten sie ein wenig Schlaf gefunden. Es wäre bestimmt um einiges erträglicher gewesen, wenn nicht immer wieder die Belüftungsanlage gestottert hätte. Hier draussen war eine andere Luft, ein anderes Licht. Sie rieben sich die Augen. Gläsern stand die Sonne über den Bäumen, eine kleine, weissglühende, friedliche Sommersonne, die rasch die ganze Landschaft aufwärmte. Nur dort, wo Schatten, saure Böden oder Staunässe die Trocknung verzögerten, war das Gras noch feucht und mit glitzernden Spinnweben behangen. Peter und Enzian schauten sich behaglich um. Die Umgebung war ihnen nur allzu bekannt, es war die von Wegen, Stegen, Strassen und Hecken durchzogene, kleinparzellierte, feldregulierte, pedantisch zusammengeflickte Wald- und Wiesenlandschaft, über die die Flurschutzkommission seit Jahrzehnten wachte. Jedes Detail war genau begrenzt. Im Ganzen aber, und das Ganze war beeindruckend, hatte man eine grüne Unendlichkeit vor sich, ein Paradies für Kräutler, Schmetterlingsjäger, Wochenendcamper und Pilzesucher. Im Tal, in Richtung Dorf, rauschte wie immer der Bach über die künstlichen Gefällstufen hinweg. Das Dorf hiess Uckten. Wollen wir frühstücken gehen? fragte Peter. In Uckten gab es ein Usego-Lädeli, das frisches Brot verkaufte. Peter, der oft dort einkaufen ging, vor allem morgens, sprach von einem Frühstücksobligatorium, dem man sich unmöglich entziehen könne. Sie wählten den Pfad über die Krete Richtung Osten, stachen beim östlichen Eckstein abwärts quer durch den Wald, stiegen, den verwaisten Rastplatz Tannhölzli hinter sich lassend, über einen Stapel Rundhölzer und kamen auf ein geteertes Strässchen, das pfeilgerade ins Dorf führte. Im Usego-Lädeli war der Verkäufer damit beschäftigt, Blechdosen in die Regale zu stapeln. Nur ungern liess er sich stören. Er wirkte unausgeschlafen, an der Registrierkasse vertippte er sich und kratzte sich lange und bedachtsam sein stoppliges Kinn, bevor er den Betrag nochmals eintippte.

 

Sie kauften Brot und Butter, dazu eine kleine Dose Marmelade.

 

Auf der Trugmatt hatte die Obsternte begonnen. Kreuz und quer standen die Leitern in den schwankenden Kronen, mit angehängten Körben arbeiteten sich die Pflücker von Ast zu Ast. Hin und wieder streckten sie sich, sahen sich um, hemdsärmlige Gestalten mit buckligen Hüften. Ein mit leeren Harrassen beladener Traktor zirkelte in prekärer Schräglage an den Bäumen und Leitern vorbei. Der rostige Auspuff knallte wie ein Gewehr. Es war noch früh, und die Arbeit war schon voll im Gange. Die Früchte müssen geerntet werden, erklärte Peter, sonst schrumpfen sie ein und verderben. Die Reife ist ein kritischer Zustand, ein Kippmoment. Alles, was Hände hat, muss ran, obwohl das gefährlich nah am Bergsteigen ist, dieses Herumhangeln auf Leitern, dieses Balancieren mit vollen Körben, die beim Pflücken die Hose runterziehen: wäre nichts für mich. Ich würde mich schämen. Andererseits erfordert es die wirtschaftliche Situation, dass auch Leute mithelfen, die mit mehr oder weniger natürlichen Schamgefühlen behaftet sind. Wie einer seine Hosen anhat, spielt da keine Rolle. Das Angebot an Importfrüchten ist riesig, die Konkurrenz schläft nicht. Die Konkurrenz schläft nie. Sie hat die Hosen an.

 

Kauend betrachteten sie die Wiesen, die lockeren Obstbaumreihen. Mittlerweilen waren sie auf dem Strässchen, das aus der Talsohle herausführte. Langsam und breitbeinig bewegten sie sich vorwärts, wie Strassenarbeiter vor Arbeitsbeginn, tröge und krummbeinig, breitschultrig und stirnrunzelnd, jeder mit seinem Lunchpaket: unablässig knabberten sie am Brot, die Rinde zersprang knusprig zwischen den Zähnen, für den Aufstrich blieb nicht mehr viel übrig. Kurz bevor das Strässchen in den Wald einbog, ratterte ein grünes Lastauto auf sie zu. Hinter der Windschutzscheibe ein maskenhaft grinsendes Gesicht mit Bart und übertrieben grossen Brillengläsern, das Gesicht einer Schleiereule. Der Brikettfabrikant Schwob bremste nicht. Er drückte auf die Hupe, und sie traten verängstigt zur Seite. Aber gleich darauf war ihnen klar, dass sie kopflos reagiert hatten. Auf das schallende Quäken hätten sie anders reagieren sollen, hätten. Jetzt war es zu spät, sie fühlten sich reingelegt. Schwob, der stets zu Spässen aufgelegt war, hatte sie überrumpelt. Schon wieder. Sie blickten ihm nach. Zögernd fischten sie die letzten Brotbrocken aus ihren Paketen. Das Lastauto verschwand kurz in einer Senke. Dann sahen sie es weit weg und winzig klein auf einem Strässchen, das sich zwischen den Hügeln verlor. Adieu, sagte Peter, liefere du deine Briketts aus, beliefere deine Kunden, hup sie aus dem Schlaf. Wir gehen weiter, müssen aber nicht, das unterscheidet uns von dir: nirgends sind wir am unrechten Ort, weil wir nichts zu verkaufen haben.

 

Zuviele Bäume auf zu kleinem Raum. Das war der Wald, zumindest am Anfang, im Eingangsbereich. Hier war es eng. Aber bald wurde es besser: der Bewuchs lockerte sich, die Baumabstände waren weit genug, um mehr als nur das allernötigste Quantum an Licht und Luft durchzulassen. Es war hier also noch alles beim alten. Sie kannten sich aus, es freute sie, dass es der Wald war, den sie kannten, auf den sie sich verlassen konnten. Es war ein richtiger Wohlfühl-Wald. Die Strasse lief verlässlich durch diesen Wald, es war eine verlässliche Strasse in einem sauberen, zweigeteilten Wald, der die reine Symmetrie zu verkörpern schien. Es gab eine linke und eine rechte Seite, damit war alles klar, die Strasse lief in der Mitte, die links und rechts flankiert wurde von Baumstämmen und Leuchtpfosten. Vier Baumstämme, ein Leuchtpfosten, vier Baumstämme, ein Leuchtpfosten. So ging das. Und so ging es immer weiter in einem sanften, aber unnachgiebigen Rhythmus, den man schnell mal im Blut hatte, er marschierte mit, übernahm die Beinarbeit, taktierte die Schritte und machte das Gehen zu einem Abzählreim, der sich auch deswegen aufdrängte, weil auf dieser Strecke sehr wenig los war. Zählen vertreibt die Langeweile. Es war eine Strasse mit wenig Verkehr, eine Landstrasse. Jedes Auto, das in diese Stille hineinfuhr, verursachte so etwas wie einen Überschallknall, versetzte den Wald in eine vorübergehenden Schock. Auch Fussgänger konnten hier nur stören. Es war fast mit Händen zu greifen, wie Peter und Enzian den Wald aufstörten. Ein Specht fiel aus seinem Takt, musste neu ansetzen, ein Eichelhäher signalisierte keckernd Gefahr. Alles andere war wie immer. Im gehäkelten Waldschatten verschwammen die Umrisse der Bäume.

 

Blitzlichtartig ein Reh. Mitten auf der Strasse. Und schon war es fort.

 

Rehe sind weiter nichts als Rehe, sagte Peter, sie sind unspektakulär, der Wald ist voll von ihnen; käuend oder lauschend, aber selten in Gruppen, meistens allein, einzelgängerisch, stehen sie herum und warten, dass etwas passiert.

 

Was passiert? fragte Enzian.

 

Das Rehfell, erklärte Peter, leuchtet aus dem Dunkeln und kann ganz plötzlich verschwinden. Rehe bringen sich zum Verschwinden, indem sie sich teleportieren. Wie geht das? Ganz einfach! Sie springen davon. Das ist seltsam. Eine Teleportation durch Beinkraft. Aber noch seltsamer ist, dass sie beim Davonspringen wie Damen aussehen, die im sittsamen Damensitz durch die Luft reiten. Und dann stehen sie manchmal plötzlich still. Bleiben mitten in der Bewegung stehen. Sprungbereit und hochbeinig stehen sie in jedem Gebüsch, auf jedem Lichtfleck, wo man auch hinschaut: Rehe. Wie die Pferdchen eines angehaltenen Karussells stehen sie einfach nur da. Herumstehen ist übrigens das, was sie am liebsten tun. Auf uns wirkt das dumm. Aber wir sind ja auch keine Rehe, nicht wahr? Man könnte denken, sie stünden zum Verkauf, nur zu gerne würde man sie unter den Arm nehmen und nach Hause tragen, um sie aufs Frisiertischchen zu stellen. Dutzendware. Nippes. Zierlich sind sie, grossäugig und nett und vor allem geduldig. Aus alter Gewohnheit warten sie auf den Jäger, den Knall, natürlich nicht ernsthaft, gejagt werden sie ja kaum noch. Taucht ein Mensch oder eine Menschengruppe vor ihnen auf, hat sich das Warten für sie erledigt. Dann fliegen sie ruckzuck davon wie Pappfiguren, die an einem gestreckten Faden über die Kasperlibühne gezogen werden: das ist etwas für Kinder. Etwas Lustiges.

 

Kinderkram, murmelte Enzian.

 

Ich weiss, sagte Peter, Rehe sind kindisch. Sie haben nicht einmal einen richtigen Kopfschmuck. Nach meiner Ansicht gehören sie eigentlich gar nicht zu den Geweihträgern, sie haben bloss Hörner, so pelzige, die man kaum sieht. Sind das überhaupt Hörner? Nein, es sind Stummel.

 

Hörner oder Geweih, das müsste man wissen, meinte Enzian nachdenklich. Ein Naturfreund weiss das selbstverständlich, der hat das in der Waldpraxis erworbene Spezialwissen, das uns fehlt. Wenn wir einen Naturfreund antreffen, können wir ihn ja am Bart zupfen und ihn diskret auf unsere Wissenslücke aufmerksam machen: he, Toni, Seppi oder wie du heisst, klär uns doch bitteschön auf. Naturfreunde sind gesprächig, vor allem wenn das Gesprächsthema die Natur ist.

 

Und wir sind keine Naturfreunde? lachte Peter.

 

Doch, schon, meinte Enzian. Aber in erster Linie sind wir Flurschützer. Dazu gehört eben auch, dass wir die Natur bekämpfen.

 

Plötzlich, sie waren soeben in einen Waldweg eingebogen, ein Rascheln und Schnaufen wie von einem Tier. Sie blieben stehen, spähend. In einem Laubhaufen, kaum drei Schritte von ihnen entfernt, bewegte sich etwas. Der Kopf eines Mannes erschien. Nach und nach kämpfte sich der ganze Körper heraus. Der Mann war dick und halslos wie eine Kröte. Er trug einen schmutzstarrenden Anzug. Mit einem Taschentuch säuberte er seine Weste von verrotteten Blättern, baumelnden Würmer, Erdklumpen und Pilzfasern: fast den ganzen Untergrund schien er mitgebracht zu haben. Er putzte sich auch das Gesicht, tat das ganz selbstverständlich und mit kreisenden Bewegungen rund um die Wangenknochen und die Augen herum. Aus seinem Taschentuch rieselte Dreck. In seinem Blick lag Verblüffung, als er die beiden Waldgänger bemerkte. Die Verblüffung war gegenseitig. Mit grossen Augen ging er um Peter und Enzian herum, die geknickten Beine entfernten sich auf einer sich ständig knickenden Linie. Grüezi, grüezi, sagte er. Und wenig später nochmals: grüezi. Peter stand da, als hätte er es mit einem bissigen Hund oder einem Wahnsinnigen zu tun. Er war kaum bewegungsfähig, Enzian dagegen bückte sich instinktiv und griff nach einem Stock. Doch dann kam ihnen undeutlich zu Bewusstsein, dass der andere ja gegrüsst hatte, und zwar durchaus höflich. Ihre Verblüffung legte sich. Es war nicht anzunehmen, dass dieser Mensch, so seltsam er sich auch aufführen mochte, ausserhalb des menschlichen Verkehrs stand. Nichts Bedrohliches ging von ihm aus. Grinsend machte er ein paar Schritte rückwärts, den Blick auf die Flurschutzgehilfen gerichtet, die flachen Hände nach aussen gekehrt wie Flügel, die nicht fliegen, sondern das Fliegen lediglich andeuten. Dann vollzog der Mann eine schwungvolle Verbeugung und lachte. Nicht ganz unerwartet fand sich für das alles eine Erklärung.

 

Maag mein Name, sagte der Mann. Ich bin Laienschauspieler. Manchmal vergesse ich mich, vergesse in meinem Schauspieltraining, dass ich schauspielere. Dafür bitte ich um Entschuldigung. Ich will niemanden erschrecken. Bei der Laienbühne Hagenmätteli arbeiten wir mit den allerneusten Schauspielmethoden aus Amerika. Ich zum Beispiel soll einen Sozialabsteiger spielen, einen achtbaren Herrn, der sich, allen Ermahnungen zum Trotz, derart gehen lässt, dass er zum Landstreicher wird, und wo könnte ich diese Rolle besser einstudieren als hier draussen im Dreck?

 

Es war draussen gestuhlt, unter den Kastanien. Sie setzten sich hin und genossen das Blättergeraschel. Wie oft waren sie schon hier gewesen? Allein in diesem Sommer? Da stellte sich dann schon die Frage, warum es immer diese Beiz sein musste. War es die einzige Beiz auf der Welt? Gar im Universum? Irgendwie bereuten sie, dass sie sich den Tag nicht freigehalten hatten, um alle Gartenwirtschaften der umliegenden Dörfer abzuklappern. Bei aller Freude, die sie beim Sitzen unter den Kastanien empfanden, vermissten sie doch das Abenteuer der Beizen-Rotation. Früher waren sie viel öfter auch in andern Beizen eingekehrt. Aber so ist das eben, sagte Peter, so ist das Leben. Irgendwann schiesst man sich auf eine einzige Beiz ein, und dann weiss man, dass man alt wird. Er blätterte in seinem Notizbuch, und es gefiel ihm, dass die Leute, die ihm dabei zusahen, möglicherweise dachten, er sei ein Schriftsteller. Für die Leute, dachte Peter, bin ich jetzt ein Mann, der in seinem Notizbuch blättert und mit zusammengekniffenen Augen die eigene Handschrift entziffert, ein Mann, der offensichtlich wichtige Gedanken im Kopf hat. Ein Mann, der sich selber ergründet. Die Leute merken mir vielleicht an, dass ich ein solcher Mann bin, dachte Peter, wenn ich nur lange genug in meinem Notizbuch blättere... Enzian schnippte in die Luft. Hanna! rief er. Später, als Frau Kamber das Gewünschte gebracht hatte, versuchte Enzian mit der Frau am Nebentisch, einer breitschultrigen Blondine, die ganz für sich allein Limonade schlürfte, ein Gespräch anzuknüpfen. Er rückte seinen Stuhl in ihre Nähe und tat damit seine unzweideutige Absicht kund. Enzian hielt sich für einen Meister des Flirts. Wissen Sie, sagte er, und sein Lächeln sprang auf die Blondine über, ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber mit Frauen kenne ich mich aus. Ich bin im Samariterverein. Ich habe viele Gummipuppen beatmet.

 

Der Wald kam so selbstverständlich wie ein Sommergewitter. Es regnete Lichter. Es geisterte grünlich und blau. Es lispelte und seufzte rundherum. In Millionenzahl flimmerten und schwärmten Buchenblätter über den Himmel. Sie wurden durchblasen und gezaust, raschelnd liefen sie auseinander und wieder zusammen, es frischte auf. Peter und Enzian spürten es bis ins Rückenmark. Wo sind wir? fragte Peter. Im Wald, flüsterte Enzian. Wo genau? fragte Peter. Enzian zuckte die Schultern, zerknüllte zwischen seinen Fingern ein Papiertaschentuch, mit dem er sich vorhin den Schweiss abgewischt hatte. Er war, ohne es zu merken, aus dem Tritt gekommen, seine Schuhe scharrten über den Asphalt, die Fersenkappen drückten, die Laschen schnitten ins Fleisch, ein erträgliches Leiden, er nahm es in Kauf, es gehörte dazu. Das Gehen auf Asphalt war ja auch nicht das Normale. Wanderwege gab es im allgemeinen genug, nur hier, aus welchen Gründen auch immer, hatte man sie fortgelassen, durch diesen weitläufigen Wald führte kein anderer Weg als ausgerechnet der, der nicht für Fussgänger bestimmt war. So schlimm war es nicht, es ging sehr gut. Es war sogar ein Erlebnis. Man war hier mitten im Wald, ohne über lästige Wurzeln stolpern zu müssen, und der Wald war die reine Schau. Die wie ein Barocksaal durchglänzte Tiefe, in die man da hineinsah, war wunderschön, und schön waren auch die Bäume, jedes Blättchen ein Glanzlicht, alles war überaus schön, und sogar die Strasse war schön.

 

Das haben wir also fertiggebracht, wir sind im Wald, sagte Peter aufatmend. Der Wald ist riesengross und schön. Er nimmt dich ein. Du lässt sich einspinnen und anstecken von dem vielen Grün, das sich jeweils im Frühling aus der Reserve drängt und an allen gesunden Laubbäumen die Photosynthese ankurbelt. Energie fängt an zu fliessen, der Wald schluckt Licht und schwitzt und dünstet; er wird gelüftet, bewässert und durchsonnt. Der Wald strotzt vor Gesundheit, weil er grün ist, und er ist grün, weil er strotzend gesund ist. Du kannst das drehen und wenden, wie du willst, und es ist doch immer ein einziges Grün, ein Universalgrün. Wo es sich entfaltet, gibt es nichts Matschiges, nichts Krankes, das Kranke ist violett oder gelb. Grün hingegen ist eine Farbe, die jeden Ärztestammtisch begeistert. Sie könnte als Medikament verschrieben werden. Doch der Haken daran wäre die Dosis. Erwischst du nämlich zuviel davon, so wandelst du dich von oben bis unten, du verlierst die Behaarung des Homo Sapiens und bekommst Federn, ein Federnkleid, während aus deinem Gesicht ein Schnabel wächst, der sich knackend öffnet. Und schon fängst du an zu zwitschern. Die Vögel zwitschern, weil sie ständig dieses viele Grün um sich herum haben. Es macht sie ganz wirr im Kopf.

 

Haben Vögel eigentlich Nasenlöcher? unterbrach ihn Enzian. Diese Frage reichte aus, um Peter für eine Weile verstummen zu lassen. Hinter den Bäumen war auf einmal eine Helligkeit. Wie durch die Ritzen eines Scheunentors leuchtete sie in den Wald hinein, zuerst schwach, dann immer stärker, sie flimmerte ein bisschen, blinkte, und genauso unmerklich, wie eine Buchseite umgeblättert wird, verschwand der Wald hinter einer Wegbiegung. Es wurde luftig. Windbewegt flüsternd dehnte sich eine Wiese vor ihnen aus. Am Wegrand blühte Akelei, in rissigen Erdfurchen krabbelten Käfer. Der Weg war staubig und mit faustgrossen Steinen übersät. Ein Mähdrescher, verbeult und verrenkt, funkelte in der Sonne, und auf seinem Dach hockte ein Rabe, der anscheinend nichts anderes im Sinn hatte, als die Schaulust der Passanten zu wecken. Die längste Zeit tat er keinen Wank, es war verlockend, ihn genau zu betrachten, sein Gefieder, seinen Schnabel, die Krallen, jedes Detail. Ein Lebendobjekt.

 

Vögel, sagte Peter, leben auch nicht ewig. Unter den Händen von Tierpräparatoren bekommen sie ein zweites Leben. Ein Leben ohne Flug, ohne Gesang, traurig vielleicht, aber dafür mit pädagogischem Mehrwert.

 

Es war kurz vor fünf. Sie schätzten es anhand des Sonnenstands. Dass keiner von ihnen auf seine Armbanduhr schaute, war Ehrensache. Sie waren jetzt in der Nähe von Rüdlisbach. Die Gegend gefiel ihnen nicht. Dennoch gaben sie sich interessiert, hielten ein bisschen Umschau. Ein leichter, wohltuender Wind kam auf. Wie Leuchtquallen trieben die Köpfe des Wiesenkerbels auf den Graswellen, schwebten schaukelnd dahin, während Millionen und Abermillionen Bienen und Mücken wie besinnungslos herumschwirrten. Überall zirpten Grillen, und an Zaunpfosten blitzten Folienstreifen, bewegten sich launisch im launischen Wind. Den Weg, der hier noch ein Strässchen war, säumten staubige Allerweltspflanzen, und über dem Asphalt blinzelten Schmetterlingsflügelaugen.

 

Der Asphalt wurde brüchig, ein Kiesweg begann, und das Knirschen der Schritte setzte ein, erschreckend laut. Eine Amsel flog auf, sie vergass die Kirsche mitzunehmen, an der sie am Wegrand gepickt hatte. Die Sonne begann zu drücken. Peter und Enzian fiel auf, dass sich der Wind gelegt hatte. Ein wie hingespritzt aussehender Kuhfladen erinnerte sie an Rührei. Eine Vogelscheuche, wie aus dem Nichts erschaffen, grüssgott, ich bin der Hansli. Aber nein, diese Vogelscheuche grüsste nicht. Sie war ein Soldat auf Wache. Sie bewachte einen Acker, den es nicht gab. Es gab hier nur die Endlosigkeit des Grases, ein paar Birnbäume hie und da, und es gab die Wegrandstreifen mit ihren Staubfängerpflanzen, ihrem Durcheinander aus Kraut und Rüben. Sonst gab es nichts.

 

Aber hinter dem Wiesenkerbelfeld und den krautigen Buntbrachen erstreckte sich so weit sie sahen verwildertes Obstland mit Dunghaufen und Privatarealen. Ein Häuschen neben dem andern, jedes mit einer korrekt imprägnierten Schweizerfahne über einem zusammengenagelten Dach, die Wände aus abgelaugtem Sperrholz und die Fensterscheiben aus Teerpappe, in die man Löcher gebohrt hatte, um hinausschauen zu können. Alles schief und krumm und dennoch aufs Beste instandgehalten. Da und dort zeigte sich sogar so etwas wie Erfindergeist. Eine Dachrinne führte direkt in ein Klosetthäuschen, eine Waschmaschine war zur gemeinschaftlich betriebenen Mostmaschine umgebaut worden, einen Stewi-Ständer nutzte man als Stangenbohnengestell, und eine mit Netzstoff überzogene Begrünungswand aus durchlöcherten Yoghurt-Bechern sorgte für wohltuenden Schatten. Nein, das war nicht Rüdlisbach, nicht einmal ein Vorort von Rüdlisbach, in der Zonenplanung von Rüdlisbach war das alles nicht im mindesten vorgesehen: eine Hektarfläche voller Pflanzparzellen und Wochenendrefugien, bewohnt und bewirtschaftet von Raupenzüchtern, Quartalsgärtnern, Jagdrevieraufsehern, Invalidenrentenbezügern, Handörgelispielern, Hundesportaktivisten und pensionierten Kraftfahrzeugmechanikern. Dieses wildheckenumzäunte, aus lauter kleinen Landnahmen zusammengestückelte Territorium war planlos entstanden, es hatte sich ausgebreitet wie ein Schimmelpilz, und vielleicht nicht einmal legal. Und so war hinter dem Rücken der Ordnungsliebe eine kleine, heile Welt entstanden, in die man ganz ohne Absicht hineingeraten konnte, besonders wenn man, wie Peter und Enzian, zu weit ins Abseits spazierte.

 

Im Abseits waren sie jetzt tatsächlich. Der Abend rückte näher. Peter und Enzian erkannten, dass der Tag gelaufen war. Vorbei. Also weiter nach Rüdlisbach und von dort mit dem Postauto nach Hause. Der Weg blieb im Grünen, führte fort von den Gärten und über eine gelbgetüpfelte Wiese, den Schauplatz einer Hahnenfussinvasion, und wieder sahen sie ein Reh, wenn auch nur von weitem. Es sprang hakenschlagend davon.

 

Gleich darauf ein zweites Reh. Oder war es dasselbe? Zwischen zwei Wegschlaufen, nur eine Sprungweite vom Wald entfernt, trippelte es stolpernd, wie geschubst, aus dem Schatten. Es senkte sein Köpfchen, um zu äsen. Peter und Enzian schauten hinüber, das zickenbeinige Wesen schien keine Notiz von ihnen zu nehmen,

 

Fast sofort begannen sie darüber zu diskutieren, ob das nun das gleiche Reh sei, das sie vorhin schon gesehen hatten, und die Diskussion verlief sehr lebhaft. Dabei verpassten sie die Abzweigung nach Rüdlisbach, und das Reh katapultierte sich in den Wald.

 

War das ein Wald oder ein Pfahlzaun? Die regelmässig gesetzten Tannen verströmten einen strengen Harzgeruch. Es wurde sehr rasch dämmrig hier drin, das Holz klackste wie eine Turmuhr, die sich anschickte, den schwerfälligen Mechanismus ihres Glockenschlags in Gang zu setzen. Und auf einmal schrie ein Tier: laut und wimmernd und ohne irgendeinen ersichtlichen Grund. Peter und Enzian erstarrten. Könnte die Bodenbalz sein, meinte Peter. Dummerweise konnte er sich nicht darauf besinnen, welches Tier es war, das diesen Balzruf ausstiess, und so beliess er es bei dieser nicht sehr fachkundigen Vermutung. Er war erleichtert, als das Geschrei verstummte.

 

Manche Vögel, erklärte Peter, lassen sich trotz ihrer lauten Gesänge kaum aufspüren. Ihre Gesänge bestehen aus auf- und abschwellenden Tönen, du kennst das von Martinshörnern; die Schwallwellen scheinen aus verschiedenen Richtungen zu kommen, sie überlappen sich teilweise, schwappen übereinander hinweg. Du hast da plötzlich diese Art von Rundumbeschallung, die die Tonquelle auslöscht. Manche Vögel haben diesen schwirrenden Rundumgesang, der eine verwirrende Richtungslosigkeit der Schallwellen erzeugt, sehr zum Ärger der mit Mikrofonen ausgerüsteten Ornithologen, die mit solchen Vögeln natürlich ein tontechnisches Problem haben. Und auch die Ortung ist ein Problem. Trugvögel sind das, man sollte sie einfangen und ausstopfen, damit man sie in Ruhe beobachten kann.

 

Aber dann singen sie nicht mehr so schön, gab Enzian zu bedenken.

 

Einige Wochen später, es war ein Sonntagmorgen. Silberne Feuerzeuge blitzten auf, in den Biergläsern schwappte Bier oder Panasch, kaum spürbar wehte vom Feld her ein Lüftchen in die Gartenwirtschaft hinein, die Nacht war kühl gewesen, und am Morgen hatte Frau Kamber die ersten welken Kastanienblätter zusammengewischt. Aber inzwischen hatte die Sonne doch etwas Kraft gewonnen, und der eine oder andere Gartenwirtschaftsbesucher qualmte in verständlicher Freiluftstimmung eine lässig aus dem Zahnfleisch ragende Zigarillo. Frauen unterhielten sich leise und zwanglos in jenem Ton, den man ständig um sich haben kann wie ein laufendes Radio. Obwohl es nichts zu tun gab, fand man sich beschäftigt, zumindest gesprächsweise; die Gespräche plätscherten dahin, interesselos und ruhig, die Stimmung an den Tischen war friedlich und unaufgeregt, nur die Kinder sorgten für Betrieb. Sie tobten ums Haus, eine richtige Meute, durchtobten den Garten, balgten sich im spritzenden Kies, bis jemand dazwischentrat und sie hinauskomplimentierte auf die Wiese, den eigentlichen Spielplatz: von dorther war dann noch lange Geschrei zu hören. Ein Bube, kaum drei Jahre alt, wurde an den Haaren gerissen und niedergestossen. Seine Spielkameraden traten und schlugen auf ihn ein. Sein Geheul spornte sie an, noch fester dreinzuschlagen. Peter und Enzian waren gerade noch rechtzeitig gekommen, um sich zwei Schattenplätze zu ergattern. Das Geschrei störte sie nicht, es war ein unverfälschtes Kindergeschrei. Dagegen konnte man schwerlich etwas haben. Peter legte seine Hände auf die rupplige, rotweiss karierte Tischdecke, die nach Putzmittel roch. Aber sie war bereits etwas klebrig, jemand hatte da sein Bier neben dem Glas getrunken.

 

Sie hatten einiges zu bereden, zum Beispiel schien es ihnen ausgemacht, dass sie sich trennen mussten. Es ist überhaupt nicht sinnvoll, meinte Peter, dass wir alles gemeinsam unternehmen. Vielleicht ergänzen wir uns eben doch nicht so gut. Ich meine arbeitstechnisch. Wenn wir uns trennen, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass wenigstens einer von uns die richtige Beobachtung macht. Oder die richtige Massnahme trifft. Enzian nickte. Tolle Idee, sagte er, am besten, ich fange gleich damit an.

 

Er stemmte sich hoch, suchte das Gleichgewicht, drehte sich um und ging vom Tisch mitsamt dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte und den er nun hinter sich herschleifte wie ein natürliches, aber nutzloses Anhängsel. Sein Kittel hatte sich im Rückengestänge verfangen, und der Stuhl ging automatisch mit, die Stuhlbeine scharrten über den Kies, während sich Enzian geschäftig entfernte: schon schleifte er den Stuhl auf die Strasse hinaus und schleifte ihn unverdrossen weiter, an den angrenzenden Häusern und Hühnerställen vorüber und durch dickblätterige Riesenrhabarbern, die von den nachschleifenden Stuhlbeinen geknickt, skalpiert und zerstückelt wurden. Blattfetzen und Gehölzteile wirbelten durch die Luft, als sich Enzian mit seinem Stuhl durch die Stauden hindurchkämpfte. Er ging unverdrossen weiter, den Bühl hinab und die Gwidenstrasse hinauf, und eine ganze Weile hörte man noch das Scheppern und Poltern des hin- und herschlagenden Stuhls, bis Enzian im gelb aufwallenden Blütenstaub einer Magerwiese verschwand. Nicht auf Nimmerwiedersehen, aber immerhin, er verschwand aus diesem Nachmittag.

 

Am selben Abend, es war schon dunkel, sah ihn Peter hinter den grossen Glasscheiben der Turnhalle. Enzian vertrieb sich dort mit irgendwas die Zeit. Er hatte die Halle ganz für sich. Wie ein Liliputaner, der in einem riesigen Zirkuszelt vor leeren Rängen ein Kunststücklein aufführt, stand Enzian blass und klein unter den lichtstarken Lampen und machte etwas mit einem Springseil, wickelte es um die Elle des linken Arms, wickelte es wieder ab. Peter schaute genauer hin, er war sich im unklaren darüber, was hier geschah, dieses Auf- und Abwickeln war ihm unverständlich. Er sah keinen Sinn darin. Enzian trug ein verwaschenes Turntrikot, vielleicht hatte er geturnt, so abwegig war das nicht, er hatte vielleicht ein paar Seilsprünge gemacht. In jungen Jahren war Enzian in der Turnriege gewesen, sogar im Vorstand. Was Peter da beobachtete, war also vermutlich ein Versuch, an alte Zeiten anzuknüpfen. Die mit Linien und Kreisen vollgepflasterte Weite der Turnhalle hätte viele Möglichkeiten geboten, auch für ein schonendes Turnen, ein Rehabilitationsturnen. Seltsam, dass Enzian sich nicht von der Stelle rührte, es wäre doch alles dagewesen, was ein Hallensportler so braucht: Bälle, Sprungkästen, Bodenmatten, Barren, Sprossenwände, Kletterstangen, Gymnastikreifen und vieles mehr, was im Schul- und Vereinsturnen täglich zum Einsatz kam. Doch Enzian nahm vorlieb mit diesem idiotischen Springseil, das er sich um die Elle wickelte, als wäre es zu nichts anderem zu gebrauchen. Das Rätsel wäre vielleicht lösbar gewesen, hätte sich Peter die Mühe genommen, hineinzugehen, es wäre ein Katzensprung gewesen, ein kurzes und freudiges Hallosagen, aber er war nun wirklich nicht in der Stimmung dazu. Soll der doch selber schauen, was er macht, sagte sich Peter und ging weiter.

 

Als er aus dem Gewinkel der mit Plakatfetzen überklebten Stalltüren und Hauswände heraus war, knipste Peter seine Taschenlampe an. Er ging auf den Wald zu, den dünnen Lichtstrahl hin und her schwenkend wie einen Blindenstock. Im Wald drinnen fühlte er sich auf einmal sehr viel sicherer. Peter sah, dass er in der kompakten Dunkelheit gut vorankam, die Steinchen auf dem Weg liefen rasch auf ihn zu. Die Schwärze überwältigte ihn nicht, sie war wie Wasser, er konnte sie durchschwimmen. Und doch fühlte er sich unbehaglich, immer unbehaglicher. Der abwärts gerichtete Lichtstrahl verstärkte die Dunkelheit ringsum, seine Wirkung liess nach. Peter musste sich anpassen und blind stellen, um nicht panisch zu werden. Ein Blinder sieht nicht, dass er nichts sieht; im Dunkeln kann ihm das eine Hilfe sein. Blindgehen, dachte Peter, ich gehe blind. Er knipste die Taschenlampe aus. Er wollte sich der Schwärze stellen. Die Schwärze war dick, in ihrem Ausdehnungsbereich lauerten Gefahren. Nie darf ein Schwimmer nach unten blicken, dachte Peter. Er sah nach unten: da war nichts. Unten, dachte er, lauert das Übel, unten verliert sich das Licht. Was dort lebt, ist nicht zum Angeschautwerden gemacht. Es braucht nicht angeschaut zu werden, weil es buchstäblich nach nichts aussieht, es verbreitet Blindheit. Peter fröstelte bei dem Gedanken, wie gross dieser Wald war, wie weit die höchsten Wipfel in den Himmel hinaufreichten.

 

Er hörte, wie ein grosser Vogel über ihn hinwegrauschte.

 

Nichts, vor dem er sich hätte fürchten müssen, hier, in diesem Wald, in diesem Moment, die Nacht war kühl, aber friedlich, der Wind, der durch die Äste strich, ging auf Zehenspitzen. Ein leises Geräusch hie und da. Ein verstecktes Zirpen. Das Plätschern eines Bächleins zwischen den Bäumen, das wie abgeschnitten verschwand und eine Weile später wieder hervorkam. Peter merkte, dass sich seine Augen an das Dunkel gewöhnten. Er sah die einzelnen Bäume, sah sie nicht mehr als formlose Masse, sondern mit allen Konturen und Schattierungen, und wenn eine Wegbiegung kam, war er darauf vorbereitet. Und wenn ein helles Buchenblatt vor ihm auf dem Weg lag, konnte er sich danach bücken und es in die Hand nehmen. Und auf einmal war da zwischen den Bäumen ein Lichtschein, ein rotes Geflacker. Peter verliess den Weg und hielt darauf zu.

 

Die ganze Umgebung zuckte im Widerschein der knatternd zum Himmel auflodernden Flammen. Gebälk krachte in sich zusammen, fiel in glühende Kohlestümpen. Peter stand dabei mit seiner Taschenlampe, die er wieder angezündet hatte. Er kam sich dumm vor. Während im Flammenwind Funken hochwirbelten, fuhr er sich mit der Hand über den Kopf. Es schneite Asche. Er klopfte sich ab und machte, während er den Kragen lüftete, einige Schritte seitwärts auf die Wiese hinaus. Der Brand spielte sich nicht weit vom Waldrand ab, die Flammen geisterten vervielfacht zwischen den Bäumen herum. Nein, allzu dramatisch war das nicht. Nur eine brennende Scheune. Ein lautstarkes Drunter und Drüber von herbeispringenden Leuten machte die Sache grösser und bedeutender, als sie in Wirklichkeit war. Zu machen war da nicht mehr viel. Also schaute man, wie das Feuer herunterbrannte. Man vertrat sich die Beine, wich dem Rauch aus. Kein Löschzug war da, kein Wasser, anscheinend hatte sich niemand, der aus dem nahen Dorf herangeeilt war, auf Brandbekämpfung eingestellt. Die war auch gar nicht nötig. Der Wald hatte genügend Feuchtigkeit gespeichert, um dem Feuer widerstehen zu können. Eine Gefahr des Umsichgreifens bestand nicht. Im grossen und ganzen freute man sich über das Feuer, heimlich oder nicht, man war hergekommen, um etwas Aufregendes zu erleben, man gaffte sozusagen hinter Absperrungsschranken, die es nicht gab. Man fühlte den wohligen Schauder eines irregulären Vorfalls. Bei alledem war man in Sicherheit. Wie im Kino. Es war ja kein allesverschlingender Waldbrand, das Unglück ging geordnet vor sich, vorhersehbar brannte das alles schön herunter, und es hätte nur noch gefehlt, dass die Zuschauer applaudierten, wenn ein weiteres Stück der Scheune in sich zusammenkrachte. Schliesslich gab es nichts mehr, das zusammenkrachen konnte. Das Grüppchen der Schaulustigen fing an zu schwatzen, war eigentlich gar nicht mehr so richtig bei der Sache. Man schlug einen Ton an, der jede eventuell noch vorhandene Aufgeregtheit überspielte. Die Nacht wich, und das sich selbst überlassene Feuer verpuffte im pulverisierten Holz mit Rauch und Gestank. Ende der Vorstellung. Die Leute gingen auseinander, trampelten schwatzend durch die Wiese, schlugen die Hände gegen die Hosennähte. Rund um die saugenden und schmatzenden Geräusche des absterbenden Feuers breitete sich eine Kühlschrankkühle aus, gegen die es kein anderes Mittel gab als Bewegung. Wieder und wieder reckte einer die Arme, ein anderer machte Kniebeugen. Doch es gab hier nichts mehr zu gaffen, und bald verzogen sich auch die Hartnäckigsten in Richtung Dorf. Ihnen schloss sich Peter an. Ein Kaffee konnte jetzt nicht schaden.

 

 

 

 

2009