Talwaldwald

 

An dem Abend, an dem Glugger verschwand, lag etwas Besonderes in der Luft, eine Ruhe, in der es gleichsam etwas knisterte. Jemand hustete. Sternschnuppen regneten herab, ein zerstäubtes Zwinkern inmitten einer Myriade Sterne, die gelangweilt blinkten, unaufhörlich blinkten, der Himmel war mit Lichtern übersät wie ein Rangierbahnhof. Zwischen den Häusern schlurften Schritte im Gras. Es war Glugger, er hatte eine Zigarre im Mund, und er ging gebückt, als ob ihm die Mittagssonne noch immer auf den Kopf drückte. Ich sah ihm zu, wie er über die angrenzende Wiese davonschlich, sich immer weiter vom Dorf entfernte. Er schrumpfte zu einem Schatten, einer kaum wahrnehmbaren Bewegung im Gras, einer Figur auf einer Buchseite, die umgeblättert wird. Aber die Zigarre hatte eine glühendes Loch in diese Buchseite gebrannt, und so kam es, dass durch die Dunkelheit ein schwaches Glühen in Zigarrenkopfgrösse schwebte, während Glugger die dunkle Wiese hinabstapfte, dem Bach entlangstapfte, über einen Zaun sprang, weiterstapfte auf den sich überschneidenden, gerade- und querlaufenden schwarzen Linien von Wiese, Acker, Waldrand, Weg und Grasbord, ein schummrig glühender Punkt, der sich schwankend fortbewegte wie eine Leiter, die jemand auf der Schulter trägt, dort bewegte sich Glugger in der schweigenden Nacht, rauchend, schlurfend, in Gedanken versunken, fortwährend eine andere Gestalt annehmend, denn seine Unsichtbarkeit bewirkte, dass ich anfing zu phantasieren, ich sah Glugger auf einmal mit Gepäckstücken beladen, ein Gepäckträger, und der gerade noch sichtbare rote Punkt zog nun an endlosen Baumreihen vorüber, ein schwaches Glimmen, Gluggers Schlurfen war von Tannen umstellt, riesigen Tannen, zwischen denen der rote Punkt zeitweilig etwas deutlicher, röter und wärmer wurde, sich tiefer einbrannte ins Dunkel, anscheinend zog Glugger an seiner Zigarre, nuckelte nich nur, sondern füllte beide Backen mit Rauch, blieb stehen, paffte vor sich hin, hustete Rauch, qualmte wie eine Lokomotive, drehte den Kopf, drehte die Zigarre und tippte die Asche ab, ich konnte sehen oder glaubte zu sehen, wie er sich wieder in Bewegung setzte, diesmal wie ein Stationsvorsteher, der dem einfahrenden Zug ein Zeichen gibt, ein Haltesignal, er hielt sich gewissermassen an die Vorschriften, rannte nicht, vollzog eine Schrittfolge, die geübt und sachlich wirkte, Selbstbeherrschung und Diskretion zum Ausdruck brachte, er ging geschwinder, was man ohne weiteres begreifen kann, wenn man in Betracht zieht, dass es Nacht war und Glugger der einzige Mensch war in einem Wald, in dem geklopft, geraschelt und gepfiffen wurde, aber nicht von Menschen, nein, der Wald war jetzt das Reich der Nachtvögel, der Füchse, der Leuchtwürmer und Totenkopffalter, Glugger horchte nicht hin, blickte sich nicht um, wie ein aufgezogener Spielzeugmensch hielt er sich stur an seine Zigarre, die noch immer glühte, wenn auch schwächer, an deren Glut er aber Anteil hatte, nicht nur dass er die Glut immer wieder anfachte, er selbst brannte auch, das Feuer, das sich, zur Glut abgedämpft, durch seine Zigarre frass, schien ihm Energie zuzuführen, zerrte ihn vorwärts, vielleicht ein wenig zu stark, er wollte ja nur spazieren, sich die Füsse vertreten, nicht wie ein Grashüpfer herumzappeln, hochspringen beim kleinsten Geräusch, nein, das wollte er nicht, ich konnte mir gut vorstellen, dass er etwas verärgert war über die Eile, die ihn da antrieb, die ungerufen über ihn hergefallen war, ein Knüppelschlag von hinten, ja, und noch einer, Glugger drehte sich um, drohend fast, dichtes Laub deckte ihn zu, nur der Glutknopf der Zigarre schaute daraus hervor, Glugger stand in dieser Verborgenheit wie ein Stier, mit gebeugtem Nacken, gesenktem Schädel, an dem der Schweiss herablief, stand da, schnaufend, der samtige Glutpunkt verlor Asche, die Glut schrumpfte, endlich kam Glugger zur Besinnung, er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiss ab, lachte, ich konnte sehen, wie er lachend herumwirbelte, seinen Atem in die bröckelige Glut blies und den roten, wiederbelebten Punkt in den Mund steckte, Glugger rauchte gekonnt, mit Würde und Eleganz, er, der nie einem Athletenverein angehört hatte, hatte es auf einmal heraus, wie man sich einen sportsmännischen Elan zulegt, einen Schmiss, der einem Flügel verleiht, das war es, was ihm bisher gefehlt hatte, Glugger straffte sich, setzte Fleisch und Knochen neu zusammen, schoss nun vorwärts, liess sich den Nachtwind um die Ohren wehen, bekam ein Adlerprofil, wobei die Zigarre in dieser Physiognomie den scharf vorspringenden Schnabel bildete, Glugger ging aber bald wieder zu einer gemächlichen, man kann sagen gemütlichen Gangart über, ohne dabei seine Körperhaltung zu ändern, mit dem deutlichen, aber besonnenen Schritt eines Uhrmachers überquerte er eine Kuhweide, die Kühe, dicht gedrängt in einer Erdmulde, erzeugten ein Gebimmel, das sich aus der Entfernung anhörte, wie wenn jemand Münzen umschüttet, leise, von einer Talseite zur andern, Glugger biss auf die Zigarre, der Gehsteig wand sich um knorrige Haselsträucher herum, Strünke, das Gelände zerfiel, Wiesenparzellen, Hecken, Waldfetzen, Glugger liess die Hände sinken, blieb missmutig stehen, mürrisch geworden, ein argusäugiger Verkäufer, der bei der Überprüfung seines Warenlagers feststellt, dass alles am richtigen Ort steht, doch Glugger selber schien in Unordnung geraten zu sein, denn ich konnte nun sehen, wie er einknickte, einem Gerippe gleich, dem man den wichtigsten Knochen herausgeschraubt hat, er zerfiel widerstandslos, klapprig in sich einstürzend wie ein Turm aus schief aufgestapelten Klötzen, aber dann merkte ich, dass er noch auf beiden Füssen stand, wenngleich etwas unsicher, er hatte sich nur kleiner gemacht, hatte sich hingekauert, wie es Leute tun, die mit einem Kind sprechen, dabei war es offenkundig, dass Glugger sich nicht auf eine tiefere Ebene hinabbegab, seine Selbstverkleinerung war eigentlich eine verkappte Huldigung, die einzige angemessene Form für einen Riesen, sich einem Zwergenkönig zu nähern, Glugger schaute auf etwas sehr Kleines hinab, befasste sich mit einem Wesen, das ebenso wichtig wie klein war, ebenso erstaunlich wie niedlich, aber irgendwie auch fremdartig, und es scheint auf der Hand zu liegen, dass Glugger allen Grund hatte, vorsichtig zu sein, allein schon wegen des Grössenunterschieds, der jede plumpe Vertraulichkeit ausschloss; dort drüben, auf dem nächtlichen Landweg, fand eine Begegnung statt, die daran scheitern konnte, dass sie einen enormen Unterschied zu überwinden hatte, die es aber, und das war jadie Hauptsache, unserm Spaziergänger erlaubte, den fürsorglichen Riesen zu spielen. Glugger streckte die Zigarre von sich weg, um das kleine Wesen nicht zu erschrecken. Was war es? Ein Insekt? Ich wartete, zündete eine Zigarre an, als ob ich mir an Gluggers Stelle das Vergnügen gönnen müsste, eine Zigarre ganz auszukosten. Was war eigentlich los mit Glugger? Dort drüben geschah lange Zeit nichts. Gluggers Oberkörper über den kurzen, eingeknickten Beinen schwankte, sodass der ovale, auf schmalem Hals stehende Kopf einem Entenei ähnelte, das auf einem sehr kleinen Löffel balanciert wird. Glugger hatte es nicht leicht, seine Grösse war ihm hinderlich, er befasste sich anscheinend mit einem winzigen, mausflinken Wesen, das mit spitzigen, intelligenten Äuglein zu ihm hochsah, sich kaum rührte, ihn gewähren liess unter der Voraussetzung, dass er es nicht anfasste, weder bedachtsam noch mutwillig, dieser Unterschied war hinfällig, zählte nicht, was Glugger irgendwie schmerzen mochte, man kann eben nicht alles, was man will, den Bedürfnissen sind Schranken gesetzt, ja, Glugger kämpfte mit sich, und in seinem schwankenden Körper, soviel war mir klar, schlugen nun zwei gegenläufige Pulse, ein zärtlicher und ein gewalttätiger, und in der Mitte der Brust, wo die beiden Pulse zusammentrafen, sich pumpend, flutend ineinander mischten, entstand nun ein unentwirrbarer Knäuel. Glugger beging eine schwere Sünde. Er zerquetschte das Insekt. Ich mache darauf aufmerksam, dass ich diesen Punkt, der mit ziemlich grosser Sicherheit einiges Missfallen hervorrufen wird, stillschweigend übergehen könnte, aber ich rede dennoch davon. Es scheint mir wichtig, davon zu reden, denn Glugger beging eine schwere Sünde. Kurz darauf setzte Glugger seinen Spaziergang fort, die Hände breit, die Nase gebläht, die Zigarre im Mund, gemütlich paffend; was er getan hatte, war eine Erlösung, und ich sah nun, während ich meine Zigarre gemächlich ausrauchte, wie Kollege Glugger, den Mond um Kopfeslänge überragend, vor sich hinstapfte, am Wiesenrand, irgendwo dort draussen, ein rotes, schwankendes Lichtlein im Mund, im Mond, und das war das Letzte, was ich von Glugger sah. Niemand sah ihn jemals wieder.

 

Kurz vor seinem Verschwinden waren wir ins Kreuz gegangen und hatten uns betrunken. Wie hätte ich ahnen können, dass es ein Abschied war! Jetzt kommt mir diese Zeit schon sehr unwirklich vor. Ist es nicht seltsam, wie fern einem jemand steht, der nicht mehr ansprechbar ist? Was mich schon vor Jahren beunruhigt hat, und es waren vielleicht die ersten Anzeichen für das, was mich nun beschäftigt, waren die vertrauten Beziehungen Gluggers zu einem Waldstück, das ich nie so genau lokalisieren konnte. Eines Tages ging ich im Wald ein bisschen dauerlaufen. Auf einmal stürzte Glugger auf mich zu. Er war ganz plötzlich aufgetaucht, wir standen uns Auge in Auge gegenüber, eine schwankende, ratlose Sekunde lang, dann stürzte er weiter, stürzte an mir vorüber, grusslos, mit einem tief in die Stirn gezogenen Hut. Später gab er vor, er könne sich nicht mehr daran erinnern. Er behauptete sogar, ich hätte ihn verwechselt. Aber ich bin mir absolut sicher, dass ich ihn nicht verwechselt habe, und ich frage mich nur, wie sich sein Verhalten verstehen lässt. Ein andermal, es war ein Sonntag mit klarer Sicht, buntes Föhnwetter, sah ich ihn nicht weit von der Stelle entfernt, wo ich seinem angeblichen Doppelgänger begegnet war. Er war aber nicht alleine diesmal, eine Frau war bei ihm, eine, die ich nicht kannte. Sie war offensichtlich nicht aus der Gegend, eine Fremde, adrett gekleidet. Sie sprachen miteinander, zeigten Gesichter, die Verwunderung oder Sympathie oder Scherz ausdrückten, und gingen dazu mit einem gemächlichen Nicken, einem gelassenen Schwingen der Hände, einem Schlendern, bei dem man zuweilen stehenbleibt und „ja, ja, so ist es“ sagt, am Waldrand entlang, der knorrig in den schönen, blauen Himmel aufragte. Nach etwa hundert Schritten kehrten sie um, setzten den Spaziergang in die andere Richtung fort, mit den gleichen Gesten, den gleichen Bewegungen, den gleichen Gesichtern. Ich sah das alles von einem kleinen Hügel aus, hinter dem ich Deckung gefunden hatte. Leider war es ein Ameisenhaufen. Später reute es mich, dass ich den beiden nicht offen, sozusagen mit dem Anschein der Zufälligkeit entgegengegangen war: im Grunde war es ja wirklich Zufall gewesen, dass ich sie angetroffen hatte. Damals war Glugger schon mit Hanna zusammen, und ich traute ihm eine Beziehung, die er vor Hanna geheimhalten musste, eine Beziehung überdies mit einer Fremden, einer schicken Dame, einfach nicht zu. Wie kann jemand, fragte ich mich, der in Challwälch aufgewachsen ist, so mir nichts, dir nichts mit einer Dame spazierengehen, der man die Fremdheit schon von weitem ansieht? Von mir wenigstens kann niemand behaupten, ich sei jemals mit einer vornehmen Dame spazierengegangen. Ich gehe sowieso nie spazieren, es wäre mir zu langsam. Jedenfalls, einige Tage später traf ich Wiesner, den Landwirt aus Mooseck, er war furchtbar aufgebracht, weil ihm jemand einen Tuchfetzen in die Ölwanne seines Traktors gestopft hatte. Das Tuch hatte die Ölzufuhr verstopft und den Motor abgewürgt. Den Traktor musste Wiesner in die Werkstätte abgeschleppen lassen. Anders als durch den Ölmess-Stutzen könne das Tuch nicht in die Wanne gekommen sein, sagte Wiesner, nachdem er einen halben Maisperger hinuntergestürzt hatte, das habe jemand im Bewusstsein getan, ihm zu schaden. Dieser Schafseckel könne etwas erleben. Da fiel mir ein, dass Wiesners Traktor immer sehr laut gewesen war. Was auch immer die Absicht des Saboteurs gewesen war, er hatte für Ruhe gesorgt. Wie ein Feuer, das von einem springenden Funken entfacht wird, flammte in mir ein Verdacht auf. Ich fragte Wiesner, ob ich den Tuchfetzen, der für den Totalschaden verantwortlich sei, mal sehen dürfe. Wiesner brachte mir ein öldurchtränktes Lümpchen, das Beweisstück, das er vorsorglich aufbewahrte für die Polizei. Ich sah gleich, dass es mit Stickereien verziert war, ein schönes Schnupftuch, ein Damentuch. Das war eigentlich schon alles, was ich hatte sehen wollen, und ich war nicht einmal sonderlich überrascht. Es war Glugger gewesen, der mir, ich weiss nicht warum, erzählt hatte, im Talwaldwald oben, nicht weit vom Mooseck entfernt, halte sich häufig eine Picknick-Gesellschaft auf. Er habe sich dieser Gesellschaft angeschlossen in der vielleicht etwas naiven Absicht, in den Genuss einer unüblichen Zerstreuung zu kommen. In Begleitung dieser Leute sei er zu einem Haus gekommen, wo er sich habe ausruhen dürfen. Er habe kaum Zeit gehabt, sich richtig umzuschauen, sodass man nicht verwundert sein dürfe, wenn sein Bericht etwas unvollständig sei. Er sei wie betäubt gewesen. Er habe alles vergessen gehabt, sein ganzes Leben, er habe sich die Bedenken aus dem Kopf geschlagen und keinerlei Fragen gestellt. Er habe keine Lust mehr gehabt, umzukehren, obwohl dort mit allem zu rechnen gewesen sei. Um ihm herum seien Leute gewesen, die ihn höflich in ihren abgezirkelten Kreis hineingezogen hätten, in einen gepflegten Konversationsverkehr auf Treppen und Wendelgängen, wo es eindringlich nach welken Blumen gerochen habe. Jemand habe Klavier gespielt. Eine Frau in einem Kleid, das ständig von ihren mondsteinfahlen Schultern geglitten sei, habe ihn durch einen scheinbar endlosen, tunnelartigen Durchgang in die inneren, schwelgerisch ausgestatteten Gemächer geführt. Die Frau habe seinen Arm gestreichelt. Sie habe ihm zu verstehen gegeben, dass er nicht traurig sein solle, wenn er dieses Haus nicht gleich wiederfände. Es sei gut versteckt. Nein, mehr als das: es sei unsichtbar, durchsichtiger noch als Luft, es habe keinerlei Anteil an dem, was man mit Händen greifen könne. Glugger sagte, er sei erschrocken gewesen, er sei ja nicht eingeladen gewesen, man habe ihn gleichsam mitgeschleppt und, ohne ihn richtig zu kennen, in einen geschlossenen Kreis eingeführt. Das sei ihm äusserst peinlich gewesen. Zum Glück habe er ein Bett gefunden. Er habe sich hineingelegt, und etwas, das sich ebenfalls hineingelegt habe, habe leicht seinen Körper berührt. Er habe dann Mühe gehabt, den Rückweg zu finden. Über dem Wald, durch den er geirrt sei, habe der Mond gestanden, fleckig, wie von Rauch geschwärzt. Glugger erzählte davon in dunklen Andeutungen, und vieles, was er sagte, klang so unwahrscheinlich, dass er selber darüber lachen musste. Was man gegebenenfalls hätte überprüfen können, behielt er für sich. Ansonsten gab sich unser Freund, den ja alle mochten, gesprächig, mitteilsam, offen, freundlich: niemand schöpfte Argwohn, niemand hatte das Bedürfnis, hinter seine Stirn zu schauen. Er hatte so eine Art, die Leute um den Finger zu wickeln. Kaum war man mit ihm zusammen, begann die Unterhaltung zu fliessen, sie wurde flüssig, Gläser standen auf dem Tisch, Weinflaschen entkorkten sich wie von selbst. Glugger schien mit einem unsichtbaren Handlanger, einem Geist-Butler, im Bunde zu sein. Von seinen Spaziergängen erzählte er mit einer Ausführlichkeit, als handle es sich um Weltreisen. Über seine Bekanntschaft mit Damen, Damen ist das richtige Wort, sprach er sich nie so deutlich aus, wie ich mir das gewünscht hätte. Hingegen sagte er, dass ihm ein Ort bekannt sei, wo man den ganzen Tag schlafe, ja schlafen müsse. Schlafen sei dort Pflicht. Je mehr Leute um ihn herumsassen, desto eher liess er sich dazu herbei, über seine Erlebnisse zu berichten. Und wenn er dann mit vagen Gesten nach Süden oder Osten oder Westen zeigte, in die Richtung, in die man gehen müsse, um dieses von Schläfern bevölkerte Gasthaus zu finden, da lachte jeweils die ganze Tischrunde, klopfte sich auf die Schenkel. Und er selbst lachte mit, er hatte es ernst gemeint, hatte sich dann aber unversehens auf die Seite derjenigen geschlagen, die das lustig fanden, was er sagte. Dass er nie über einen bestimmten Punkt hinausging und seine Zuhörer über das Wichtigste im Dunkeln liess, fiel mir erst auf, als Glugger schon nicht mehr so gesprächig war. Er verschloss sich, kapselte sich ab. Am Tisch, vor seinen Weinflaschen, zog er in regelmässigen Abständen eine Uhr aus der Tasche und betrachtete sie mit einem nervösen Zucken der Wimpern und des Mundes. Er fing an, mit kleinen Hunden zu schimpfen. Er beschenkte Kinder mit Süssigkeiten und gab seine Kleider in die Reinigung, was man normalerweise erst tut, wenn man den sicheren Tod vor Augen hat. Die drei Wochen vor seinem Verschwinden spürte ich, dass Glugger den Atem anhielt. Er war apathisch, aber auch nervös, er schien auf etwas zu warten, ein Signal, eine Botschaft. Er wusste wahrscheinlich schon, was ihm bevorstand. Immer öfter spazierte er zum Mooseck hinauf. Er ging steif wie ein Studieninspektor, um Jahre gealtert, wie mir schien. Dann wieder gab es Momente, da er ausgelassen war, übermütig, und da wurde er mir richtig unheimlich. Er sang bei offenem Fenster, kreuzfalsch, aber aus voller Brust. Ich dachte an Wiesners Schnupftuch, die Dame im Wald, die seltsamen Erlebnisse, die Glugger im Mooseck oben gehabt hatte. Die letzten vier Wochen ging mir einiges durch den Kopf. Jetzt denke ich vor allem an die Zeit zurück, da Glugger, als mein Untermieter, still im Unterstübchen lag, mit nichts beschäftigt, apathisch. Nach seinem Verschwinden war alles nur noch eine Frage der logischen Kombination. Was war geschehen? Warum war es geschehen? Und vor allem: wo? Nachträglich frage ich mich natürlich, was Glugger im Talwaldwald, so nannte er sein Waldstück, zu suchen gehabt hat. Doch nicht etwa Pilze! Es war dieses Gasthaus, das, sonderbar genug, eine Schlafkur anbietet, aber nirgends registriert ist, auf keiner Landkarte, keiner Flurkarte, keiner Strassenkarte und ebensowenig auf dem Katasteramt.

 

 

2003

 

Der Text entstand in einer Projektwoche des Vorkurses in Basel.